Italiens Rabbiner und die Kontroverse mit der italienischen Bibelvereinigung

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Symbolbild. Foto CC0 Public Domain
Symbolbild. Foto CC0 Public Domain
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Die Associazione Biblica Italiana (ABI) – in der ca. 800 Bibelwissenschaftler und Professoren organisiert sind und die von der CEI, der italienischen Bischofskonferenz anerkannt ist – hat für September ein Kolloquium angesetzt, dessen Titel und Aussendarstellung beim italienischen Rabbinat Empörung verursacht hat. Der ursprüngliche Titel, der mittlerweile geändert wurde, lautete nämlich: “Das Volk eines eifersüchtigen Gottes (2. Mose 34,14): Zusammenhang und Ambivalenz einer elitären Religion”. Die Formulierung “elitäre Religion” wurde gestrichen, der Titel lautet nun: “Das Volk eines eifersüchtigen Gottes (2. Mose 34,14): Zusammenhang und Ambivalenz der Religion des alten Israel”.

von Lisa Palmieri-Billig

Nach den Protesten der italienischen Rabbis ebenfalls gestrichen und ersetzt wurde die ursprüngliche Einleitung auf der Website der ABI. Die pointierteste und detaillierteste Stellungnahme unter den Protesten stammt von Giuseppe Laras, dem renommierten ehemaligen Präsidenten der Italienischen Rabbinischen Versammlung und ehemaligen obersten Rabbiner von Mailand, der u.a. für seinen Einsatz für den interreligiösen Dialog bekannt ist, an den er glaubt, und für seine jahrelange Beteiligung an öffentlichen theologischen Diskussionen mit dem früheren Kardinal von Mailand, Carlo Maria Martini, der sich zu seinen Lebzeiten sehr um die katholisch-jüdischen Beziehungen gekümmert hat.

In der nun gestrichenen ersten Fassung der Einleitung wurden einige verblüffende Äusserungen als Tatsachen präsentiert; nicht als Hypothesen, die noch zu beweisen wären, sondern als etwas, das sich von selbst versteht und darum nicht bewiesen zu werden braucht, wie es eine wissenschaftliche Arbeitsweise erfordern würde.

Da hiess es: “Die Wahl des Themas dieses Kolloquiums ist, ganz anders als sonst, von dem derzeitigen Ausblick auf die Rückkehr einer Religion mit absolutistischen und intoleranten Akzenten inspiriert. … Dies mag für den modernen kritischen Geist, durch den die traditionelle Religion weiterentwickelt und bereichert worden ist, eine Niederlage darstellen und wirft das Problem auf, dass wir die möglichen Wurzeln einer Religion, deren Struktur Phänomene entspringen können, die man als entartet betrachten kann, aufmerksam beobachten müssen. … Wir haben uns entschieden, mit einer Hypothese zu eröffnen: Am Anfang steht ein Prozess, durch den JHWH allmählich von einer untergeordneten Gottheit … zur alleinigen Gottheit eines Volkes wird, das auf eine elitäre Art und Weise glaubt, sein einziger Besitz zu sein.” Und weiter: “…ein Volk, das auf eine elitäre Art glaubt, zu einer einzigartigen Gottheit zu gehören, hat ein Gefühl der Überlegenheit seiner Religion und wird dazu verleitet, trennende Grenzen zu anderen Völkern zu ziehen. …”

Die “Ambivalenz”, die im Titel erwähnt wird, ist die Koexistenz von Partikularismus und Universalismus in der “Religion des alten Israel” (ohne, dass auf den heutigen Judaismus Bezug genommen würde), und die Ambiguität einer Koexistenz eines “eifersüchtigen Gottes” und der Möglichkeit freier Entscheidung.

In der Einleitung heisst es, man wolle “den Eindruck vermeiden, die Religion des Alten Testaments in ein negatives Licht zu rücken. Die Absicht ist vielmehr, nützliche Elemente zur Verfügung zu stellen, mit denen sich die Problematik verifizieren lässt, die daraus entsteht, dass diese Religion in anderen religiösen Systemen wiederauftaucht und herauszufinden, ob diese Ambiguität nur den Texten des Alten Testaments eigen ist oder ob man sie auch in den Deutungen späterer Traditionen findet.”

