Des einen Ehre ist des anderen Gesichtsverlust

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Blick auf den Tempelberg. Foto: Andrew Shiva/Wikipedia
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Das Hickhack um eine Beendung des jüngsten Akts der tragischen Groteske um den Tempelberg.

Die Geschichte des Tempelbergs ist, wie alles hier im Nahen Osten, eine Groteske. Die Hintergründe sind bekannt. Dennoch will ich, bevor ich auf die Entwicklungen der letzten zwei Wochen eingehe, noch einmal kurz für Sie zusammenfassen: Wie einige Kollegen dazu sehr richtig bemerkt haben, ist es immer eine Frage dessen, an welcher historischen Schnittstelle man seinen Ausgangspunkt wählt. Ich werde Sie, verehrte Leser, nicht in das Zeitalter des ersten, 586 v.Chr. zerstörten Salomonischen Tempels und in die alte Davidstadt des Judäischen Königreiches zurückführen, wo gerade in jüngster Zeit wieder aufsehenerregende archäologische Beweise gefunden wurden, und auch nicht in das Zeitalter des zweiten, des Herodianischen Tempels, wo sich nicht zuletzt wesentliche Episoden des Wirkens von Jesus Christus abgespielt haben, und der im Jahre 70 n.Chr. mit der Stadt Jerusalem in Schutt und Asche versank.

Schlagen wir unseren zeitlichen Spagat bis zum Juni 1967. Unter Führung des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel-Nasser machten sich Israels arabischen Nachbarstaaten wieder einmal bereit, dieses fremde, westlich-orientierte Gebilde in ihrer Mitte endgültig zu vernichten. Es sah nicht gut aus für das von einer solchen Übermacht bedrohte kleine Land. In den Grossstädten weihten die Rabbiner bereits die Erde von Fussballstadien, um dort Massengräber für die Abertausenden erwarteter Toter zu schaffen. Aber dann kam alles anders: Israel trug den Sieg davon und eroberte die Sinai-Halbinsel, den Gazastreifen, die Golanhöhen, das Westjordanland und damit, völlig unbeabsichtigt, auch Ostjerusalem und den Tempelberg.

Dort stand, wie Fotos bezeugen, inmitten einer Müllhalde, eine vereinsamte Moschee. Al Aqsa! Aus einer Reihe von Erwägungen liess Moshe Dayan die Verwaltung der Stätte weiterhin in Händen des muslimischen Waqf. Juden dürfen nicht dort beten, Muslime hingegen schon. Im Lauf der Jahre haben sich die Gemüter um diesen Ort in schöner Regelmässigkeit immer wieder erhitzt. So wird nicht zuletzt Ariel Sharons Besuch auf dem Tempelberg im September 2000 für den Ausbruch der – tatsächlich von langer Hand vorbereiteten – zweiten Intifada verantwortlich gemacht. Auch die UNESCO hat sich Ende des vergangenen Jahres nicht entblödet, den Tempelberg kategorisch zu palästinensischem Kulturgut zu erklären. All das sei jedoch nur am Rande erwähnt.

Die jüngsten Entwicklungen

Schlagen wir nun einen weiteren Spagat zu den Ereignissen der letzten beiden Wochen. Am 14. Juli werden zwei israelische Grenzschutzbeamten auf dem Tempelberg von Attentätern erschossen. Mit Waffen, die entweder von ihnen selbst oder von einer dritten Person für sie dort eingeschleust wurden.

Wie immer in solchen Fällen tritt das israelische Sicherheitskabinett zusammen und berät die Einrichtung von Metalldetektoren am Zugang zur Al-Aqsa-Moschee. Man debattiert die halbe Nacht, um den Schwarzen Peter am nächsten Morgen den Sicherheitsbehörden zuzuschieben. Diese mögen entscheiden, was sie für richtig und notwendig erachten.

