Nachdenken über Uri Avnery

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Foto Michael F. Mehnert, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5430864
Foto Michael F. Mehnert, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5430864
Lesezeit: 5 Minuten

Uri Avnery brachte Israel Ehre. Nur eine stabile Demokratie kann solch einen scharfen Kritiker in Zeiten des Kriegs tolerieren – und Avnery war über 70 Kriegsjahre hinweg ein sehr scharfer Kritiker. Diese Toleranz wurde letzte Woche bestärkt.

 

von Yaacov Lozowick 

Die Nachrufe der politischen Linken waren lobend, gar verehrend. Es waren jedoch die Nachrufe der Rechten, die wirklich vielsagend waren: sie waren zurückhaltend, aber hauptsächlich respektvoll. „Wir waren mit keiner seiner Aussagen einverstanden“, hiess es, „aber er war ein ehrenhafter und ernster Mann und, auf seine Art, einer von uns“. Selbst im Tode brachte einer seiner ältesten Kritiker das Land dazu, seine Toleranz zu beweisen.

Beim Lesen der Nachrufe, selbst der überschwänglichen, wurde klar, dass seine Landsmänner am tiefsten durch den Teil seines Lebens beeindruckt waren, der den meisten seiner ausländischen Anhänger gar nicht bekannt ist. In den 1950er Jahren war die Demokratie in Israel enger gefasst als heute. Es gab freie Wahlen und eine prinzipiell freie Presse und Meinungsfreiheit, doch die regierende Mittelinkspartei Mapai dominierte die Gesellschaft, Zeitungsredakteure koordinierten ihre Schlagzeilen mit den Regierenden, Stellen wurden über politische Klientelwirtschaft vergeben, der Schin Bet stand noch nicht über der Verfolgung politischer Ziele, und den Massen an neuen Einwanderern wurde gesagt, wen sie wählen sollten. Diejenigen, die heute behaupten, dass die Demokratie in Israel am untergehen ist, müssen ihr Wissen über die Geschichte zu Beginn des Staates auffrischen. Avnery trug ebenso wie viele andere dazu bei, gegen das peinlich autoritäre „Old-Boys“-Establishment vorzugehen.

Das tat er mithilfe seiner Zeitschrift HaOlam HaZeh („Diese Welt“). Sie war einzigartig unter den Printmedien Israels. Statt bieder war sie konfrontativ. Statt höflich war sie reisserisch. Sie war unerbittlich negativ. Sie enthüllte Korruption, Vetternwirtschaft und Heuchelei. Sie befürwortete eine progressive Agenda.  Sie erforschte dunkle Ecken, wo immer es sie gab.  David Ben Gurion, die dominierende Persönlichkeit des Landes in jenen Tagen, hasste sie.

War sie erfolgreich? Viele der Medien ähneln ihr in der Zwischenzeit: also ja, anscheinend war sie es oder zumindest war sie der Vorreiter des sich wandelnden Zeitgeistes. Gerade in diesem Monat kam es zu einem (weiteren) öffentlichen Disput zwischen der Justizministerin Ayelet Shaked und der Präsidentin des Obersten Gerichts Esther Chayut. Chayut fasste ihre Entschlossenheit, sich nicht einschüchtern zu lassen, mit dem Grundsatz und Leitspruch von Avnery zusammen: ללא מורא, ללא מושא פנים – Unerschrocken und ohne Voreingenommenheit. Man kann sich nur schwerlich ein grösseres Lob vorstellen.

Als die Mapai Avnery durch Gesetzte zum Schweigen bringen wollte, kandidierte er 1965 für die Knesset. Der ewige Störenfried war eines der eifrigsten Knessetmitglieder und verpasste niemals eine Sitzung. Damals wurde ein Buch über ihn geschrieben, das den Titel trug: „1 gegen 119“. Er wurde zweimal wiedergewählt.

In den 1950er Jahren unterstützte er einen unabhängigen palästinensischen Staat an der Seite Israels, also zu einer Zeit, in der noch nicht einmal die arabische Welt diese Idee unterstützte. Nach dem Sechstagekrieg wurde er ein ausgesprochener und unerlässlicher Befürworter der Idee und blieb dies bis zu seinem Tode. Das zunächst als abwegig angesehene Konzept wurde schliesslich auch von der Mehrheit der Israelis akzeptiert.

Doch es gab in seinem Leben auch dunklere Kapitel. HaOlam HaZeh führte die Medien in Richtung einer entwürdigenden Regenbogenpresse. Kaum etwas, auf das man stolz sein kann. Das Blatt war pornographisch und Avnery war der bekannteste Lieferant von Pornographie, den es je in Israel gegeben hat. Die Progressiven hätten entsetzt sein müssen.

