Nach 50 Jahren – Bisher unveröffentlichtes Material zum Sechstagekrieg freigegeben

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Yitzhak Rabin und Mosche Dajan in Jerusalem. Foto IDF Archiv
Yitzhak Rabin und Mosche Dajan in Jerusalem. Foto IDF Archiv
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Kurz vor dem 50. Jahrestag des Sechstagekrieges hat das Israelische Staatsarchiv, jahrelang gesperrtes Material der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Im Gespräch mit Audiatur-Online erklärt der israelische Staatsarchivar Dr. Yaacov Lozowick um was für Dokumente es sich handelt und ob deren Veröffentlichung politischen Folgen haben könnte.

Es wurden insgesamt 36 aufgezeichnete Sitzungen des Ministerausschusses für nationale Sicherheit vom Januar bis Juli 1967, Kabinettsprotokolle und Dokumente über den Krieg aus verschiedenen Ministerien, sowie viele Audio- und Videodateien, Fotografien und Materialien aus persönlichen Archiven veröffentlicht.

Alle Materialien können auf der Website „Six Day War Collection“ des israelischen Staatsarchivs unter http://www.archives.gov.il/de/p1967 gefunden werden.

Audiatur-Online konnte dem israelischen Staatsarchivar Dr. Yaacov Lozowick anlässlich der Freischaltung der Website einige Fragen stellen:

Audiatur-Online: Was beinhaltet diese Sammlung?

Dr. Yaacov Lozowick: Es sind über 150’000 Dokumente aus drei verschiedenen Beständen. Aus dem Aussenministerium, dem Sicherheitskabinett und Dokumente des damaligen Spitzenpolitikers Aviad Yafe, der die ganzen Geschehnisse protokollierte.

Warum war die Sammlung bisher überhaupt unter Verschluss?

Die Dokumente des Sicherheitskabinetts müssen von Gesetzes wegen für 50 Jahre unter Verschluss bleiben. Bei den anderen Dokumenten sind wir im Staatsarchiv bisher ganz einfach nicht dazu gekommen diese zu bearbeiten.

Gibt es Pläne, diese Sammlung in andere Sprachen zu übersetzen?

Nein, wir haben im Archiv ja Millionen von Dokumenten, die wir nicht alle übersetzen können. Es ist aber ein Projekt in Planung, in welchem wir innerhalb von 2-3 Jahren, die Überschriften der Akten übersetzen werden. So können Interessierte immerhin entscheiden, ob sich für sie der Aufwand lohnt, eine Akte übersetzen zu lassen.

Bei der Sammlung des Sicherheitskabinetts habe ich ausnahmsweise beim durchlesen der 36 Protokolle selber einen kurzen Abriss des Inhaltes geschrieben. Die Protokolle umfassen die Zeit von Januar 1967 bis Ende Juli 1967, und da das Kabinett in dieser Zeitperiode zu 36 Sitzungen einberufen wurde, gibt es 36 Protokolle. Meiner Meinung nach ist das der interessanteste und wichtigste Teil der heute veröffentlichten Sammlung. Das Summary ist unter folgendem Link abrufbar:: http://www.archives.gov.il/en/chapter/summary1

Wird diese Sammlung neue Einsichten bringen, die eventuell auch die sehr positive Sichtweise der Israelis zum Sechstagekrieg und dem fast übernatürlichen Sieg ändern wird?

Das sind eigentlich zwei Fragen. Zur ersten über die neuen Einblicke: Es wird keine weltbewegenden Neuigkeiten geben, von denen wir nichts wussten. Aber trotzdem: Wenn man diese Protokolle liest, wird uns vor Augen geführt, was wir eigentlich schon glaubten zu wissen, nämlich dass Mosche Dajan (israelischer General und Politiker, Anm.d. Red.) sozusagen den Sechstagekrieg alleine geführt hat. Wir können zwar nicht einsehen, was zwischen den Sitzungen geschah – vielleicht beriet er sich mit dem Militär – aber trotzdem, den Protokollen nach führte er den Krieg. Im Übrigen erhellen diese Dokumente bestehendes Wissen und füllen kleine Lücken aus.

Was die Dokumente klar aufzeigen ist, dass die israelische Regierung nie vorhatte, Ostjerusalem zu befreien, nie plante die Westbank einzunehmen, den Suez-Kanal zu erreichen oder den Golan zu besetzen. Diese Ereignisse waren Resultate der täglichen Kämpfe, und Dajan entschied sich dazu in der Zeit zwischen den Kabinettssitzungen, in Reaktion auf dem Geschehen im Feld.

Zur zweiten Frage nach der Wahrnehmung des Sieges: Sie sehen das falsch. Die israelische Öffentlichkeit sieht diesen Krieg gar nicht mit rosigen Augen, vor allem wegen den politischen Folgen in den Jahren danach. Der Krieg hat der israelischen Gesellschaft eine schwere Bürde aufgeladen. Aber die Dokumente werden den Israelis schwarz auf weiss vorführen, wie sehr der Sieg damals ein Wunder war, und dies wiederum wird dem Kontext der heutigen Situation den verdienten – weil auf Fakten basierten – Rahmen geben.

Können Sie sich vorstellen, dass die Veröffentlichung politische Folgen – vielleicht auch in der Zukunft – mit sich bringen wird?

Das glaube ich nicht.

Sehen Sie irgendwelche Implikationen dieser Dokumente im andauernden diplomatischen Krieg zwischen Israel und der Internationalen Gemeinschaft? Ist das Ziel der Veröffentlichung sogar im PR-Bereich Israels zu finden?