Man kann daraus schliessen, dass es die Absicht ist, herauszufinden (oder gar zu beweisen?), dass die “alte” jüdische Religion, wie sie in den Texten der jüdischen Bibel zum Ausdruck kommt, innerhalb des Judaismus zu Fundamentalismus führt und zudem die Basis für christlichen und vor allem islamischen Fundamentalismus bildet.

Die erste und wichtigste Bobachtung sollte sein, dass diese Texte auf Hebräisch und Aramäisch niedergeschrieben wurden, Sprachen, in denen jedes Wort unterschiedliche Bedeutungen verkörpert und dass die praktizierte jüdische Religion auf den verschiedenen Kommentaren beruht, die Rabbiner über die Jahrhunderte hinweg in ihren Studien gemacht haben und in denen sie verschiedene Gesichtspunkte diskutierten, die immer wieder neue Deutungen hervorbrachten. Bibelgelehrte, die sich nicht darüber im Klaren sind, dass diese Methode schon ihrer Natur nach antifundamentalistisch und antiabsolutistisch ist und dass die jüdische Methode, immer neue Varianten göttlicher Wahrheiten zu suchen, in jeder Generation zu immer neuen Zweifeln und neuerlichen Nachforschungen führt, haben das Wesen der Religion, die sie studieren wollen, nicht verstanden.

Das geplante Kolloquium nennt sich “wissenschaftlich”; Bibelstudien können jedoch nicht in einem Vakuum der Spezialisierung unternommen werden und dabei immer noch für sich in Anspruch nehmen, wissenschaftlich zu sein. Interdisziplinäre Forschung (wie etwa theologische, linguistische, anthropologische usw.) und der historische Kontext sind von grösster Bedeutung. In den vergangenen Jahrhunderten war die katholische Erforschung der jüdischen Religion stark voreingenommen; sie basierte auf theologischen Vorurteilen und dem “Lehren von Verachtung”: Der absurde Vorwurf des “Gottesmords” (der erst 1965 auf dem zweiten vatikanischen Konzil durch das vierte Dokument der Erklärung Nostra Aetate aus den Lehren der Kirche verbannt wurde) verstärkte den Antisemitismus und hatte Verfolgungen, Pogrome und eine Atmosphäre des Hasses zur Folge, die zur Shoah beitrug. Ohne eine historische Perspektive, die Licht auf die veränderlichen Bedeutungen und Interpretationen von Religion im Wandel der Zeiten wirft, stochern wir im Nebel und gelangen zu verleumderischen Schlussfolgerungen.

Rabbiner Giuseppe Laras. Foto Screenshot Vimeo.com
Rabbiner Giuseppe Laras. Foto Screenshot Vimeo.com

Doch im letzten halben Jahrhundert hat die katholische Kirche Schriften veröffentlicht, die für Studienzwecke unschätzbar wertvoll sind; sie sollten zur Hand genommen, erinnert, studiert und angewandt werden, um Konflikte zu vermeiden, wie sie der Entwurf zum ABI-Kolloquium in Venedig heraufbeschworen hat. Die im Zuge des zweiten vatikanischen Konzils veröffentlichten Dokumente der Kommission für religiöse Beziehungen zu den Juden, die auf Nostra Aetate basieren, sind weitgehend das Ergebnis des fortgeführten Dialogs zwischen katholischen und jüdischen Vertretern des Internationalen Katholisch-Jüdischen Liaisonkomitees. Sie erteilen konkrete Ratschläge, die, würden sie so umgesetzt, wie sie gemeint sind, dazu führen würden, dass dieses Kolloquium von Grund auf neu konzipiert würde – höchst wertvolle Werkzeuge im Kampf gegen den theologischen Antisemitismus, der in jeder Generation aufs Neue hochkommt, wenn das Evangelium und die Kirchenlehre nicht in ihren historischen Zusammenhang gestellt werden.

In Rabbi Laras’ umfassender Analyse dessen, was er einen Rückschritt im jüdisch-katholischen Dialog und eine traurigerweise verminderte Sensitivität gegenüber dem theologischen Antisemitismus nennt, wie er in der Beschreibung des ABI-Kolloquiums zum Ausdruck kommt, weist er auch darauf hin, dass die Predigten von Papst Franziskus den sehr wichtigen Rat ignorieren, der in den von der Päpstlichen Kommission für religiöse Beziehungen zu den Juden erstellten Dokumenten enthalten ist.

