Ein anhaltender Mythos: Die Verbindung zwischen Holocaust und der Gründung Israels

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Ankunft von Juden in Haifa 1930. Foto Government Press Office (Israel), CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22811760
Ankunft von Juden in Haifa 1930. Foto Government Press Office (Israel), CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22811760
Lesezeit: 9 Minuten

Mythen sind, wie es scheint, unausrottbar, insbesondere solche über Juden – selbst, wenn sie nicht nur den historischen Tatsachen, sondern auch der elementarsten Logik zuwiderlaufen. Der angebliche Zusammenhang zwischen dem Holocaust und der Gründung Israels ist ein eklatantes Beispiel dafür.

 

von Evyatar Friesel

Angeblich fassten die Mitglieder der Vereinten Nationen im November 1947 unter dem Eindruck der jüngsten Tragödie des europäischen Judentums den Entschluss, einen eigenen Staat für die Juden in Palästina zu bewilligen. Aber Tatsache ist, dass in der Geschichte der internationalen Beziehungen niemals aus Gründen der Sympathie oder des Mitleids ein Staat von anderen Staaten bewilligt oder gegründet wurde. Politische Massnahmen beruhen, insbesondere auf internationaler Ebene, auf Interessen, nicht auf Emotionen. Der Mythos des Zusammenhangs zwischen Holocaust und jüdischem Staat hat überlebt, weil er einen politischen Zweck erfüllt. Aktuell findet eine grimmige Konfrontation zwischen einem breiten islamischen Lager samt dessen westlichen Unterstützern und dem jüdischen Staat statt. Wenn ein jüdischer Staat auf Betreiben der Vereinten Nationen gegründet wurde, so argumentiert man, und sich später herausstellte, dass diese Entscheidung ein Fehler war, so ist es das Recht und die Pflicht der internationalen Gemeinschaft, ihren Fehler zu „berichtigen.

Die Gründung Israels: Die historischen Fakten                       

Seit 1922 wurde Palästina gemäss den Bedingungen eines vom Völkerbund erteilten Mandats, welches die Gründung einer nationalen Heimstätte des jüdischen Volkes in Palästina explizit unterstützte, von Grossbritannien verwaltet. Für die Briten wurde Palästina bald ein wichtiger Stützpunkt, der ihnen während des Zweiten Weltkriegs gute Dienste leistete. Die strategische Bedeutung des Landes nahm in den Realitäten des Nahen Ostens nach dem Weltkrieg zu. Palästina versank jedoch zunehmend im Chaos – Briten, Juden und Araber lagen miteinander im Streit. Die Briten beschlossen, die Palästina-Frage vor die neu gegründete Organisation der Vereinten Nationen zu bringen, um internationale Zustimmung für bessere politische Rahmenbedingungen ihrer Regierung zu erlangen. Als die Frage vor die UN gebracht wurde, stellte sich aber heraus, dass die Mitglieder des internationalen Gremiums das Thema entsprechend ihrer eigenen Ansichten und Interessen angingen, die nicht den Intentionen Grossbritanniens entsprachen. Im Mai 1947 ergab sich dann eine unerwartete Entwicklung, als die Sowjetunion erklärte, dass sie möglicherweise die Aufteilung Palästinas zwischen Juden und Arabern unterstützen würde. Später befürworteten dann auch die Amerikaner diese Lösung. Die Briten erkannten, dass sie übergangen worden waren und entschieden sich bald, das Land zu verlassen.

Der Vorschlag, Palästina in zwei Staaten aufzuteilen, wurde von einer aus zwölf Mitgliedern bestehenden Kommission – dem UNSCOP (United Nations Special Committee on Palestine) – ausgearbeitet. Das UNSCOP stellte eine Liste von zwölf Grundsätzen auf, die als Leitlinien für seine detaillierteren Empfehlungen dienten. Der letzte dieser Grundsätze besagte: „Bei der Beurteilung der Palästina-Frage wird als unumstösslich erachtet, dass eine Lösung für Palästina nicht auch als eine Lösung für das jüdische Problem im Allgemeinen betrachtet werden kann.“ Mit anderen Worten, es wurde unmissverständlich festgehalten, dass sich die UN ausschliesslich mit der Palästina-Frage beschäftigte – der Zukunft des Landes und den Beziehungen zwischen Juden und Arabern – und nicht mit der umfassenderen Problematik der Juden oder der jüdischen Tragödie zur Zeit des Krieges. Dies spiegelte den allgemeinen Tenor der Beratungen innerhalb der UN wider. Zwar wurde die Vernichtung des europäischen Judentums im Verlauf der Beratungen manchmal erwähnt, das aktuelle Problem, welches nach einer Lösung verlangte, waren jedoch die zunehmenden Spannungen in Palästina. Der unterbreitete Lösungsvorschlag beinhaltete ausserdem eine Teilung – zwei Staaten, ein arabischer und ein jüdischer.

