Israel – Wie die Startup-Nation das öffentliche Gebet neu erfindet

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Foto קולולם - Koolulam / Facebook
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Lesezeit: 4 Minuten

Man könnte beginnen, diese Geschichte zu erzählen, indem man zurück geht in die Zeit der dunklen Jahre der Zweiten Intifada, als Israelis versuchten, ihre Häuser so selten wie möglich zu verlassen, weil der Besuch von Supermärkten, das Busfahren oder einfach nur das Gehen in den Strassen lebensbedrohliche Aktivitäten waren.

 

von Yaacov Lozowick

Jerusalem war die vermutlich am stärksten betroffene Stadt von allen, und die Einwohner aus den übrigen Teilen des Landes kamen nicht mehr in die Stadt. Schliesslich, als die Sicherheitskräfte einen Weg gefunden hatten, um die Selbstmordattentäter zu stoppen, kehrte allmählich wieder der normale Alltag ein.

In Jerusalem entstand ein neues Phänomen, als Tausende, Zehntausende und schliesslich Hundertausende ganz gewöhnliche israelische Bürger an den heissen Sommerabenden im August und September nach Jerusalem kamen, um dort an Führungen in alten Stadtvierteln und Synagogen teilzunehmen und den Abend schliesslich spät in der Nacht auf einem grossen öffentlichen Platz vor der Westmauer, der Kotel, zu beschliessen. Der Höhepunkt dieser Pilgerreisen sind die letzten Nächte vor Jom Kippur, dem höchsten Feiertag im jüdischen Kalender. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Menschen, die sich an diesen Abenden auf dem Platz zusammendrängen, auf locker über eine Viertelmillion angestiegen. An allen Tagen zusammen sind es mehr als 1,5 Millionen Menschen. An der Kotel angekommen, singen sie die Slichot – aus dem Mittelalter stammende Texte, in denen Gott um Vergebung gebeten wird. Alle zusammen. Und so hört sich das an:

Anfang 2017 sah der weltliche israelische Produzent Or Teicher dieses Video und fragte sich, ob er ganz normale Israelis, die einander nicht kennen, an einem Ort versammeln und dazu bewegen könnte, mit einer gewissen Leidenschaft zusammen zu singen. Gedacht – getan. Er versammelte einige talentierte Leute um sich, welche ihrerseits 400 Menschen in Tel Aviv zusammenbrachten, und am 15. April 2017 sangen sie alle gemeinsam. Hier können Sie sie sehen:

Am 7. September 2017 trommelten sie im Vorfeld der hohen jüdischen Feiertage 600 Menschen in Jerusalem zusammen. Ihre Technik wurde besser, und das Ganze war ein Riesenerfolg:

Dann, am 17. Dezember 2017 versammelte die Gruppe 600 grösstenteils weltliche Israelis in Tel Aviv, und gemeinsam sangen sie in englischer Sprache über den Glauben. Ein weiterer durchschlagender Erfolg.

Das Ganze erfordert eine Menge Logistik und organisatorisches Können auf vielerlei Ebenen sowie hochgradige musikalische Kreativität. Die Kameras machen aus der anonymen Menschenmasse ein Meer erkennbarer und faszinierender Menschen mit individuellen Gesichtern. Und dann ist da selbstverständlich noch dieser extrem charismatische junge Mann mit den Dreadlocks, der in nur einer einzigen Stunde aus der bunt zusammengewürfelten Menge einen funktionierenden und vielschichtigen Chor macht – obwohl die meisten von ihnen zuvor noch keine einzige Note mit den anderen zusammen gesungen haben. Also legten sie noch eine Schippe drauf. Am 1. Januar 2018 brachten sie 2.000 Menschen in einem riesigen Zelt in Tel Aviv zusammen und bewiesen, dass das Modell auch mit grösseren Menschenmengen funktioniert.

Am 14. Februar 2018 waren es dann bereits 3.000 Menschen, die sie in Haifa zusammentrommelten und mit denen sie in drei Sprachen – Arabisch, Englisch und Hebräisch – Matisyahus ‚One Day‘ sangen. Wenn sie noch nicht darauf geachtet haben sollten, konzentrieren Sie sich einmal auf die Gesichter der Menschen, ihre Vielfalt und natürlich ihre Intensität:

Nur kurze Zeit später, am Weltfrauentag, organisierte die Gruppe ein Event ausschliesslich von und für Frauen, zu dem 2.000 Frauen erschienen. Und – obwohl selbst keine Frau – war auch der scheinbar endlos mit Energie geladene Ben Yeffet dabei. Sie alle hatten eine fantastische Zeit zusammen.

Vielleicht wundern Sie sich, aber diese Leute haben keine Internetseite und keine schicke Marketingkampagne. Sie werden einzig getrieben von der Begeisterung, die sie selbst verursachen, während immer weitere Teile der israelischen Gesellschaft auf dieses neue kulturelle Phänomen aufmerksam werden, das unter uns heranwächst. Ihre kommenden Events kündigen sie auf einer Facebook-Seite an.

Am 2. April 2018 versuchten sie etwas völlig Neues, indem sich insgesamt 7.500 Menschen gleichzeitig in fünf unterschiedlichen Städten versammelten um gemeinsam zu singen: In Jerusalem, Ashkelon, Dimona, Rishon Lezion und Kiryat Motzkin. Das Geniale daran war, dass man Kiryat Motzkin hinzugenommen hatte, eine etwas heruntergekommene Stadt, von der niemand ausser deren Bewohnern je etwas gehört hatte. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Einheimischen genauso gut singen können, wie alle anderen auch.

Dann wurden sie sehr ernsthaft. Zu Yom Hashoah im April versammelten sie Dutzende Holocaust-Überlebende sowie drei Generationen von deren Nachkommen, und gemeinsam sangen sie Ofra Hazas Lied ‚I‘m Alive‘. Wenn Sie das folgende Video ansehen können, ohne zu Tränen gerührt zu sein, sind Sie ein hoffnungsloser Fall.

Am 16. April 2018 schliesslich fand die bislang grösste Veranstaltung der Gruppe statt: 12.000 Menschen, darunter auch der israelische Präsident Reuven Rivlin, sangen gemeinsam Naomi Shemers unsterblichen Lobgesang auf die Schönheit und die Wunder dieses unvollkommenen Landes, in dem wir leben. Wenn dies keine neue Form des Massengebets ist, dann weiss ich nicht, was es sonst sein soll.

Der Historiker Dr. Yaacov Lozowick ist israelischer Staatsarchivar und war von 1993 bis 2007 Direktor des Archivs in Yad Vashem.

2 Kommentare

  1. When I traveled to Israel as a young man, singing together on the bus and even on the fly was something that most impressed me about Israel. Later, unfortunately, it was lost, so I hope it will be a nice use again

  2. ganz toller Beitrag – Danke dafür ! ….. sehr beeindruckend mit Gänsehautgarantie !
    wenn nur alles so „einfach“ wäre wie gemeinsam zu singen und so die Hoffnungen dieser Menschen in die Welt hinauszutragen …..

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