Ultraorthodoxe Israelis und der Militärdienst

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Vor wenigen Wochen boten sich dem Zuschauer in Israel einige erschreckende Bilder: Protestierende orthodoxe jüdische Männer, welche Strassen blockierten und den Verkehr aufhielten, wurden von israelischen Polizisten zum Teil grob weggezerrt oder mit Wasserwerfern zum Aufstehen gezwungen. Foto Yonatan Sindel/Flash90
Vor wenigen Wochen boten sich dem Zuschauer in Israel erschreckende Bilder: Protestierende orthodoxe jüdische Männer, welche Strassen blockierten und den Verkehr aufhielten, wurden von israelischen Polizisten zum Teil grob weggezerrt oder mit Wasserwerfern zum Aufstehen gezwungen. Foto Yonatan Sindel/Flash90
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Vor wenigen Wochen boten sich dem Zuschauer in Israel erschreckende Bilder: Protestierende orthodoxe jüdische Männer, welche Strassen blockierten und den Verkehr aufhielten, wurden von israelischen Polizisten zum Teil grob weggezerrt oder mit Wasserwerfern zum Aufstehen gezwungen.

 

von Rabbiner Yuval Cherlow

Offizieller Grund für die Proteste war die Verhaftung zweier ultraorthodoxer Männer, die sich weigerten, sich zur gesetzlichen ersten Vorladung beim Rekrutierungsbüro zu melden, welche sie gemäss dem “Torato Omanuto Abkommens “ von der Militärpflicht auf weiteres freigestellt hätte.

Die Freistellung ultraorthodoxer Männer von der Militärpflicht in Israel geht auf das bei der Gründung des Staates festgelegte Torato Omanuto Abkommen zurück, welches festlegt, dass Männer, die sich ausschliesslich dem Tora-Studium widmen und keiner anderen Beschäftigung nachgehen, in dieser Zeit vom Militärdienst befreit werden.

Die kürzlichen Unruhen kommen von einer kleinen Splittergruppe innerhalb der litauischen Ultraorthodoxie – dem sogenannten “ Jerusalemer Sektor” (Hebr. “HaPeleg HaJeruschalmi”). Eine Gruppierung, die nicht nur den Militärdienst ablehnt, sondern auch dagegen ist, sich für die erste Vorladung bei der staatlichen Dienstelle zu melden.

Das Problem der Ultraorthodoxie mit dem Militärdienst

Um den Kampf gewisser Gruppen innerhalb der ultraorthodoxen Gesellschaft gegen die Einberufung ins Militär zu verstehen, muss man sich zunächst mit einigen grundlegenden Kapiteln der jüdischen Geschichte befassen, da diese die aktuellen Auseinandersetzungen stark beeinflussen. Während der vergangenen Jahrhunderte und bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Juden weltweit über zahlreiche Staaten verstreut. Sie besassen kein gemeinsames Territorium, lebten in verschiedenen und sehr unterschiedlich geprägten Kulturen, ohne die Möglichkeit, eine von ihnen selbst verwaltete nationale Entität zu unterhalten. Aus diesem Grund war ihre gemeinsame Identität eine religiöse, basierend auf dem Grundkonsens, dass die Historie von G“tt gelenkt wird, wohingegen es die Aufgabe des Menschen ist, ein religiöses Leben zu führen, das vor allem aus einem andauernden Studium der jüdischen Schriften und der Ausübung von G“ttes Geboten besteht. Weiter war man sich darüber einig, dass sämtliche nationalen Aspirationen der Juden erst nach der Ankunft des Messias verwirklicht werden könnten. Er würde das Volk Israel befreien, in sein Land zurückführen und dann die Führung des Staates übernehmen.

