“Ich bin ein israelischer Siedler”

1
Die Sonne über Efrat. Foto Yair Aronshtam, CC BY-SA 2.0, Wikimedia Commons.
Die Sonne über Efrat. Foto Yair Aronshtam, CC BY-SA 2.0, Wikimedia Commons.
Lesezeit: 5 Minuten

Es gibt diese Geschichte, in der sieben blinde Männer gebeten wurden, einen Elefanten zu beschreiben. Einen Mann stellte man neben den Rüssel, einen zu einem Stosszahn, einen weiteren an den Schwanz und so weiter. Jeder Blinde beschrieb den Elefanten anders – und jeder war davon überzeugt, dass seine Beschreibung richtig war.

von Yona Seif

Viele Menschen – vielleicht sogar die meisten – gehen bereitwillig davon aus, dass ihre eigene begrenzte Wahrnehmung der Welt eine genaue Beschreibung der Realität ist. Sie stecken andere Personen gerne in Schubladen, die sie schon kennen. Diese Schubladen sind für gewöhnlich sehr beschränkt, sodass nur äusserst selten der sprichwörtliche Elefant in seiner Gesamtheit hineinpasst.

Ich erwähne das alles, weil ich das Etikett „Siedler“ erhalten könnte. Dieses Schild haftet an mir, weil ich in einer Gemeinde lebe, die aufgrund ihres geografischen Standorts von vielen als „Siedlung“ betrachtet wird. Wenn ich erst einmal auf diese Weise eingeordnet bin, werde ich in eine kleine Schublade voller Annahmen gesteckt. Diese basieren auf der eingeschränkten Perspektive des „Betrachters“, je nachdem an welchem Körperteil des Elefanten er platziert wurde.

Annahmen führen häufig zu Schlussfolgerungen und Entscheidungen. Für viele Menschen ist ein Thema abgehakt, sobald sie ein solches Schlussfolgerung entwickelt haben – ganz nach dem Motto: „Ich habe mich entschieden, die Fakten interessieren mich jetzt nicht mehr.“ In der heutigen komplexen Gesellschaft werden die meisten Menschen mit Informationen überflutet. In Situationen, die sie nicht direkt betreffen, schaffen sie es nicht, sich die Fakten zu überprüfen. Sie verlassen sich vielmehr auf zahlreiche „Berichte“ von denen sie annehmen, dass sie wahr sind.

Sobald ich in diese „Siedler-Schublade“ voller Annahmen gesteckt wurde, werden viele Personen auf dieser Welt sicher sein, dass ich einem bestimmten, sehr begrenzten Profil entspreche. Mit diesem Text möchte ich versuchen, aus der kleinen Schublade auszubrechen, in die mich viele Menschen stecken wollen.

Viele der Vorurteile, die diesen engen Raum füllen, können mit Schlagwörtern wie „Rassist“, „Faschist“, „Apartheid-Unterstützer“, „Besatzer“, „Menschenrechtsgegner“ usw. umschrieben werden. Sobald man mich anhand meiner Anschrift als „Siedler“ identifiziert hat, folgen die anderen Bezeichnungen wie von selbst. Wie ich bereits erwähnte, haben viele Menschen nicht genug Zeit und/oder Lust, um sich mit den Tatsachen auseinanderzusetzen.

“Ich lade jeden ein sich die existierenden Beziehungen anzusehen”

Um die Wahrheit zu erfahren – und nicht einfach nur das zu glauben, was ich sage – müssten sie sich mit mir und meinen palästinensisch-arabischen Nachbarn treffen. Ich lade jeden, der dies tun möchte, dazu ein, sich die existierenden Beziehungen anzusehen, die all die zuvor genannten Bezeichnungen nichtig machen. Meine Einladung ist echt und aufrichtig, obwohl sie für die meisten Interessierten wahrscheinlich eher nicht umsetzbar ist.

Ich habe es in der Vergangenheit schon oft beobachtet: Besucher kamen zu mir und wollten erfahren, wie es hier wirklich ist. Aber fast alle von ihnen suchten nur nach einer Bestätigung dessen, was sie bereits für selbstverständlich hielten. Sobald sie merkten, dass die „Tatsachen“ nicht zu ihren Vermutungen passten, verschwanden sie wieder – und ich hörte nie wieder ein Wort von ihnen.