Die Detektoren werden aufgestellt – dieselben, die wir allerorts von Flughäfen, Museen, dem Eingang des Vatikans und Zeugen zufolge auch dem Zugang zur Kabah in Mekka kennen – und es bricht ein weltweiter Sturm muslimischer Empörung aus. Unterstützt von den Berichterstattern der westlichen Medien, die, wie immer, wenn es um Israel geht, den Blick für Ursachen, Proportionen und Realitäten verlieren. Die geistlichen Führer der muslimischen Gemeinden des Landes verbieten den Gläubigen, die Metalldetektoren auf dem Weg zur Moschee zu passieren… deren Frequenz würde Allahs Empfänglichkeit für ihre Gebete behindern. »Die Juden wollen Al Aqsa stehlen« tönt es global bei Massenkundgebungen durch die Megaphone und nicht weniger wahrheitsfern in der internationalen Presse: »den Palästinensern soll der Zugang zum Tempelberg verwehrt werden«.

Es kommt, wie es kommen musste, drei Palästinenser verlieren bei den gewaltsamen Demonstrationen der folgenden Tage ihr Leben, etliche Hundert werden verletzt. Erdogan droht, die Arabische Liga warnt, Mahmoud Abbas kündigt jede Kooperation mit den Israelis auf, der Vatikan und die EU-Staaten zeigen sich besorgt und mahnen zur Mässigung, die Presse verdreht Ursache und Wirkung. Wohlgemerkt – wegen Metalldetektoren, einer harmlosen, international üblichen Sicherheitsvorkehrung! Auch in Israel selbst scheiden sich die Geister. Die Zeitung Ha’aretz und ihre Leserschaft verbreiten Konspirationstheorien: Bibi habe diese Detektoren – allen Warnungen des Nachrichtendienstes und anderer Experten zum Trotz – aufstellen lassen, um durch eine Eskalation der Sicherheitslage von den gegen ihn laufenden Ermittlungsverfahren abzulenken. Nun bin ich wirklich kein Fan des israelischen Ministerpräsidenten und seiner Regierung, frage mich aber dennoch, von welchen Rauschmitteln sich meine linken Freunde ihren Blick auf die Realität derart trüben lassen?

Aber es wird noch schlimmer: am Freitagabend fühlt sich auch ein 19jähriger Palästinenser aus einem Dorf bei Ramallah befleissigt, seinen persönlichen Teil zur Befreiung von Al Aqsa beizutragen. In einem grauenvoll blutigen Gemetzel ermordet er drei Mitglieder der Familie Salomon in Chalamisch, die gerade ihr Schabbatmahl einnehmen. Am Sonntagmorgen das nächste Attentat: in Petach-Tikva wird ein Arbeiter mit Messerstichen schwer verletzt.

Ehre und Gesichtsverlust Schlüsselbegriffe im kulturellen Code der Region

Der Druck auf die Regierung, die Metalldetektoren wieder abzubauen, wird immer stärker. Desgleichen das Dilemma. Inzwischen geht es längst nicht mehr um die Detektoren, es geht um etwas, das in der islamischen Kultur eine fatale Rolle spielt: die Ehre, beziehungsweise, wer das Gesicht wahrt. Wer es nicht wahrt, zeigt Schwäche.

Erinnern wir uns: bis heute verbinden islamische Fundamentalisten den modernen Dschihad mit den Kriegen gegen die Kreuzritter im 12. Jahrhundert. Erst eine endgültige Bezwingung der abendländischen Kultur kann die vermeintlichen Ehrverluste von damals sühnen. Erinnern wir uns weiter an das Ende des Yom-Kippur-Kriegs 1973, als der damalige US-Aussenminister Henry Kissinger Israel zwang, die Versorgung der eingekesselten 3. ägyptischen Armee zuzulassen. Auch Kissinger war sich bewusst, wie das Ego in der Levante tickt: er fürchtete, dass ein vollständiger Gesichtsverlust der Ägypter etwaigen zukünftigen Friedensgesprächen im Weg stehen könnte. Erinnern wir uns auch an die zahllosen Ehrenmorde, deren Zeugen wir bis heute sind.

Nun befand sich die israelische Regierung in einer echten Zwangslage. Die Detektoren abzubauen hiesse, Schwäche zeigen… eine Schwäche, die die Gegenseite fortan ohne jeden Zweifel zu immer weiteren Erpressungen ähnlicher Art ermutigen wird. Schliesslich kennt man die kulturellen Codes dieser Region.

Andererseits wurden der internationale Druck und die greifbare Gefahr einer nächsten Intifada inzwischen so stark, dass man in Jerusalem nur noch eines wollte: aus dieser unglückseligen Verstrickung freikommen, möglichst schnell und möglichst ohne Gesichtsverlust.

