Israels Nationalstaatsgesetz: Was soll die Aufregung?

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Blick auf eine Plenumssitzung in der Aula der Knesset am 2. Juli 2018. Foto Flash90
Blick auf eine Plenumssitzung in der Aula der Knesset am 2. Juli 2018. Foto Flash90
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Das israelische Grundgesetz zum jüdischen Nationalstaat, auch bezeichnet als Nationalstaatsgesetz, wurde am 19. Juli 2018 nach achtstündiger Debatte mit 62 Stimmen bei 55 Gegenstimmen und zwei Enthaltungen in der Knesset verabschiedet. Als eines der israelischen Grundgesetze hat das Gesetz einen verfassungsähnlichen Rang. International wurde das Gesetz stark kritisiert. Die EU bezeichnete das Gesetz gar als „Diskriminierung“.

 

Die Welt überschreibt „Diskriminierung“ und lässt ihren Lesern überhaupt keine Möglichkeit, sich eine eigene Meinung zu bilden, wenn sie darüber berichtet, dass Israel ein „umstrittenes Gesetz“ zu „jüdischem Nationalstaat“ (sic, in Anführungszeichen!) verabschiedet. Noch bevor berichtet wird, was das Gesetz regelt, wird es als „diskriminierend“ (noch einmal!) und „rassistisch“ bezeichnet. Ein Leser, der seine Informationen nur aus der Welt bezieht, weiss noch immer nicht, um was es eigentlich geht. Aber er weiss: Israel ist „diskriminierend“ und „rassistisch“.

„Umstritten“ ist ein weiteres Lieblingswort des Welt-Artikels – immerhin das dritte Wort in der Überschrift und das dritte Wort im ersten Satz. Im deutschen Denken ist etwas „Umstrittenes“ vermutlich höchst bedenklich, wenn nicht verwerflich. Nach deutscher Vorstellung scheint nur in Ordnung, was im Gleichschritt marschiert. In Israel ist das ganz anders. Dort wird um alles und jedes zuerst einmal gestritten – auch wenn das manchmal völlig sinnlos scheint. „Umstritten“ ist so ziemlich jedes Gesetz, das das israelische Parlament bislang verabschiedet hat. Ohne Streit ist die Knesset undenkbar.

Dass Araber das jüdische Volk als „rassistisch“ bezeichnen und seinem Staat „Apartheid“ unterstellen ist ebenso wenig neu wie fern jeglicher Wahrheit. Wenn Aiman Oudeh vom „Tod unserer Demokratie“ spricht, straft er sich selbst Lügen – denn wenn die Demokratie tatsächlich tot wäre, wäre er weder Knessetabgeordneter, noch könnte er derartiges von sich geben. Israels Demokratie lebt und blüht – wobei ich als Deutscher durchaus zugebe, dass weniger Streit und mehr Ordnung manchmal angenehmer wäre. Israelis machen sich das Leben durch ihre Demokratie nicht selten unnötig schwer.

Eigentlich sollte Welt-Redakteuren und Welt-Lesern klar sein, was sie mit diesem Artikel verbreiten beziehungsweise sich verordnen lassen, wenn darin ausgerechnet die türkische Regierung den Israelis eine „überholte und diskriminierende Mentalität“ unterstellt. Tatsache ist: Im Blick darauf, wie das Nato-Mitglied Türkei mit seiner kurdischen Minderheit und deren nationalen Ambitionen umgeht, braucht der jüdische Staat Israel keinen Vergleich zu scheuen.

Offen gesagt ist mir nicht wirklich klar, was die Aufregung um das neue Grundgesetz soll. Israel ist bereits durch die Unabhängigkeitserklärung vom 15. Mai 1948 als Nationalstaat für jüdische Menschen definiert. Seither ist es auch ein Einwanderungsland für Juden. Das ist nicht neu – und im Übrigen der Bundesrepublik Deutschland in ihrem Verhältnis zur deutschen Diaspora nicht unähnlich, bis dahin, dass deutsch-stämmige Menschen bevorzugt einwandern dürfen. Jerusalem in seiner Gesamtheit ist bereits seit 1980 per Grundgesetz als unteilbare Hauptstadt des Staates Israel erklärt. Das ist auch nicht neu, wenngleich natürlich äusserst „umstritten“.