Einfluss der Aufklärung auf das Judentum

Vor etwa zweihundert Jahren sah sich auch das Judentum infolge der ganz Europa erfassenden Aufklärungsbewegung mit dem Konflikt zwischen einem rein theologisch-religiösen Weltbild und der Moderne mit ihren wissenschaftlichen Ansätzen konfrontiert, ebenso wie mit Versuchen, nationale Lösungen für seine Existenzprobleme anzudenken. Dieser Konflikt spaltete die jüdische Welt in zahlreiche Splittergruppen, wobei man allerdings drei grundlegende Strömungen abstecken kann:

  1. Die erste gab ihr rein religiöses Weltbild auf und übernahm die Prinzipien der Moderne. Obwohl sie der jüdischen Tradition weiter verbunden blieb, betrachtete sie diese als kulturellen Aspekt und nicht als Verpflichtung zu einer strengen Befolgung von G“ttes Geboten. Diese Säkularisierungsbewegung war es, die den uralten jüdischen Traum verwirklichte, mit praktischen politischen Mitteln wieder zu einer eigenen nationalen Entität zu kommen − durch die Gründung einer Nationalbewegung, den Aufbau eines Staates, die Errichtung nationaler Institutionen und eines Militärs, das dieses nationale Gebilde im Kampf gegen seine Feinde verteidigen sollte.
  2. Dem gegenüber stand die ultraorthodoxe Bewegung, welche im Prozess der Gründung eines Staates den Austausch der authentischen, jüdischen, religiösen Identität mit einer modernen, abtrünnigen Kultur sah und daher nicht damit einverstanden war, die Prinzipien des modernen Staates als Autoritätsquelle zu akzeptieren.
  3. Die Bewegung zwischen diesen beiden Polen, der auch ich angehöre, war der religiöse Zionismus. Sie verband die religiöse mit der modernen Welt und fand einen Weg, ihre tiefverwurzelte religiöse Anschauungen auch im Rahmen eines modernen nationalen Staatswesens zu verwirklichen.

Der Militärdienst in der heutigen Identitätssuche Israels

Auf gewisse Weise befindet sich der Staat Israel seit seiner Gründung in einem bedeutungsvollen Diskurs um seine Identität und vor allem um die Frage, inwiefern man die staatlichen Institutionen und Gesetze als Quelle einer politischen Autorität akzeptieren und diesen gehorchen muss.

Einer der Prüfsteine dieser Identität ist die Frage des Militärdienstes.

Da der Staat Israel von Feinden umgeben ist, die sein Existenzrecht nicht anerkennen, ist er gezwungen, ein stehendes Heer zu unterhalten, das vor allem auf dem Pflichtdienst für alle über 18jährigen basiert. Die Mitglieder der ultraorthodoxen Strömungen widersprechen diesem ihnen auferlegten Pflichtdienst aus verschiedenen Gründen. Ihr Hauptargument ist jedoch, dass ihr Torah-Studium und ihre Gebete wichtiger seien als der Militärdienst, und sie sprechen der säkularen Regierung die Autorität ab, dieses Torah-Studium zu beeinträchtigen.

In den ersten Jahren nach der Gründung des jungen Staates war die Zahl der Ultraorthodoxen relativ gering. Es war daher nicht schwer, sich auf politischen Wegen mit ihnen zu einigen und direkte Konfrontationen zu vermeiden. Der Staat war bereit, sich mit der Tatsache abzufinden, dass es einige hundert junger Männer gab, die nicht ins Militär gingen (die Frage der Rekrutierung von Frauen ist ein anderes Thema, das wir in diesem Rahmen nicht abhandeln wollen, und das auch nicht im Zentrum der aktuellen Auseinandersetzungen steht).

In den letzten Jahren jedoch kam es zu zwei entscheidenden Veränderungen. Die erste ist das ungeheure Wachstum des betreffenden Bevölkerungssektors, das vor allem auf natürliche Vermehrung zurückzuführen ist – eine ultraorthodoxe Familie hat im Durchschnitt acht Kinder. Die zweite Veränderung ist, dass die verschiedenen ursprünglichen Ausnahmeregelungen unlängst vom Obersten Gericht verworfen wurden, mit dem Argument, sie seien auf Grund ihres inhärenten Gleichstellungsdefizits ungesetzlich und somit auch nicht akzeptabel. Dadurch befindet sich der Staat Israel gegenwärtig in einer Situation, in der das politische System nach Wegen sucht, eine frontale Konfrontation mit den ultraorthodoxen Parteien zu vermeiden (die übrigens seit der Staatsgründung fast allen Regierungskoalitionen angehörten), ohne dabei gleichzeitig eine konstitutionelle Krise heraufzubeschwören.