Waren die von ihm publizierten Geschichten wahr? Das ist die grosse Frage.

Erst letzte Woche trafen sich Ayelet Shaked und andere Politiker mit Aktivisten, die Einsicht in die Dokumentation über den Mossad der 1950er Jahren verlangten. Sie wollen beweisen, dass die Mapai Kleinkinder von jemenitischen Einwanderern entführen liess und sie in Amerika verkaufte. Die Quelle dieser falschen Behauptung, welche die israelische Gesellschaft seit 50 Jahren umtreibt? Ein Artikel, den sich Avnery 1967 ausdachte und für dessen Richtigstellung er nie die Zeit fand. Es wäre witzig, wenn da nicht die seit Jahrzehnten leidenden Eltern wären, die in dem Glauben gelassen wurden, dass ihre verlorenen Kinder irgendwo dort draussen auf sie warten. Also nein, offensichtlich entsprach wohl nicht jede Sensationsmeldung, die Avnery veröffentlichte, tatsächlich auch der Wahrheit und nicht jeder, den er verteufelte, hatte dies auch tatsächlich verdient. Dies traf im Laufe seiner gesamten Karriere zu.

Hadash protest againts lebanon war
Avnery bei einer Hadash-Kundgebung gegen den Libanonkrieg 2006. Foto dovblog – https://www.flickr.com/photos/13191702@N00/196144343/, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3046456

Auf die Todfeinde Israels zuzugehen, in der Hoffnung, den Abgrund zu überbrücken und Frieden zu erreichen, war bewundernswert, gleichgültig, wie sehr er dafür zum damaligen Zeitpunkt verurteilt wurde – doch vielleicht war es das auch nicht. Grenzen zu überschreiten – physisch, in einem Kleintransporter inmitten eines Gefechts, um Jassir Arafat im Jahr 1982 zu treffen – war weitaus mehr als nur Ausdruck einer inneren Haltung. Viele gesunde Demokratien verfügen über Gesetze, die ein solches Verhalten als kriminell einstufen würden. Israel hat ihn dafür niemals strafrechtlich belangt, doch das allgemeine Gefühl diesbezüglich wurde ausgerechnet von seiner alten, gebrechlichen Mutter zusammengefasst: „Ich brauche ihn an meiner Seite, und er macht sich auf, um diesen Mörder Arafat zu treffen!“

Seine Ansichten über den Konflikt mit den Palästinensern – von einigen der politischen Linken und allen europäischen Beobachtern als visionäre Ideen gepriesen – erscheinen bei näherer Betrachtung eher schäbig. Er erklärte jahrzehntelang, dass die Zwei-Staaten-Lösung gerecht, erreichbar und alternativlos sei. In seinen Schilderungen drehte sich der Konflikt um Territorium und wäre nach der Aufteilung des Landes beigelegt. Bis dahin, so warnte er, würde es Wiederholungen der Ersten Intifada geben, bei denen Massen an unbewaffneten Palästinensern mit bewaffneten IDF-Streitkräften zusammenstossen würden, bis das demokratische Israel unter der moralischen Belastung der Besetzung zusammenbrechen würde.

Die Realität sah – selbstverständlich – wesentlich düsterer aus. Die Zweite Intifada bestand nicht aus Massendemonstrationen von Palästinensern, die von der IDF beschossen wurden. Es war eine endlose Serie von palästinensischen Selbstmordattentätern, die israelische Zivilisten in ihren Häusern und auf ihren Strassen ermordeten; und es wurde schliesslich mit der grimmigen Entschlossenheit eines fast vollständigen israelischen Konsens niedergeschlagen.

Als Israel schliesslich Avnerys Empfehlungen folgte und die Streitfrage um Territorien in Gaza durch den vollkommenen israelischen Abzug behob, traf keine seiner Vorhersagen je ein; stattdessen entwickelte sich der Konflikt zu einem unauflösbaren Zusammenstoss von absolut unvereinbaren nationalen Narrativen über Identität und allem damit verbundenen Ballast.

Avnery war, trotz seiner weit zurück liegenden Flucht aus Deutschland im Jahr 1933, ein gebildeter, intellektueller Europäer. Er sah nie die Notwendigkeit, genau hinzuhören, was die Palästinenser – oder die Juden – zu sagen hatten. Da er nie zuhörte, hat er auch nie verstanden.

Der Historiker Dr. Yaacov Lozowick ist israelischer Staatsarchivar und war von 1993 bis 2007 Direktor des Archivs in Yad Vashem.