Laras bezieht sich auf “das Wiederaufleben der alten Polarität zwischen der Moral und Theologie der hebräischen Bibel und dem Pharisäertum einerseits und Jesus von Nazareth und dem Evangelium andererseits”, von dem Franziskus sprach, um die Heuchelei in der heutigen Gesellschaft und der Kirche anzuprangern. Dies ist ein heikles Thema, da Franziskus im Allgemeinen vom jüdischen Volk grosse Anerkennung gezollt wird. Jüdische Vertreter und Freunde, die es hassen, ihn zu kritisieren, haben ihn trotzdem bei unterschiedlichen Anlässen auf diese Problematik aufmerksam gemacht – doch offenbar begreift er nicht den Schaden, den solche Predigten anrichten können.

Rabbi Laras schreibt: ““Ich weiss sehr gut, dass die offiziellen Dokumente der katholischen Kirche einen Punkt markieren sollen, von dem aus es kein zurück gibt. Was für eine Schande, dass die Predigten des Papstes ihnen täglich widersprechen, der just diese alte, unverbesserliche Struktur und ihre Äusserungen benutzt und damit den Gehalt der genannten Dokumente zersetzt.”

“Auge um Auge, Zahn um Zahn”

“Man muss nur an das Gesetz ‘Auge um Auge, Zahn um Zahn’ erinnern, das der Papst kürzlich unbedacht und fälschlich zitiert hat. Schon vor Jahrtausenden und auch zur Zeit Jesu hat der Judaismus dadurch das Prinzip des Schadenersatzes an die Stelle von Vergeltung gesetzt; die schuldige Partei musste für das aufkommen, was man heute als Schaden bezeichnen würde, sowohl für körperlichen als auch für seelischen Schaden. Und all das Jahrhunderte bevor das hochzivilisierte (christliche?) Europa sich dieses Themas annehmen sollte. War nicht auf christlicher Seite das, was man das Gesetz ‘Auge um Auge, Zahn um Zahn’ nennt, über Jahrhunderte eine Waffe des Antijudaismus, mit einer klar umrissenen eigenen Botschaft?”

Die Dokumente des Vatikans über die katholisch-jüdischen Beziehungen hingegen sind tatsächlich eine Schatztruhe mit Richtlinien für Prinzipien eines erfolgreichen Dialogs.

Die Einleitung zu den “Anmerkungen über den richtigen Weg, den Judaismus in Lehren und Predigten darzustellen” von 1985 bezieht sich einmal mehr auf die wichtige Anweisung aus den 1974 erschienenen “Richtlinien und Vorschlägen zur Umsetzung der Erklärung Nostra Aetate”, die “versuchte, die wesentliche Bedingung eines Dialogs zu definieren: ‘Respekt gegenüber dem anderen, wie er ist’, Kenntnis der ‘wesentlichen Komponenten der religiösen Traditionen des Judaismus’ und das Wissen darüber, “was die wesentlichen Züge dessen sind, wie die Juden sich selbst im Licht ihrer eigenen religiösen Erfahrung definieren’ …” “Bewusstsein des Glaubens und des religiösen Lebens des jüdischen Volkes, wie beides heute gelehrt und praktiziert wird, kann uns sehr dabei helfen, bestimmte Aspekte des Kirchenlebens besser zu verstehen”, heisst es darin.

Kapitel III des “Richtlinien”-Dokuments über “Lehre und Bildung” zählt eine Reihe von praktischen Dingen auf, die zu tun sind, darunter dieser Rat:

“Über diese Fragen Bescheid zu wissen, ist auf allen Ebenen des christlichen Unterrichts und der Bildung wichtig. Unter den Informationsquellen sollte insbesondere den folgenden besondere Beachtung zuteil werden: Katechismen und religiöse Lehrbücher; Geschichtsbücher; die Massenmedien (Zeitungen, Radio, Kino, Fernsehen).” (Man könnte hinzufügen: “und Bibelkolloquien”!)

“Die effektive Nutzung dieser Mittel setzt eine gründliche Ausbildung der Lehrenden in Schulen, Seminaren und Universitäten voraus”  (AAS 77, 1975, S. 73)”, heisst es weiter.