Es geht nicht um PR, aber diese Dokumente dienen sowohl den Israelis als auch dem Ausland als eine Erinnerung, in welcher Situation Israel vor dem Sechstagekrieg war. Ohne irgendeinen Bezug zu „besetzten Gebieten“ – denn es gab diese ja nicht vor 1967 – war Israel fast täglich tödlichen Attacken ausgeliefert. Die Syrer beschossen israelische Landwirte und andere Zivilisten, die Palästinenser unter der Anleitung von Syrien und anderen arabischen Staaten sabotierten israelische Einrichtungen und legten Landminen in israelischen Landteilen. Dies hatte nichts mit der Situation der Palästinenser in den besetzten Gebieten zu tun – ich wiederhole – es gab sie nicht. Wir müssen uns daran erinnern, wie virulent der Hass und wie rigide die Nicht-Akzeptanz des Existenzrechtes Israels durch die Araber war, in keiner Verbindung zur Grünen Linie, der Westbank oder Gaza. Die Politiker und auch die Israelischen Bürger tendieren dazu, all das zu vergessen. In diesen Dokumenten können sie nachlesen, unter welchem täglichen Beschuss die israelische Bevölkerung war, im Januar, Februar, März und April 1967, und zwar ohne Bezug zur „Besetzung“.

Altstadt von Jerusalem am 10. Juni 1967. Foto Staatsarchiv Israel.
Altstadt von Jerusalem am 10. Juni 1967. Foto Staatsarchiv Israel.

Es ist heute schwer sich vorzustellen, unter welcher existenziellen Bedrohung Israel damals war. Nicht nur, dass es von rundherum bedroht wurde, aber Israel hatte auch keinen Partner, auf den es sich verlassen konnte, falls ihm Waffen oder Panzer ausgingen. Ausser vielleicht kurz 1973, war Israel nie wieder in einer solch desolaten Situation wie damals1967.

Die Dokumente zeigen die erschreckende Verwundbarkeit von Israel damals: Erstens wegen der ungenügenden Bewaffnung, zweitens aus Mangel an Rückendeckung von einem Partner, und drittens wegen der nicht zu verteidigenden Grenzen, von denen die Feinde Israel umzingelten und zu erwürgen drohten. Ihre Absichten waren über alle  Zweifel erhaben – die vollkommene Zerstörung Israels.

„Israel vorher war verwundbar bis zur vollkommenen Schutzlosigkeit, Israel danach nicht mehr.“

Die internationale Gemeinschaft von 2017 kann sich nicht vorstellen, wie nahe Israel damals einer Zerstörung war. Diese Dokumente sollten gelesen werden, wenn von Israel gefordert wird, sich wieder an jene Grenzen zurückzuziehen, von wo aus sie damals fast ihrem Ende zu ausgeliefert war. Der Hass der arabischen Welt hat sich nicht geändert, auch wenn es aus Pragmatismus Annäherungen da und dort gibt.

Für Israel war aber 1967 ein Wendepunkt: Israel vorher war verwundbar bis zur vollkommenen Schutzlosigkeit, Israel danach nicht mehr. Nach dem Krieg wurde Israel zusehends zur regionalen Macht, mit Grenzen, die man besser verteidigen konnte. Mit den USA die Waffen lieferte und einer Wirtschaft die rasant anstieg. Wie gesagt: Für uns heute ist es nicht vorstellbar, wie das Israel vor dem Krieg 1967 aussah.

Können Sie uns von einem Dokument erzählen, welches Sie besonders beeindruckt hat?

Es ist schwierig, ein Einzelnes auszusuchen. Aber ich gebe Ihnen ein Beispiel: Am 6. Juni 1967, am Vorabend des zweiten Kriegstages, hatten die israelischen Streitkräfte bereits einen Teil von Jerusalem eingenommen, aber nicht die Altstadt mit der Klagemauer. Menachem Begin (israelischer Politiker und Minster, Anm.d.Red.) richtete einen leidenschaftlichen Appell an die Regierung, dass die Altstadt sofort befreit werden sollte – nicht erobert, sondern befreit. Er befürchtete, dass die UNO einen Waffenstillstand anordnen würde. Er wollte ein Zeichen setzen, das die Befreiung ein grosses und bedeutungsvolles Ereignis sei. Er schlug vor, eine Delegation bestehend aus dem Premierminister, dem Präsidenten, dem Oberrabbinat und der Regierung solle am folgenden Tag zur Klagemauer schreiten. Doch Dajan stemmte sich dagegen, und daher fand es auch nicht in dieser Form statt. Es ist sehr beeindruckend über dieses Ereignis zu lesen.

 

2 Kommentare

  1. Dayan – habe ich gelesen – war an religiösen Fragen nicht interessiert. So hat er als ein Akt des Entgegenkommens die Verwaltung des Tempelberges der jordanischen Waqf-Behörde überlassen. Mit den bekannten Folgen: restriktiver Zugang (im Gegensatz zur Klagemauer), Pöbeleien und mehr seitens der Muslim, wenn Juden den Tempelberg begehen.

  2. Danke, audiatur,
    für diesen Artikel.
    Ein Juwel an Artikel, etwas ganz Besonderes und Wertvolles!
    Dieser Artikel mit den Videos bringt einem diese Zeit und die Gefahren
    sehr nahe, bringt nahe,
    dass die relativ gute Zeit von heute keine Selbstverständlichkeit ist.

    Am liebsten möchte man mit Dr. Lazovik einige Monate im Archiv verbringen
    und sich an den dortigen Schätzen laben:
    was für ein Vorrecht, dort arbeiten zu dürfen!

    Aber selbstverständlich musste auch jemand da sein,
    der uns dieses Archiv nahebringt – audiatur eben.
    Dafür vielen herzlichen Dank!

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