Carl Lutz rettete Zehntausenden Juden das Leben – Würdigung für Schweizer Diplomat

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Carl Lutz links mit Brille. Foto ARCHIV FÜR ZEITGESCHICHTE ETH ZÜRICH / AGNES HIRSCHI / FORTEPAN©2010-2014. Creative Commons CC-BY-SA-3.0
Carl Lutz links mit Brille. Foto ARCHIV FÜR ZEITGESCHICHTE ETH ZÜRICH / AGNES HIRSCHI / FORTEPAN©2010-2014. Creative Commons CC-BY-SA-3.0
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Der Schweizer Vorsitz der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) endete 2017 mit der Würdigung des grossen Schweizers Carl Lutz. Die Ehrerweisung für den Diplomaten kommt spät.

 

von Isabelle Daniel

Bis heute hasst sie die Dunkelheit. Agnes Hirschi hat das Ende des Zweiten Weltkrieges in einem Budapester Keller überlebt, über Wochen sahen die mehr als 30 Menschen, die dort ausharrten, das Tageslicht nicht. Heute sitzt Hirschi in ihrer hellen Erdgeschosswohnung in Münchenbuchsee, der Blick von der Terrassentür geht direkt ins Grüne, die Dezembersonne bringt die weissen Wände im Wohnzimmer zum Leuchten.

«Ich brauche das Licht», sagt Hirschi und erzählt, wie im Januar 1945 in dem Luftschutzkeller unter dem ausgebrannten Gebäude der britischen Gesandtschaft in der ungarischen Hauptstadt allmählich die Vorräte an Brennstoff für die Öllampen ausgingen – und an Lebensmitteln. «Unsere Situation war sehr prekär», sagt Hirschi.

Dabei grenzt es an ein Wunder, dass die damals Siebenjährige sich überhaupt in dem Keller befand, ja, dass sie zu Beginn des Jahres 1945 noch am Leben war. Sie verdankt es Carl Lutz, jenem Schweizer Diplomaten, der als schweizerischer Vizekonsul in Budapest Zehntausenden Juden Schutzpässe ausstellte, um sie vor der Deportation und dem sicheren Tod zu schützen. Nach dem Krieg und der Scheidung von seiner Frau Gertrud heiratete Lutz seine jüdische Hausangestellte Magdalena Grausz und adoptierte ihre kleine Tochter Agnes, die damals noch Agi Grausz hiess.

Im Schatten von Raoul Wallenberg – zu Unrecht

Carl Lutz, 1895 in Walzenhausen (AR) geboren, steht in der Erinnerung an den Holocaust bis heute im Schatten des schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg, der mit seinen Aktivitäten zur Rettung Tausender Juden Weltberühmtheit erlangt hat. Dabei handelt es sich bei Lutz’ Wirken in Budapest um die grösste bekannte zivile Rettungsaktion für Juden während des Holocaust.

«Die Tragweite seines Handelns habe ich erst spät in der vollen Dimension erkannt», sagt Lutz’ Adoptivtochter Hirschi. Während der Monate bei den Eheleuten Lutz sei sie vom Geschehen in der Aussenwelt «sehr abgeschirmt» worden, sagt Hirschi, der ein schelmisches Lächeln übers Gesicht huscht, als sie hinzufügt: «Die Erwachsenen hatten ja viel Zeit für mich».

Schutzbrief. Foto zVg
Schutzbrief. Foto zVg

In den letzten Wochen des Krieges, in denen Budapest verheerenden Luftangriffen ausgesetzt war, konnte niemand mehr den dunklen Keller verlassen, der von Tag zu Tag für mehr Menschen aus der Nachbarschaft zum Zufluchtsort wurde. «Gertrud Lutz hatte für den Ernstfall zwar sehr gut vorgesorgt», erinnert sich Hirschi. Doch das Überleben wurde mit jedem weiteren Tag härter – noch dazu in dem aussergewöhnlich kalten Winter von 1944/45, in dem sogar auf der Donau Eisschollen trieben. Hirschi erinnert sich an Hunger und Angst, die in dem Keller um sich griffen. «Auch Carl Lutz wurde immer nervöser und magerer.»

Massendeportationen erst nach deutscher Besatzung

Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem ehrt neben Carl Lutz und Raoul Wallenberg eine Reihe weiterer Diplomaten, die – etwa in Paris – Visa an Juden ausstellten, um deren Deportation zu verhindern. Nirgendwo sonst aber war die Zahl der vor dem nationalsozialistischen Massenmord Geretteten so hoch wie in Budapest. Lutz und Wallenberg stellten nicht nur Schutzpässe aus, sie hissten auch die Fahnen ihrer neutralen Länder an Häuser, um deren Bewohner unter diplomatischen Schutz zu stellen. Dass diese Massnahmen funktionieren konnten, war auch den besonderen historischen Bedingungen in Ungarn geschuldet.

«Budapest hatte nach dem Holocaust die grösste jüdische Gemeinde in Mitteleuropa», stellt Adam Kerpel-Fronius fest. Der Historiker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, von Budapest spricht er als einem «Kleinod» im Europa des Zweiten Weltkrieges.

Trotz der engen Allianz mit Nazi-Deutschland hatte die ungarische Regierung unter Miklós Horthy bis zur deutschen Besatzung im März 1944 auf Massendeportationen verzichtet. Nach dem deutschen Einmarsch wurden diese jedoch mit umso grösserer Brutalität umgesetzt. Von den rund 800.000 ungarischen Juden wurden etwa 565.000 in Auschwitz ermordet, mehr als 424.000 von ihnen waren in einem Zeitraum von nur 56 Tagen deportiert worden.