Die traurige Rettung: ein weiteres Attentat und ein fauler Handel…

Die Rettung kam völlig unerwartet und, was bei dieser tragischen Posse kaum noch erstaunt, in Form eines weiteren Attentats. Ein Sicherheitsbeamter der israelischen Botschaft von Amman wurde von einem jungen Attentäter angefallen und erschoss in Gegenwehr nicht nur den Angreifer selbst, sondern, wohl versehentlich, noch eine weitere Person. Sofort forderte die jordanische Öffentlichkeit seine Auslieferung und die Todesstrafe. Gemeinsam mit den anderen Angehörigen des diplomatischen Corps verschanzte sich der verwundete Sicherheitsmann in der Botschaft, während sich die Lage für sie bedrohlich zuspitzte.
Netanyahu versprach Rettung und schickte einen hochrangigen Unterhändler zu König Abdallah − mit einem dicken Faustpfand: die Demontage der Metalldetektoren im Gegenzug für freies Geleit für die Botschaftsangehörigen und deren unversehrte Heimkehr nach Israel. Und so geschah es – obwohl sämtliche Beteiligten nach wie vor jeden ursächlichen Zusammenhang vehement dementieren.

Schon wenige Stunden später waren die Diplomaten daheim und die Detektoren »auf Kabinettsbeschluss« abgebaut. Das Leben des Sicherheitsbeamten war gerettet und Netanyahu konnte sein Nachgeben rechtfertigen, ohne Gesicht zu verlieren. Die Amerikaner lobten die rasche Lösung der Krise. Der einheimischen Bevölkerung, von der Meinungsumfragen zufolge nahezu 75% diesen Kniefall für einen taktischen Fehler halten, versprach man alternative Kontrollsysteme, die allerdings die Kleinigkeit von 100 Millionen Schekel kosten und erst in sechs Monaten bereitstehen werden… auf welcher Technologie diese basieren sollen, bleibt ein Rätsel, denn auch Überwachungskameras werden vom Waqf kategorisch abgelehnt.

… mit hohem Preis

Aber das Aufatmen war verfrüht. Wie zu erwarten, haben der Waqf und seine islamistischen Drahtzieherstaaten Lunte gerochen und die israelische Schwäche als solche erkannt… die Proteste gehen weiter. Nach wie vor beten Massen von Muslimen Abend für Abend nicht auf dem Tempelberg, sondern auf dem Vorplatz des Löwentors und nach wie vor provozieren sie dort nach dem Gebet täglich gewaltsame Zusammenstösse mit den Sicherheitskräften. Ihre offiziellen Sprecher erklären, diese Aktionen würden solange fortgesetzt, bis die Behörden von sämtlichen Sicherheits- und Kontrollmassnahmen Abstand nähmen. Jüngsten Meldungen zufolge feiern die untereinander zerstrittenen palästinensischen Bewegungen nach der Demontage der letzten Überwachungskameras in der Nacht vom Mittwoch auf Donnerstag heute Morgen unisono ihren »unseren palästinensischen Helden zu verdankenden« (Fatah) »ungeheuren historischen Sieg über Israel, sein Militär und seine Regierung« (Hamas).

Es ist ein Sieg mit gefährlichen Implikationen. Man fragt sich, wie lange Israel, die Hände solchermassen gebunden, die zerbrechliche Sicherheit auf dem Tempelberg und in der Altstadt noch gewährleisten kann. Diese Sicherheit garantiert nicht zuletzt auch das Recht auf freies Gebet für alle Gläubigen: Muslime, Juden und Christen.

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Über Rachel Grünberger-Elbaz

Rachel Grünberger-Elbaz, geb. 1958 in München, lebt seit 1977 in Israel, wo sie zunächst ihren Studienabschluss in Soziologie, Anthropologie, Film und Fernsehen machte. Seit 1984 arbeitet sie als freiberufliche Übersetzerin und Dolmetscherin und ist als solche mit den kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen ihrer beiden Heimatländer - Israel und Deutschland - bestens vertraut. In jüngster Zeit ist sie auch publizistisch tätig. Rachel Grünberger ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Söhnen.

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