Die spätere Zustimmung zu dem Teilungsplan wurde durch die Unterstützung der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion ermöglicht. Es sei daran erinnert, dass dies die Anfangszeit des Kalten Krieges war, in der westliche und kommunistische Interessen in Griechenland, der Türkei und dem Iran aufeinanderprallten – und doch unterstützten die beiden Supermächte im Hinblick auf Palästina eine Lösung. „Das Wichtigste ist die positive Haltung sowohl Amerikas als auch Russlands und es grenzt nahezu an ein Wunder, dass diese beiden Länder sich einig gewesen sein sollen, was unser Problem anbetrifft“, schrieb Chaim Weizmann im Oktober 1947 an Christiaan Smuts.

Schon damals war klar, dass die Übereinkunft zwischen den beiden Supermächten auf unterschiedlichen, ja sogar auf gegensätzlichen politischen Interessen basierte. Den Russen war daran gelegen, den britischen Einfluss im Nahen Osten einzudämmen. Unabhängigkeit in Palästina, mit oder ohne Teilung, würde die Briten loswerden und die Präsenz des Westens schwächen. Auf diese Weise würden sich der Sowjetunion neue Möglichkeiten in einer Region eröffnen, die zunehmend an Bedeutung gewann und in der die Russen bis dato über kein Standbein verfügten. Was die Amerikaner anbetrifft, so wird der Versuch, die amerikanische Position nachzuvollziehen, durch den Fehlglauben, dass sie von einem idealistischen Wunsch, den Juden helfen zu wollen, beeinflusst wurde, nicht einfacher.  Tatsächlich waren in Washington gegenteilige Ansichten und Interessen am Werk. Die Amerikaner begriffen, dass eine bewaffnete Konfrontation zwischen Juden und Arabern den westlichen Interessen im Land und im Nahen Osten insgesamt abträglich sein würde. Die öffentliche Meinung war eher der jüdischen Seite zugeneigt und auch Präsident Truman unterstützte diese Position. Einflussreiche Teile der amerikanischen Regierung, wie das Aussenministerium und das Verteidigungsministerium, zweifelten jedoch an der Lebensfähigkeit eines jüdischen Staats und lehnten es ab, sich die arabischen Länder und Machthaber der Region zum Feind zu machen. Die Amerikaner hätten eine Fortführung der britischen Präsenz in Palästina vorgezogen und im Laufe des Jahres 1947 versuchten sie (erfolglos, wie sich herausstellte), einen Rückzug Grossbritanniens aus dem Land zu verhindern. Nachdem abzusehen war, dass der politische Status Palästinas neu definiert werden musste, und da die Spannungen zwischen Arabern und Juden die Möglichkeit eines binationalen Staates ausschlossen, schien den politischen Verantwortlichen Amerikas die Teilung eine Lösung zu sein, die zwar bei weitem nicht ideal war, aber einen Konflikt verhindern könnte.

Man bemerke: Als offenbar wurde, dass die Teilungsempfehlung der Vereinten Nationen vom November 1947 den Krieg in Palästina nicht verhinderte, sondern ihn im Gegenteil erst herbeiführte und schon bald auch die benachbarten arabischen Staaten in seinen Sog zog, hatten die Vereinigten Staaten keine Skrupel, ihren Standpunkt zu ändern und sich von der Idee einer Teilung zu verabschieden. Im März 1948 befürworteten die Amerikaner eine „vorübergehende“ Treuhandverwaltung des Landes durch die Vereinten Nationen. Zu diesem Zeitpunkt hatte jedoch der Jischuw, die jüdische Bevölkerung in Palästina, (mit der Unterstützung des Sowjetblocks) bereits seine Weichen auf Unabhängigkeit gestellt und im Mai 1948 wurde der jüdische Staat ausgerufen.