Ich bin ein 74 Jahre alter Mann. Ich wurde in den USA geboren, erhielt dort meine Ausbildung und betrachtete mich für den Grossteil meines Lebens als liberalen Menschen. 1966 emigrierte ich in einen Kibbuz in Israel, eine vollkommen sozialistische Gesellschaft. Ich verliess den Kibbuz im Jahr 1971, doch der Kibbuz verliess mich nie. Ich glaube stark an soziale Gerechtigkeit. Obwohl das Leben aus mir einen „kapitalistischen Unternehmer“ und einen „Siedler“ machte, sind meine Ansichten und mein Verhalten gleich geblieben.

Zu den Vermutungen, die die Schubladen ausmachen, in die ich nach Ansicht vieler Menschen passe, gehört, dass wir „Siedler“ – oder zumindest die meisten von uns – unsere arabischen Nachbarn hassen und unterdrücken. Auf der anderen Seite wird wiederum angenommen, dass die meisten Araber in unserem Umfeld sich von uns unterdrückt fühlen und uns deshalb hassen. Mir ist bewusst, dass ich anhand meiner persönlichen Erfahrungen nichts verallgemeinern kann (genauso wie ich glaube, dass andere nichts verallgemeinern sollten, wenn sie nur einen kleinen Teil des grossen Ganzen sehen können – man denke zurück an die Blinden und den Elefanten-Effekt). Gemäss meiner persönlichen Erfahrung, die auf einem mehr als 30-jährigen intensiven persönlichen Kontakt zu unseren arabischen Nachbarn basiert, entspricht jedoch meist genau dem Gegenteil der Wahrheit.

Obwohl ich ein Mann bin, sind die meisten meiner engen Freunde weiblich (meine Frau weiss das und akzeptiert es). Mein engster männlicher Vertrauter ist ein arabischer Nachbar, den ich seit etwa 30 Jahren als guten Freund bezeichnen kann. Er behauptet, die meisten anderen Araber – einschliesslich der Bewohner des Flüchtlingslagers, in dem er zur Welt kam und aufwuchs – würden lieber in Frieden Seite an Seite mit uns zusammenleben, als uns, egal wohin, zu vertreiben.

Aus diesem Grund weigere ich mich, dass man mich in eine Schublade steckt, die mich anhand meiner selbst gewählten Heimat stereotypisiert.

“Niemand passt in eine vorgefertigte Schublade”

Deshalb bitte ich Sie, mich auch nicht in irgendeine Schublade zu stecken. Ich passe einfach nicht hinein. Und die Wahrheit ist: Niemand passt in eine vorgefertigte Schublade. Bin ich eine Ausnahme, was diese vorgefassten Charakteristika betrifft? Meiner Erfahrung nach – obwohl diese genauso eingeschränkt ist wie die aller anderen – gibt es noch viele andere wie mich. Es gibt jedoch auch Personen, die in genau diese Schubladen passen – doch selbst sie sind nicht vollkommen gleich.

Ich bin davon überzeugt, dass hier eine friedliche Lösung gefunden werden kann – und zwar in einem viel grösseren Umfang als der de-facto-Frieden, der hier seit 50 Jahren herrscht. Und ich bin ebenfalls davon überzeugt, dass wir hier noch keinen „offiziellen“ Frieden geschaffen haben, weil die meisten Menschen am falschen Ort nach einer Lösung suchen.

Yona Seif lebt in Efrat in der Region Gush Etzyon, südlich von Jerusalem. Gemeinsam mit seiner Frau Anita, haben sie 5 Kinder, 13 Enkelkinder und 3 Urenkelkinder. Yona Seif und seine Frau Anita gehören zu den Gründern der Gemeinde, die heute über 10.000 Einwohner zählt.

1 Kommentar

  1. Ein schöner Bericht von Yona Seif. Er zeigt auf eindrückliche Weise, dass die Annahme, Siedler seien böse und rassistisch, ein bösartiges Vorurteil ist. Fast alle schimpfen über die „Siedler“, niemand macht sich die Mühe, deren Position überhaupt auch nur anzuhören. Immer sofort tönen, wie schlimm „die“ sind und zugleich von der eigenen Fairness zutiefst überzeugt sein – das zeichnet die Israelkritiker ebenso aus wie die Siedlerkritiker.

    Denkfaulheit und Dummheit sind keine Entschuldigungen für üble Nachrede und noch weniger für Rechtfertigungen von Verbrechen und Anschlägen gegen die sogenannten Siedler.

Kommentarfunktion ist geschlossen.