Vom IDF-Kämpfer zum Brückenbauer: Das Projekt “Shagi”

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Foto Facebook / שאג
Foto Facebook / שאג"י - מיזם השבטים
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Im Juni 2015 hielt Reuven Rivlin, der aktuelle israelische Präsident, auf der jährlichen Herzliya Konferenz eine Rede, die als ‚Four Tribes Speech’ bekannt wurde [Link zur vollständigen Rede auf Englisch hier]. In diesem Vortrag adressiert er die demografische Realität, welcher Israel unterliegt: die Bevölkerung existiert mit einer säkular-zionistischen Mehrheit, und jeweils einer religiös-nationalen, ultraorthodoxen und arabischen Minderheit aus vier Parallelgesellschaften.

 

Als Antwort auf diese Einsicht gründete Itai Epstein, mit weiteren Studenten am Interdisciplinary Center Herzliya (IDC) noch im selben Jahr die Gemeinnützige Organisation ‚Shagi (שאגי) – The Tribes Initiative’. Das Projekt beabsichtigt, eben diese verschiedenen Sektoren einander näher zu bringen – durch gemeinsame Aktivitäten und offenen Dialog. „Ignoranz ist unser grösster Feind“, so Itai Epstein im Gespräch mit Audiatur-Online Autorin Michelle Wolff.

Itai, du organisierst seit zwei Jahren kulturübergreifende Begegnungen. Wie kam dir die Idee, Shagi zu gründen?

„Einige Faktoren trafen aufeinander. Nach meinem 5-jährigen Armeedienst als Befehlshaber einer speziellen Kampfeinheit studiere ich nun Politikwissenschaft. In der Uni lernte ich zum ersten Mal eine ultraorthodoxe Person kennen. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich nichts über eine Gruppe weiss, der fast ein Viertel der Bevölkerung meines Landes angehört. Als nächstes hörte ich während der Zunahme an Terrorattacken in 2015 eine arabische Lehrerin aus Jaffa in den Nachrichten sagen, sie würde die Aktionen der Terroristen befürworten. Ich dachte mir, was bringt diese Lehrerin ihren Schülern bei? Wenn diese Kinder wissen würden, wer die Menschen sind, die in den Bussen sitzen, dann würden sie keine Steine mehr werfen. Aber sie haben keine Ahnung.“

Was hast du dann gemacht?

„Zuerst gab ich meiner Frustration mit einem Facebook Post Ausdruck. Das half nichts. Ich schrieb die Leitung eines arabischen Gymnasium in Jaffa an, mit der Idee, einen gegenseitigen Unterricht zwischen arabischen Schülern und jüdischen Studenten zu organisieren. Die Lehrerschaft war begeistert. Eine Kollegin schloss sich mir an, und das Projekt Shagi wurde ins Leben gerufen. Rivlins ‚Four Tribes Speech’ war damals in aller Munde, also konnten wir uns leicht etablieren; schliesslich basiert unsere Idee auf der Essenz seiner Rede – dass vier getrennt lebende Gemeinschaften, mit jeweils eigenen Bildungssystemen, den Charakter unseres Staates mit fundamental unterschiedlichen, teilweise einander völlig widersprechenden Werten sehen.“

Was ist euer Ziel?

„Wir haben einen Rahmen geschaffen, in dem israelische Bürger andere israelische Bürger kennenlernen, mit denen sie sonst nicht in Berührung kommen. Es geht darum, Ignoranz wegzuwerfen. Die Mitglieder der verschiedenen Segmente werden sich über vieles nicht einigen können, aber sie werden verstehen, dass sich hinter dem Label und Stigma des Anderen nur ein Mensch befindet. Wir können beobachten, wie sogar Freundschaften entstehen, obwohl nicht dieselben Ansichten geteilt werden. Und im Endeffekt ist das alles, was zählt. Ob es uns gefällt oder nicht – wir sind hier, um zu bleiben, und die Anderen sind das auch.“

Wie sehen die Aktivitäten konkret aus?

Zwei Programme werden angeboten. Im jüdisch-arabischen Treffen besucht eine Gruppe von Studenten ein Mal pro Woche eine arabische Schulklasse, um von den Schülern und Schülerinnen gesprochenes Arabisch zu lernen. Im Gegenzug geben die Studenten in jenen Schulfächern Nachhilfe, wo Bedarf ist. Im säkular-religiösen Programm tauschen wir uns in wöchentlichen Treffen mit den Ultraorthodoxen über wesentliche Themen aus,zum Beispiel, wie Israel als ‚jüdischer und demokratischer Staat’ zu deuten ist. Unser Stichjahr lief so erfolgreich, dass wir die Initiative in diesem Schuljahr auf die Teilnahme von Studenten der Haifa University, des Technion in Haifa, und der Ben Gurion University in Beer Sheva erweitert haben. Dort, im ‚Tor zur Wüste’, besuchen wir ausserdem ein Beduinen-Gymnasium, was für alle Beteiligten sehr bereichernd ist. Das zweite Jahr von Shagi naht sich dem Ende zu, und damit der Einsatz von über 300 Freiwilligen in ganz Israel.“

Soziales Unternehmertum à la carte. Woraus bezieht ihr euren Erfolg?