Die Gründung Israels: Die jüdische Perspektive

Es läuft dem elementarsten gesunden Menschenverstand zuwider, zu glauben, dass es die Schoah war, die die Juden zu der Entscheidung, einen eigenen Staat in Palästina zu gründen, veranlasste.  Auch wenn die Metapher hurban utekumah – „Vernichtung und Auferstehung“ – in Israel oft zu hören ist, ist es eine Tatsache, dass tote Juden tot sind und keine Staaten gründen können.  Der jüdische Vorstoss zur Eigenstaatlichkeit hatte schon viel früher begonnen und hatte tiefe historische Wurzeln, vor allem die uralte Verbindung des jüdischen Volks zum Land Israel. Unter den im 19. und 20. Jahrhundert in Europa vorherrschenden ideologischen Bedingungen wurden diese Bande und Sehnsüchte von nationalen Ideen befördert und nahmen politische Formen an. Ausserdem warf der aufkommende moderne Antisemitismus Fragen und Zweifel über die Bedingungen des jüdischen Lebens in der westlichen Gesellschaft auf, welche die zionistische Prognose zu bestätigen schienen. All diese ideologischen und spirituellen Trends, positiver sowie negativer Natur, kamen in einem neuen politischen Instrument zum Ausdruck – der Ende des 19. Jahrhunderts gegründeten zionistischen Bewegung. Im Rahmen des britischen Mandats entstand seit 1920 eine wachsende jüdische Gemeinschaft in Palästina, mit Kolonien, Städten und Institutionen, die von den politischen Zielen des Zionismus inspiriert waren und auf diese hindeuteten. Offensichtlich waren die richtigen internationalen Bedingungen für die Neuentstehung eines jüdischen Staats in Palästina unverzichtbar. Unverzichtbar, jedoch nicht ausreichend: Der wesentliche Antrieb zur jüdischen Staatlichkeit kam von Seiten der Juden gewurzelt in Hoffnungen, die ein elementarer Bestandteil des jüdischen Selbstverständnisses waren.

Ein im Mai 1939 veröffentlichtes britisches Weissbuch für Palästina signalisierte ein Ende der Zusammenarbeit zwischen Grossbritannien und der zionistischen Bewegung. Das Weissbuch sah vor, dass Palästina in zehn Jahren politische Unabhängigkeit erlangen könnte, was gleichbedeutend gewesen wäre mit einem arabischen Staat mit einer jüdischen Minderheit. „Für uns existiert das Weissbuch in keiner Form, unter keiner Bedingung und keinerlei Interpretation“ – erklärte David Ben-Gurion, der zu dieser Zeit eine führende Rolle im Jischuw, der jüdischen Gemeinschaft Palästinas, innehatte, beim 21. Zionistenkongress, im August 1939. „Für uns gibt es nur dieses Vakuum, das im Mandat geschaffen wurde, und es ist an uns, dieses Vakuum aus unserer eigenen Kraft zu füllen … Wir selbst werden handeln müssen, als seien wir der Staat in Palästina; und wir müssen auf diese Art und Weise handeln, bis und damit wir zum Staat in Palästina werden.“ All dies geschah vor dem Holocaust.

Der Zweite Weltkrieg, der bald überall Pläne und Hoffnungen über den Haufen warf und zunichte machte, bewirkte dies tragischerweise auch für die Juden.  Der Zionismus, als Gedanke und als Bewegung, war zum grossen Teil eine Schöpfung des europäischen Judentums, insbesondere des osteuropäischen Judentums. Dieser Teil des jüdischen Volks wurde jedoch nahezu vollständig vernichtet. Das osteuropäische Judentum, das den Grossteil der jüdischen Nationalheimstatt in Palästina geschaffen hatte und am besten geeignet gewesen wäre, diese Aufgabe zum Abschluss zu bringen, wurde im Krieg ausgelöscht. Die jüdische Gemeinschaft in Palästina war die letzte Schöpfung eines Judentums, das in der Katastrophe verschwunden war. Das Kind seiner Hoffnungen und Bemühungen, der jüdische Staat, wurde zur finstersten Stunde des jüdischen Volkes neben den Gräbern seiner Väter und Mütter gehoben.

Die Vernichtung des europäischen Judentums machte die Geburt Israels beinahe unmöglich.

Wenn es einen Berührungspunkt zwischen dem Holocaust und der Gründung Israels gab, dann war er das genaue Gegenteil von dem, was gemeinhin angenommen wird: Die Vernichtung des europäischen Judentums machte die Geburt Israels beinahe unmöglich. Israel stand kleiner und ärmer da, sowohl in physischem als auch in spirituellem Sinne, als wenn es sich noch aus dem riesigen Reservoir des europäischen Judentum hätte bedienen können, und dieses seine Geburt begleitet und über seine Wiege gewacht hätte.