Juden stehen 1944 vor der Schweizer Botschaft in Budapest Schlange. Foto FORTEPAN / Archiv für Zeitgeschichte ETH Zürich / Agnes Hirschi, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=51673010
Juden stehen 1944 vor der Schweizer Botschaft in Budapest Schlange. Foto FORTEPAN / Archiv für Zeitgeschichte ETH Zürich / Agnes Hirschi, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=51673010

Warum Budapest ein Sonderfall ist

«Die deutsche Besatzung in Ungarn war äusserst speziell», sagt Kerpel-Fronius.

Im Unterschied zu anderen von Nazi-Deutschland besetzten Ländern wurde die ungarische Regierung nicht demontiert. «Trotz der deutschen Truppen im Land funktionierte der ungarische Staat offiziell auch noch während der Besatzung.» Horthy habe sich weiterhin als Staatsoberhaupt betrachtet – und in dieser Position im Juli 1944 plötzlich die Deportationen gestoppt. «Das sollte allerdings nicht als plötzlicher Anflug von Humanismus missverstanden werden», stellt Kerpel-Fronius klar. Vielmehr habe Horthy, im Angesicht einer Niederlage der Achsenmächte im Krieg, versucht, seinen Spielraum auszuweiten und insbesondere die Beziehungen zu den Neutralen nicht abzubrechen.

Dieser extreme Opportunismus sei später auch Ferenc Szálasi, dem Parteiführer der faschistischen Pfeilkreuzler und seit der Absetzung Horthys im Oktober 1944 ungarischer Regierungschef, zu eigen gewesen. Sowohl Horthy als auch Szálasi hätten der – letztlich antisemitischen – Vorstellung aufgesessen, dass die US-Armee Budapest nicht bombardieren werde, würden dort noch Juden leben. «Um es zynisch zu sagen, haben die offiziellen ungarischen Stellen die Juden als Schachfiguren betrachtet», sagt Kerpel-Fronius.

Horthy und Szálasi sollten sich täuschen. Schon seit Frühling flogen die Amerikaner Bombenangriffe auf Budapest, gleichzeitig rückte die Rote Armee von Osten her immer weiter vor. «Das Näherkommen der Front bedeutete, dass Deportationen seit dem Sommer 1944 praktisch unmöglich geworden waren», sagt Kerpel-Fronius.

«Wäre es Ende 1944 noch zu Deportationen gekommen, hätten auch die Schutzpässe ihre Inhaber nicht schützen können», sagt Kerpel-Fronius. «Das ändert aber nichts daran, dass Carl Lutz und Raoul Wallenberg Übermenschliches geleistet haben», betont der Historiker. Allein die materielle Hilfe, die beide Diplomaten den jüdischen Bewohnern der sogenannten Schutzhäuser zukommen liessen, habe Leben gerettet. Heldenhaft sei nicht zuletzt, dass sich beide über die Weisungen ihrer Regierungen hinweggesetzt hätten.

Für Carl Lutz sollte seine Heldentat für den Rest seines Lebens zur Belastung werden. Zurück in der Schweiz, erhielt der Diplomat eine offizielle Rüge für sein Handeln in Budapest. Um seine Rehabilitierung kämpfte er zu Lebzeiten umsonst. Sie erfolgte erst im Jahr 1995 – zwei Jahrzehnte nach seinem Tod in Bern.

Lutz sei im Unfrieden mit der Schweiz gestorben, weil ihm ausgerechnet in seinem Heimatland die Anerkennung für seine aussergewöhnlichen Leistungen versagt blieb, sagt Hirschi, die sich die Erinnerung an Carl Lutz zur Lebensaufgabe gemacht hat – weil sie es ihrem Vater am Sterbebett versprochen hat, aber auch aus persönlicher Dankbarkeit.

Agnes Hirschi, Stieftochter von Carl Lutz. Foto / Screenshot DOCMINE/SRF
Agnes Hirschi, Stieftochter von Carl Lutz. Foto / Screenshot DOCMINE/SRF

Der Geruch der Befreiung                                        

Hirschi ist dem Tod als junges Mädchen nur knapp entronnen – selbst in einer Situation, die sie als «privilegiert» bezeichnet.

Die Lebensgefahr für Holocaust-Überlebende endete auch nicht unmittelbar mit der Befreiung durch die Rote Armee. Auch mit 79 Jahren erinnert sich Hirschi noch an die Gerüche, die mit der Befreiung kamen, an die torkelnden Schritte der alkoholisierten sowjetischen Soldaten, die am 18. Januar 1945 auch den Keller der britischen Gesandtschaft stürmten.

«Als sie die Soldaten kommen hörte, hat mich meine Mutter unter dem Bett versteckt», erinnert sich Hirschi. Dann habe plötzlich einer der Soldaten blind unter das Bett geschossen. «Es müssen unglaubliche Minuten der Angst gewesen sein, die meine Mutter durchgestanden hat, bis die Soldaten weg waren und ich unversehrt unter dem Bett hervorgekrochen bin.»

«Man braucht immer einen Schutzengel», sagt Hirschi. «Meiner hiess Carl Lutz.»

Isabelle Daniel ist Journalistin und schreibt über Israel und China und forscht zu Erinnerungspolitik und Antisemitismus. Zuerst erschienen bei Luzerner Zeitung.