Literarischer Antisemitismus: Judenfeindschaft als kultureller Gefühlswert, Teil 2

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Gustav Freytags Soll und Haben. Bild: ebay/troedel_und_kunst
Lesezeit: 7 Minuten

Dieser zweiteilige Artikel basiert auf  dem gekürzten und überarbeiteten Vortrag „Gefühle als Basis des antisemitischen Ressentiments: Zur Symbiose von Emotion, Kognition und Sprache in literarischen Texten“ im Rahmen der interdisziplinären Fachtagung „Emotionen des Antisemitismus”des  Alfried Krupp Wissenschaftskollegs  am 4.7. 2017  in Greifswald. Der erste Teil erschien am 7. September 2017.

Von Monika Schwarz-Friesel

Der Topos des bösen und hässlichen Juden

Bilder von Juden als Spekulanten und Wucherer, als böse und hässliche Ganoven, als herzlose, kalte Geschäftsleute oder zersetzende, unmoralische Intellektuelle finden sich in zwei im 19. Jahrhundert viel gelesenen Romanen der an sich liberal gesinnten Autoren Gustav Freytag („Soll und Haben“) und Wilhelm Raabe („Der Hungerpastor“). Dort fungieren explizit als jüdisch gekennzeichnete Figuren als Gegenspieler der als moralisch integer und verantwortungbewusst charakterisierten  Protagonisten; Der Jude Itzig Veitel wird bei Freytag folgendermassen dargestellt:„Es war das Gesicht eines Teufels, … rotes Haar stand borstig in die Höhe, Höllenangst und Bosheit sass in den hässlichen Zügen.“ (Soll und Haben, 386)

In dieser Charakterisierung verschmelzen typisch antisemitische Stereotype, die sich auf angenommene äussere und innere Eigenschaften von Juden beziehen, subsumierbar unter das Konzept des körperlich wie seelisch verkommenen Juden, dies noch intensiviert durch die Dämonisierungs-Teufel-Metapher.

Die Wohnung des Juden Ehrenthal, eher eine Randfigur, wird mittels einer Personifikation als charakterlos bezeichnet und der explizite Vergleich mit der Zigeunerin knüpft an das Stereotyp des Fremden, des Heimatlosen an (Gustav Freytag, Soll und Haben, 175 f.): „Es war kein guter Charakter in dem Hause, wie eine alte Zigeunerin sah es aus.“ Zudem wird über eine Implikatur die Geschmacklosigkeit seiner Familie betont, die über die Refenzialisierung des Wandschmuckes evoziert wird:  „… und die zahlreichen schlechten Ölbilder an den Wänden“. Ehrenthas Tochter erscheint als lüsterne Nymphe, die anständige Christenmenschen verführen will und deren grosse Schönheit nicht ohne Hinweis auf die entsprechenden Stereotype vom jüdischen Aussehen beschrieben wird: „… rabenschwarze Hängelocken … grosse edle Gestalt mit glänzenden Augen … mit einer nur sehr wenig gebogenen Nase…“ (Gustav Freytag, Soll und Haben, 38). Jüdisches Geschäftsleben wird mittels metphorischer Projektion ins Tierleben als einflussreiche, unheimliche Grösse gezeichnet:    „… und in dem Viereck … windet sich aalglatt der jüdische Faktor hindurch …“ (Gustav Freytag, Soll und Haben, 490).

Auch in Raabes „Hungerpastor“ werden Protagonist Hans Unwirsch und Antagonist Moses Freudenstein kontinuierlich mittels kontrastierender und  polarisierender Darstellungen beschrieben. Die folgende Textsstelle  ist hierfür ein prägnantes Beispiel, wobei das mittelalterliche Motiv von Juden als Teufel  aktiviert wird:„Rührend war die ehrfurchtsvolle Scheu, welche Hans … wahrhaft diabolisch aber war die Art und Weise, in welcher Mose … diesem Glauben an die Autorität ein Bein zu stellen suchte.“ (Wilhelm Raabe, Der Hungerpastor, 137): Bezeichnend ist auch, dass der gutmütige, sensible Protagonist die erste intensive Negativemotion seines Lebens in Bezug auf den konvertierten Moses empfindet, der mit stark negativ bewertenden Lexemen, die typisch judeophobe Stereotype ausdrücken, bezeichnet wird: „Hans Unwirsch fühlte zum ersten Mal in seinem Leben, was der Hass sei; er hasste die schlüpfrige, ewig wechselnde Kreatur, die sich einst Moses Freudenstein nannte, von diesem Augenblick an mit ganzer Seele.“ (Wilhelm Raabe, Der Hungerpastor, 295)