Wie erklärt sich dann, …

… dass der Mythos des Zusammenhangs zwischen Holocaust und jüdischem Staat weiterhin besteht? Allein die Schärfe der Debatte über einen Zusammenhang zwischen dem Holocaust und dem jüdischen Staat weist darauf hin, dass hinter der politischen Dimension eine ideologische lauert: Das eigentliche Ziel ist nicht so sehr die Gründung, sondern die schiere Existenz eines jüdischen Staats. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Judenfeindlichkeit von früher neue Züge angenommen. Heute richtet sie sich gegen die lebenswichtigste Schöpfung des modernen Judentums – den jüdischen Staat. „Israel ist eine Anomalie und sollte friedlich aufgelöst werden – zum Besten von uns allen“, schrieb 2012 ein deutscher Professor –nach eigener Aussage, ein überzeugter Humanist – an die israelische Botschaft in Berlin.  Klassischer Judenhass verbirgt sich auch hinter unscheinbar klingenden Formulierungen wie „Israel sollte friedlich aufgelöst werden“. Solche und ähnliche Metaphern sind desto alarmierender, als sie von hochgebildeten Menschen geäussert werden, die jeden Verdacht, sie könnten mit einer neuen Art des Antisemitismus infiziert sein, entrüstet von sich weisen.

Die abstruse Vorstellung, es gäbe einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Holocaust und der Gründung Israels, ist tatsächlich einer der Ausdrücke des zeitgenössischen Antisemitismus – dieses Mal im Gewand von Anti-Israelismus.

Evyatar Friesel ist Professor (em.) für moderne jüdische Geschichte an der Hebrew University of Jerusalem.

1 Kommentar

  1. Da sind zwei Mythen: Der eine entspricht dem Titel des Berichts, der andere behauptet, dass der UNO-Teilungsplan von 1947 (der am Nein der Araber scheiterte) die Basis für den Staat Israel gewesen sei. Der hier beschriebene politische Prozess bis hin zum Teilungsplan ist daher nicht speziell von Bedeutung. Grundlage des jüdischen Staates blieben die Balfour-Erklärung und das Völkerbundmandat von 1922, geschützt durch Art. 80 der UNO-Charta. Die UNO hat daher nicht das Recht, die damals gewährten Rechte zu beschneiden, was sie
    jedoch dauernd versucht.

    Wenn der Autor über die britische Verwaltung des Mandatsgebiets spricht, als es um die Errichtung der Nationalen jüdischen Heimstätte ging, wäre auch darauf hinzuweisen, dass
    die Briten ihre Pflichten massiv verletzten, obwohl der Aufsicht durch die Mandatskommission des Völkerbundes unterstellt. Diese lehnte (leider ohne Wirkung) z.B. das erwähnte illegale Weissbuch von 1939 ab, das die jüdische Einwanderung 1939-44 auf 15,000 Personen p.a. beschränkte.

    Dass es letztlich um die Schaffung eines jüdischen Staates ging, basiert auf Art. 22 der Satzung des Völkerbundes. Dieser spricht vom Mandat als eine Art Vormundschaft für gewisse Gebiete, bis diese in die Selbständigkeit entlassen werden können. Aus politischen Gründen wurde in der Balfour-Erklärung angesichts des muslimischen Uebergewichts von einer Nationalen Heimstätte für das jüdische Volk gesprochen. Doch war den Verantwortlichen schon damals klar, dass es um einen jüdischen Staat ging. So spricht das Völkerbundmandat von der „Wiedererrichtung“…der jüdischen Heimstätte (die ein Staat gewesen war). General Smuts, Mitglied des War Cabinet, erklärte am 3.November 1919, dass in kommenden Generationen man hier erneut einen grossartigen jüdischen Staat emporkommen sehen werde. Neville
    Chamberlain meinte am 13 Oktober 1918, dass die Existenz dieses neuen jüdischen
    Staats nur zur Würde etc. beitragen werde. Churchill schrieb 1920: Wenn –
    während wir leben – an den Ufern des Jordans ein jüdischen Staat unter dem Schutz
    der britischen Krone errichtet wird, enthaltend drei oder vier Millionen Juden,
    dann wäre das von jedem Standpunkt her vorteilhaft etc.

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