Vor diesem Hintergrund kämpft nun eine der extremistischen Gruppen innerhalb des ultraorthodoxen Judentums besonders kompromisslos gegen die Rekrutierungspflicht, wobei ihre Demonstrationen zunehmend gewalttätiger und schädlicher werden. Dass sich ihre Proteste primär gegen die Befolgung der ersten Vorladung ins Rekrutierungsamt zu richten scheinen, ist ein rein strategischer Schritt – sie lehnen den Militärdienst als solchen grundsätzlich ab und erklären, dass für sie keine andere Lösung in Frage käme als eine absolute Freistellung der jungen Thora-Studenten. Sie fordern daher die Aufhebung jeder für sie bindenden gesetzlichen Pflicht.

Angehörige von Nahal Haredi, ein ultra-orthodoxes Battalion in der IDF. Foto Abir Sultan/Flash90
Angehörige von Nahal Haredi, ein ultra-orthodoxes Battalion in der IDF. Foto Abir Sultan/Flash90

Diese Demonstrationen spalten jedoch nicht zuletzt die ultraorthodoxe Gesellschaft selbst, da sie sich auch gegen jene ultraorthodoxe Gruppen richten, die sich gemeinsam mit ihren Repräsentanten im politischen Establishment um Lösungswege bemühen, die einerseits das religiöse Leben nicht beeinträchtigen und andererseits eine direkte Konfrontation mit der Staatsmacht und dem Obersten Gericht vermeiden. Natürlich spielen bei diesen abweichenden Haltungen auch machtkämpferische Faktoren mit, die wenig mit Ideologien zu tun haben. All das gestaltete den Charakter der Fehde, die sich in den letzten Wochen abgespielt hat und wie gesagt eng mit der Identitätsfindung des Staates Israel verbunden ist, ebenso wie mit der Kapazität seiner verschiedenen Bevölkerungssektoren, der Gegenpartei und ihren Standpunkten Raum zu gewähren.

Aufgestaute Ressentiments in weiten Bevölkerungsgruppen

Diese Demonstrationen führen zu stürmischen Debatten, nicht nur bei allen anderen Israelis und den politischen Entscheidungsträgern des Landes, sondern auch innerhalb der ultraorthodoxen Welt selbst und in den Beziehungen der einzelnen Gruppen untereinander. In der allgemeinen Öffentlichkeit besteht eine aufgestaute Wut und Verbitterung darüber, dass es Bevölkerungssektoren gibt, die sich der Pflicht des Militärdienstes entziehen, während die anderen jungen Menschen nicht nur gezwungen sind, dem Staat mehrere Jahre lang in der Armee zu dienen, sondern dabei auch verwundet und getötet werden. Mehr als das: diese Ausnahmegruppe, welche die Last der Dienstpflicht nicht einmal mitträgt,  ging in den letzten Wochen auch noch mit Gewalt gegen die Gesetze des Staates und die Urteile des Obersten Gerichts in Stellung − sie blockierten Strassen und verletzten Zivilisten, und empört vor allem durch ihre grundsätzliche Haltung, sich ausserhalb des Kreises der staatlichen Bürgerpflichten zu sehen. Gleichzeitig besteht ein Unmut innerhalb ihrer eigenen Gesellschaft − der Grossteil der ultraorthodoxen Gruppierungen fordert zwar ebenfalls eine Freistellung vom Militärdienst, will dies aber im Rahmen eines politischen Kampfes erreichen, mit subtileren Mitteln und dem Bemühen, sich zu verständigen. Aus diesem Grund stehen auch die ultraorthodoxen Politiker den Demonstrationen und deren öffentlichem Preis äusserst kritisch gegenüber.

