Ein Kommentar von Dr. Efraim Inbar, Prof. em. für Politikwissenschaft an der Bar-Ilan-Universität in Israel und Vorsitzender des Jerusalem Institute for Strategic Studies.
Sehr geehrter Herr Netanyahu,
wie Sie wissen, gibt es sowohl innerhalb als auch ausserhalb der IDF Stimmen, die sich für einen „Marschallplan“ – eine massive internationale Mobilisierung – stark machen, um die Lebensbedingungen im Gazastreifen zu verbessern. Sie glauben, dass eine bessere wirtschaftliche Situation im Gazastreifen die Gewalt gegen Israel verringern wird, während weitere wirtschaftliche Verschlechterung in Gaza den Radikalisierungsprozess beschleunigen und dazu führen wird, dass noch extremere Elemente wie die Hamas die Kontrolle übernehmen.
Diese Logik ist jedoch aufgrund mehrerer Aspekte fehlerhaft:
1. Der Glaube, dass Armut zu Terrorismus führt, ist ein unbegründeter liberaler Mythos. Es gibt keinen erwiesenen Zusammenhang zwischen dem Lebensstandard einer Person einerseits und politischer Gewalt und Terrorismus andererseits. Arme Länder, wie etwa Indien, bringen kaum Terrorismus hervor. Zu Beginn der Zweiten Intifada im Jahr 2000 befand sich die wirtschaftliche Situation der Palästinenser im Aufwind.
2. Der Glaube, dass grösserer Wohlstand für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen die militärische Führung der Hamas zu Mässigung veranlassen würde, ist naiv. Es ist unwahrscheinlich, dass radikale Ideologie und religiöser Eifer vom Wohlstand unbewaffneter Zivilisten beeinflusst werden. In einer Diktatur sind es die Typen mit den Gewehren, die das Sagen haben. Die Diktatoren des Nahen Ostens haben keine Scheu, ihre Gegner zu töten.
3. Massive wirtschaftliche Hilfe für den Gazastreifen bedeutet, den erbitterten Feind Israels zu unterstützen, einen Feind, dessen Ziel die Vernichtung Israels ist. Hat sich der Westen je überlegt, aus Angst vor stärkerer Radikalisierung, auch dem Islamischen Staat (ISIS) wirtschaftliche Hilfe zu leisten? Wir müssen uns keine Sorgen um den Untergang der Hamas-Herrschaft machen. Die Hamas ist ein Ableger der Muslimbruderschaft. Der radikale Islam wird nur dann besiegt werden, wenn ausreichend viele Muslime erkennen, dass Radikalisierung zu Leid führt und nicht zu Befreiung.
4. Eine geschwächte Hamas ist im Interesse Israels. Dies ist auch der Wunsch Ägyptens und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Eine schwache Hamas stellt sowohl für Israel als auch für die PA eine geringere Bedrohung dar. Und eine geschwächte Hamas wird auch empfänglicher für Druck durch Ägypten sein, wenn dieses verlangt, dass sie ihre Unterstützung für islamistische Rebellen im Sinai zurückfahren soll.
5. Auf der anderen Seite wird jede Stärkung der Hamas auf Kosten der PA gehen. Wenngleich keiner von beiden ein „echter“ Friedens-Partner für Israel ist, ist die PA dennoch ein weniger kriegerischer und ein angenehmerer Partner im angespannten Zusammenleben.
6. Israels Kampf gegen das iranische Hegemoniestreben im Nahen Osten wird von einer israelischen Politik, die das Hamas-Regime aufrecht erhält, unterminiert. Letztlich steht die Hamas in enger Zusammenarbeit mit Teheran. Saudi-Arabien sowie dessen Verbündete im moderaten Lager der Sunniten verabscheuen die Muslimbruderschaft und die Hamas.
„Hilfe für die Hamas stärkt die Position des radikalen Islam“
Diese Länder fürchten das Eindringen des Iran. Bessere Beziehungen zu diesen Ländern werden nicht mit einer Hilfskampagne für Gaza erreicht werden. Kurzum, Hilfe für die Hamas stärkt einzig die Position des radikalen Islam im Nahen Osten.
Herr Premierminister, das Konzept eines Marschallplans ist verfehlt und kontraproduktiv. Israel sollte, was den palästinensischen Schauplatz betrifft, sein bewährtes Konzept von Zuckerbrot-und-Peitsche beibehalten – eine Politik, die im Laufe der Jahre beeindruckende Erfolge erzielt hat, auch wenn das Gleichgewicht immer sehr empfindlich und von Unsicherheit gekennzeichnet ist. Auch wenn Israel nicht an einem humanitären Desaster im Gazastreifen interessiert ist, untergräbt der Vorschlag, auf einen Marschallplan zu drängen, eindeutig das günstige Gleichgewicht zwischen Bestrafung und Anreiz.
Auf Englisch zuerst erschienen bei The Jerusalem Post.