Hass war stets und ist bis heute die Treibfeder des Antisemitismus

Mit der Phrase „schlüpfrige, ewig wechselnde Kreatur“ findet sich – ähnlich wie bei Freytag – die tradierte Konzeptualisierung von Juden als unbeständigen, nicht zu vertrauenden Wesen, wobei die Charakterisierung durch „Kreatur“ eine dehumanisierende Lesart aktiviert. Dass die Emotion Hass fokussiert wird, ist kein Zufall: Bis heute ist dieses Gefühl das im antisemitischen Diskurs vorherrschende; Hass war stets und ist bis heute die Treibfeder des Antisemitismus.

In beiden Romanen finden sich ähnliche Beschreibungen, die auf dieselben semantischen Felder zurückgreifen: Fokussiert ist das Dämonische (vgl. Gesicht eines Teufels und diabolisch), das Unberechenbare (vgl. aalglatt und schlüpfrig), das Undeutsche (so wird in beiden Romanen das Jiddische der jüdischen Personen nachgeahmt und deren fremdländisches Aussehen betont). Im 19. Jahrhundert ist diese Perspektive das Normale und auf allen Ebenen der Gesellschaft und in allen Textsorten (Predigten, Postkarten, Spottgedichte, Parteiprogramme usw.) anzutreffen.

Im englischsprachigen „Oliver Twist“ von Charles Dickens finden sich – fast identisch wie in den deutschen Romanen – die  antisemitischen Referenzialisierungen von Aussehen und Charakter der jüdischen Figuren, die die Rolle der antagonistischen Bösewichte in der  Textwelt besetzen und dabei stets mit Schmutz und Hässlichkeit assoziiert werden:  „und am Kamin lehnte die zusammengeschrumpfte Gestalt eines alten Juden. Er hatte ein spitzbübisches Gesicht und dichtes rotes Haar.“ …  „Fagin klingelte, und es erschien ein anderer Jude, jünger als er, aber ebenso hässlich.“ So transportieren auch die der Geschichte neben- und untergeordneten Informationen kontinuierlich anti-jüdische Wertungen.

In Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“ werden jüdische Randfiguren ausschliesslich negativ mit den einschlägigen Stereotyp-Attributen ‚Schmutz, Schmierig, Geschmacklos-Neureich‘ repräsentiert, wobei durch die unbestimmte Nominalphrase „ein grässlicher Jude“ durch das Kopfnomen Jude nahegelegt wird, dass die beschriebenen Eigenschaften typisch für alle Juden seien, also eine ent-individualisierte allgemeine Lesart entsteht.   „Ein grässlicher Jude in dem erstaunlichsten Rock, den ich je in meinem Leben sah, stand am Eingang und  rauchte eine schlechte Zigarre. Er hatte fettige Ringellocken, und ein riesiger Diamant glitzerte auf der Mitte seines schmutzigen Hemdes (Das Bildnis des Dorian Gray, 45).  Dieser pejorativen Referenz folgt unmittelbar noch zusätzlich die explizite affektive Bewertung:  „Es war grotesk scheusslich.“ Der reiche Schurke, der die naive und unschuldige Christin Sibyl in Abhängigkeit hält (und damit an ein uraltes judenfeindliches Stereotyp anknüpft),  hat den proto-typisch jüdischen Namen „Mr. Isaacs“. E wird eingeführt als  „der fette jüdische Direktor, den sie am Tore trafen, strahlte übers ganze Gesicht mit einem öligen, hin und her zuckenden Lächeln“ , wobei selbst das Lächeln (sonst eher ein Kennzeichen der Freundlichkeit)  als falsch und unbeständig konzeptualisiert wird. Kritik und Abscheu gegenüber diesem Typus des (neu)reichen, geschmacklosen Emporkömmlings spiegeln sich nicht nur in der referenziellen Sachverhaltsbeschreibung, sie wird noch verstärkt durch das explizit bekundete Gefühl der Text-Welt-Figur: „Er geleitete sie mit einer Art prahlerischer Unterwürfigkeit bis zu ihrer Loge, bewegte die fetten, juwelenglänzenden Hände eifrig hin und her und sprach in seinen höchsten Tönen. Dorian Gray empfand mehr als je Widerwillen gegen ihn.“  Dabei ist zu erwähnen, dass Juden in anderen fiktiven Werken (oder auch in dem Grimmschen Märchen  „Der Jude im Dorn“ ) oft gar nicht als individuelle Figuren erwähnt werden, sondern namenlos lediglich als Typus und mit generischer Lesart  als  „der Jude“ bezeichnet werden. Sie verkörpern so das Prinzip des  Bösen schlechthin  – auch dies bis heute ein Grundbaustein des antisemitischen Weltbildes, der sich aktuell besonders ausgeprägt in der Dämonisierung des jüdischen Staates zeigt.

Fazit: die ungebrochene Wirkung des judeophoben Ressentiments

Judeophobe Stereotype, die über die Manifestationsformen der Sprache seit Jahrhunderten weitergegeben werden, finden sich auch in zahlreichen Romanen, die heute als Literatur-Klassiker gelten. Im 19. Jahrhundert ist das Konzept des geld- und machtgierigen, physisch wie moralisch hässlichen Juden ein gängiger Topos, der sich als kulturell verankertes Ressentiment und kommunikatives Muster auch in der schöngeistigen Literatur (des liberal gesinnten  Bildungsbürgertums) niederschlägt. Die literarischen Werke kodieren ohne kritische Reflexion anti-jüdische Konzeptualisierungen mit einem besonders intensivem Emotionspotenzial und machen transparent, dass Judenfeindschaft ein abendländischer  Gefühlswert ist, der bedenkenlos – und in seiner Normalität als gängiges Stilmittel zur polarisierenden Darstellung  von Romanfiguren  – in die fiktiven und ästhetischen Narrative einfliesst. Das Konzept des Anderen, des absoluten Feindes, des verkommenen Bösen findet künstlerisch in der Figur des jüdischen Antagonisten seinen belletristischen Ausdruck. Es ist eine Konzeptualisierung, die ohne Ausnahme alle Sphären des sozialen, politischen und kulturellen Lebens durchdringt und im 20. Jahrhundert in Radikalform die ideologische Basis für die eliminatorischen Aktivitäten der Nationalsozialisten ist.

Antisemitismus ist keine Menschenfeindlichkeit, sondern ausschliesslich Judenfeindschaft

Dass der Einfluss solcher kulturhistorischer Antisemitismen bis heute – trotz aller Aufklärungsarbeit nach dem Holocaust – ungebrochen wirkt, zeigen alle empirischen Korpus-Analysen der letzten 15 Jahre. Die klasssische Judenfeindschaft, sie ist keineswegs auf dem Rückzug oder in der aktuellen Kommunikation kaum noch anzutreffen (wie in letzter Zeit öfters zu lesen oder zu hören ist): Die klassischen Stereotype und die intensiven Gefühle, auf denen das judeophobe Ressentiment basiert, sie wirken ungebrochen weiter. Antisemitismus ist keine Menschenfeindlichkeit, sondern ausschliesslich Judenfeindschaft. Das Chamäleon Antisemitismus verändert im Wandel der Zeit sich anpassend nur seine äusseren Erscheinungsformen, seine Inhalte aber bleiben.

 

Monika Schwarz-Friesel ist Antisemitismusforscherin und Kognitionswissenschaftlerin an der TU Berlin