Entwicklungen in der ultraorthodoxen Gemeinschaft

Bei alldem darf nicht vergessen werden, dass auch das ultraorthodoxe Judentum durchaus positive Elemente in die Gesellschaft einbringt. Zunächst trägt es allein durch seine Existenz und seinen eigenen Lebensstil zum Pluralismus der Bevölkerung bei. Weiter unterhält es Wohltätigkeitseinrichtungen und Institutionen von ungeheurem Umfang. Nicht wenige seiner jungen Menschen sind auch als Freiwillige in den Rettungsdiensten des Roten Davidsterns und der ZAKA-Organisation aktiv. Und vieles mehr.

Der Grossteil der Öffentlichkeit im Land ist daran interessiert, die Wogen des Konflikts eher zu glätten als diese weiter hochzuschaukeln, wobei die sich entwickelnde Eigendynamik in der Zukunft allerdings zu einer Eskalation führen kann, deren Ende im Ungewissen liegt. Schliesslich geht es hier tatsächlich einerseits um Fragen von Leben und Tod – den Militärdienst – andererseits um ein Ethos, das in der Basis der Staatsgründung Israels wurzelt. Das ist der Grund dafür, dass sich die Gemüter so stark erhitzen. Momentan hat sich die Lage wieder beruhigt, anscheinend, weil das neue Semester in den Jeschiwot (Talmudhochschulen) wieder begonnen hat, und die Unruhestifter sich in die Studienhallen zurückgezogen haben.

Ich hoffe, dass sich ein Weg finden lässt, bei dem beide Parteien der Gegenseite weit möglichst entgegenkommen: der Staat Israel wird sich vorübergehend mit der Freistellung derer abfinden, die sich tatsächlich dem Thora-Studium widmen, und die ultraorthodoxe Gesellschaft wird darauf verzichten, eine kategorische Freistellung ihrer Mitglieder zu verlangen, und sich mit einem Freibrief für diejenigen begnügen, die wirklich an ihren Talmudhochschulen lernen.

Während man unmöglich eine ganze Gruppe von Personen gegen ihren Willen zum Militärdienst zwingen kann, gibt es eine schon lange still ablaufende Entwicklung in der ultraorthodoxen Gemeinschaft, welche in der Zukunft auch dieses Thema beeinflussen wird. Tatsache ist nämlich, dass sich in der ultraorthodoxen Gesellschaft vieles bewegt und sich immer mehr Türen in der Arbeitswelt, in der Akademie und sogar im High-Tech Sektor öffnen –  sowohl für Männer als auch für Frauen. Dieser Prozess kann nicht mehr aufgehalten werden und führt dazu, dass sie je länger desto mehr in weltliche Themenbereiche einbezogen werden – und über kurz oder lang, durch eine natürliche Dynamik, dies auch mit dem Thema “Militärdienst” geschehen wird.

Ein Beleg für diese Tendenz ist die Tatsache, dass die Zahl der ultraorthodoxen Soldaten jährlich steigt. Das IDF bietet ihnen attraktive, auf ihre Lebensweise zugeschnittene Dienstmodelle und Bedingungen an, und von den heute bestehenden 6600 ultraorthodoxen Soldaten im israelischen Militär leistet die Hälfte ihren Dienst in Kampfeinheiten.

Yuval Cherlow ist ein modern-orthodoxer Rabbiner, leitet die Jeschiwa Hochschule “Yeshivat Amit Orot Shaul” in Raa’nana und ist Mitbegründer von “Tzohar”, einer Rabbinervereinigung von über 800 Rabbinern, welche versucht, zwischen religiösen und säkulären Juden in Israel Brücken zu schlagen. Die Organisation wurde als Reaktion auf den Mord an Jitzchak Rabin im Jahr 1995 gegründet.

Aus dem Hebräischen übersetzt von Rachel Grünberger-Elbaz.