„Drei Eigenschaften zeichnen uns aus – das Projekt ist langfristig, findet in einer vertrauten und authentischen Umgebung statt, und basiert auf gegenseitiger Bereicherung. Eine auf Shagi basierende Forschungsarbeit zeigte auf, dass sich durch unsere Aktivitäten die Wahrnehmung des Anderen tatsächlich zu Gunsten von Toleranz und Verständnis änderte. Ausserdem hat unser Programm einen Einfluss auf die Umwelt der Teilnehmer. In Unterrichtsdiskussionen über die ‚aus der Reihe tanzenden’ religiösen Juden konnte sich beispielsweise einer unserer Studenten durch sein Hintergrundwissen für sie einsetzen, und ihre Perspektive schildern. “

Was erzählen die Teilnehmer?

„Das Feedback hat mich sehr gefreut. Eine Studentin war aus Wut gegen die strengen Regelwerke aus einer ultraorthodoxen Gemeinde ausgetreten, und nahm aufgrund unserer Treffen und ihrem erlernten Verständnis nach Jahren wieder Kontakt zu ihren Eltern auf. Die Ultraorthodoxen teilten uns mit, dass sie die weltliche Gesellschaft durch die Korrespondenz als Teil der israelischen Bevölkerung akzeptieren. Im jüdisch-arabischen Trakt arbeiten wir mit den Klassen mit niedrigen Abschlussquoten,den ‚Problemkindern’, und es ist toll, dass wir ihnen helfen können, auf eine hoffnungsvollere Zukunft hinzusteuern. Und es hat die Kinder auch gefreut, uns etwas über ihre Kultur beizubringen. Einige der Studenten trafen sich sogar weiterhin in den Sommerferien mit ihren Schülern. Es spricht für sich selbst, wenn Leute so lange so viel von ihrer Freizeit investieren.“

Gab es auch Zusammenstösse?

„Letztes Jahr gab es viele gewalttätige Demonstrationen gegen den Gesetzesvorschlag, Muezzin-Lautsprecher zu verbieten. Als wir bei unserem wöchentlichen Treffen ankamen, fanden wir heraus, dass unsere Schule auch an den Protesten teilnahm, und ihren Schülern erlaubte, Muezzin-Rufe durch die Lautsprecher zu rufen. Unsere Studenten haben professionell reagiert, obwohl es sich ziemlich unwohl, für manche fast feindlich angefühlt hat. Bei den religiös-säkularen Treffen hat ein Ultra-Orthodoxer einmal etwas ziemlich anstössiges gegen die Homo-Ehe ausgesprochen, was einige unserer Partei verletzt hat. Eine Studentin beschimpfte ihn als ‚dumm, unsensibel und ignorant’. Der Religiöse rief sie daraufhin am Abend an,um sich zu entschuldigen, und die Geschichte ihres homosexuellen Bruders zu hören. Beide Situationen waren sehr unangenehm, weil sie tiefgründige Spaltungen hochkommen lassen. Es war eine Herausforderung für uns, damit umzugehen, doch im Endeffekt haben wir bewiesen,dass geteilte Meinungen und Medienstürme uns nicht zu Feinden machen.“

Wohin geht’s von hier?

„Shai Piron, ein ehemaliger Erziehungsminister, hat die Schirmherrschaft von Shagi übernommen. Dadurch können wir mit noch mehr Unterstützung wachsen. Im kommenden Jahr dehnen wir uns auf vier weitere Campusse aus,unter Anderen die Tel Aviv University.“

Und jetzt die Millionen-Dollar-Frage: Wo ordnet ihr euch politisch ein?

„Unser Projekt ist nicht politisch. Das heisst, everything is political, aber wir identifizieren uns mit keinem politischen Zweck. Die meisten Nichtregierungsorganisationen, die sich mit diesem Thema befassen, sind pro-arabisch gestimmt. Wir wollen den Konflikt aber ausserhalb der Klassenzimmer lassen – er ist irrelevant, wenn es darum geht, die Person gegenüber von einem kennenzulernen. Du warst ja dabei, beim letzten Treffen. Es war der Tag der Nakba, der Vorabend von Ramadan, und knapp 90 Kilometer weiter fanden die gewalttätigsten Ausschreitungen seit 2014 in Gaza statt. Und wir haben, zusammen mit unseren arabischen Mitbürgern, einen Garten in deren Pausenhof gepflanzt, und ihnen Snacks gebracht, die sie vor dem Fastenmonat nochmal vernaschen konnten.“

Vielen Dank für das Interview.

Weitere Informationen zu der Gemeinnützigen Organisation auf Facebook sowie auf der IDC-WebsiteMichelle Wolf entstammt einer Wiener Familie, ist in München aufgewachsen und lebt nun in Israel. Sie studiert Government an der IDC in Herzliya mit Spezialisierung auf Counter-Terrorism und Conflict Resolution.