Es ist interessant und bedeutsam, was dann gesagt wird: “Die folgenden Absätze sollen diesem Zweck dienen. Die Einzigartikeit des Volkes des Alten Testaments ist nicht ausschliessend, sondern in der göttlichen Vision offen für eine universelle Ausweitung. Die Einzigartigkeit des jüdischen Volkes soll die Kraft eines Beispiels haben.” (Fettdruck d. Autors)

Die letzte Äusserung ist für unsere Diskussion von besonderer Bedeutung, da bestimmte Schlüsselkonzepte wie die “Erwähltheit” des jüdischen Volkes so häufig missverstanden werden. Die wahre religiöse Bedeutung dieses Begriffs enthält keinen Zustand der “Überlegenheit” oder des Privilegs (wie uns die ursprüngliche Einleitung zu dem Kolloquium glauben lässt, in der es heisst, “von sich selbst als einem Volk zu denken, das auf eine elitäre Art zu einer einzigartigen Gottheit gehört, hat zu einem Gefühl der Überlegenheit der eigenen Religion geführt”, was möglichen fundamentalistischen, absolutistischen Tendenzen die Türen öffne. 

“Erwählt” zu sein enthält im jüdischen Selbstverständnis die Pflicht, um der ganzen Menschheit willen ein Beispiel zu setzen. Wie es in dem Dokument des Vatikan gut zum Ausdruck gebracht wird, bringt die “Einzigartigkeit” des jüdischen Volkes eine Mission der Universalität mit sich.

Das Vatikan-Dokument erwähnt zudem: “und schliesslich wäre Arbeit von schlechter Qualität und mangelnder Präzision extrem schädlich” für den jüdisch-christlichen Dialog (Johannes Paul II., Rede am 6. März 1982). Doch da wir von Lehre und Bildung reden, wäre es vor allem schädlich für die christliche Identität”.

In einem von der Tageszeitung “Avvenire” veröffentlichten Interview erklärte der Präsident der ABI,  Professor Luca Mazzinghi, der Titel des Kolloquiums beziehe sich auf “eine zugrunde liegende Ambivalenz, das Verhältnis zwischen dem eifersüchtigen Gott und der menschlichen Freiheit. Es ist eine Ambivalenz, die tatsächlich jedem System von Religion innewohnt, auch dem Christentum (womit wir uns in unserer zweiten Konferenz beschäftigen).”

Anschuldigungen, das Konferenzprogramm drücke antisemitische Haltungen aus, wies er vehement zurück: “Die Tatsache, dass einige das Hauptthema der Konferenz als antijüdisch interpretiert haben, läuft allen unseren Absichten zuwider. Ich sage dies mit grossem Nachdruck. In unserem Verband hat es nie irgendeinen Schatten von Antisemitismus gegeben, den wir aufs Schärfste ablehnen. Ich füge hinzu, dass viele unserer Mitglieder persönlich am jüdisch-christlichen Dialog teilhaben. Ich persönlich habe als Christ meine Studenten stets Liebe zum jüdischen Volk und seinen Schriften gelehrt.”

Was heutzutage vielleicht am dringendsten nötig ist, ist, das Wissen über die christlich-jüdische Geschichte aufzufrischen und Seminaristen, Universitätsstudenten und Lehrer die relevanten Dokumente ins Gedächtnis zu rufen.

Lisa Palmieri-Billig ist Vertreterin des AJC – American Jewish Committee in Italien und beim Apostolischen Stuhl. Auf Englisch zuerst erschienen bei Vatican Insider/La Stampa.

2 Kommentare

  1. Kommisch, die lesen, studieren, diskutieren seit 2000 Jahre und keiner praktiziert. Wer sagt den Menschen, dass sie Gott sind und alle Wunder geschehen in Balance der Gedanken. Dafür waren die Praktiker über tausende Jahre verfolgt und sind es immer noch.

  2. Was soll man aus katholischer Sicht dazu sagen? Beim Blick nach Rom herrscht auch auf der katholischen Seite Schockstarre, jedenfalls in großen Teilen. Vielleicht liegen hier wirklich missratene oder missverständliche Aussagen vor. Aber warum bezieht man nicht jüdische Fachleute in eine solche Konferenz mit ein? Nachdem man sich oft fragt, ob der derzeitige Papst eher Agnostiker sei, Relativierer aus Überzeugung oder dem Islam zugeneigt – jetzt auch noch das. Dabei wäre ein Dialog mit dem Judentum möglich, interessant und nützlich für den Frieden. Wohingegen der ständig von beiden Seiten geforderte Dialog mit dem Islam mangels Stoff nicht stattfindet.

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