Wenn Fahne, Nationalhymne, der hebräische Kalender und die jüdischen Feiertage in Israel bislang nicht per „Grundgesetz“ definiert waren, zeigt das nur, dass der jüdische Staat bislang weit liberaler war, als die überwiegende Mehrzahl der Staaten, die auf diesem Planeten existieren. Interessant ist doch, dass Israel nicht einmal in diesem Gesetz „gesetzliche Feiertage“ festlegt, wie das in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist. Es gibt in Israel beispielsweise kein allgemeines, gesetzlich verankertes Fahrverbot für LKWs an Ruhetagen, wie das in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist.

Dass die Funktion des Hebräischen als offizielle Amtssprache betont wird, trifft vor allem (akademisch hoch ausgebildete) Neueinwanderer aus den USA, Frankreich und Russland, die ein Leben lang als Ärzte oder Juristen in ihrer jeweiligen Sprache gearbeitet haben – und sich jetzt plötzlich „gezwungen“ sehen, ihren Beruf nur in der „Nationalsprache“ ausüben zu können. Die israelischen Araber beherrschen alle auch Hebräisch – und der Status der arabischen Sprache im Staat Israel wird durch das neue Nationalstaatsgesetz ausdrücklich nicht angetastet. Wer sich über diesen Aspekt des israelischen Nationalstaatsgesetzes echauffiert, sollte sich einmal fragen, wie viele andere Sprachen und Kulturen durch Amtssprachen wie Deutsch, Englisch, Spanisch, Arabisch, Russisch oder Portugiesisch in vielen Staaten der Welt „unterdrückt“ werden.

Ganz gewiss schwelt im Hintergrund dieser ganzen Angelegenheit auch die grundsätzliche Frage, welche Berechtigung ein Nationalstaat heute noch hat. Die Idee eines Nationalstaates beruht auf einer europäischen Idee des 19. und 20. Jahrhunderts, die vielen Menschen aus anderen Teilen der Welt fremd ist, durch den Kolonialismus aber weiten Teilen unseres Planeten aufgezwungen wurde, obwohl sie uns im zurückliegenden Jahrhundert unendlich viel Leid beschert hat. Wenn ich so etwas in Vorträgen sage, sehen mich Europäer ganz verständnislos an – Afrikaner, Menschen aus dem Nahen Osten oder Asiaten, strahlen mich mit grossen Augen an und sagen mir nicht selten: „Da hat uns endlich einer verstanden!“

Für den Staat Israel ist diese Grundsatzüberlegung eher unangenehm, weil er sich – ganz im Geiste des frühen 20. Jahrhunderts – gerne als Nationalstaat für das jüdische Volk verstanden wissen will. In Europa bewegt man sich im Blick auf sich selbst wieder in Richtung Vielvölkerstaat – im Blick auf die Lösung „des Nahostkonflikts“ hält man an der alten, eigentlich überholten Nationalstaatsideologie allerdings fest. Da ist eine „Zweistaatenlösung“ aus Sicht der Europäer „alternativlos“. Das wiederum macht die Aufregung von Europäern über Israels neues Nationalstaatsgesetz absurd.

Über Johannes Gerloff

Johannes Gerloff ist ein deutscher Journalist, Theologe und Autor mit Schwerpunkt Israel und Naher Osten. Er ist im Nordschwarzwald aufgewachsen und hat in Tübingen, Vancouver/Kanada und Prag/Tschechien Theologie studiert. Seit 1994 lebt er mit seiner Familie in Jerusalem.

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