Im Zuge meiner Tätigkeit für die Cape Beth Din in Südafrika musste ich gemeinsam mit meinen Amtskollegen Schlachthäuser besuchen und die Schochtim (Schächter) überprüfen. Das koschere Schlachthaus von Kapstadt ist Teil eines allgemeinen Schlachthauskomplexes, so dass ich mir die Tötung der Tiere an beiden Stätten ansehen konnte. Was ich dabei sah, hat mich davon überzeugt, dass das nicht-koschere Schlachten zwar schneller und „ästhetischer” vonstattengehen mag, es dem eigenen Anspruch, die tierschonendere Vorgehensweise zu sein, jedoch nicht gerecht wird.
von Rabbi David Rosen
Im nicht-koscheren Schlachthaus werden Kühe und Schafe gruppenweise rasch in die Schlachtstrasse getrieben. Dort schlägt ihnen ein Arbeiter die von der Decke hängenden Elektroden gegen den Kopf. (Dies galt als die humanste Schlachtmethode. Ebenfalls üblich war der Einsatz von Schlachtäxten). Dennoch war deutlich ersichtlich, dass aufgrund der Geschwindigkeit, in der die Tiere die Schlachtstrasse durchliefen, die Tötung durch Stromschlag nicht immer erfolgreich vollzogen wurde, bevor die Tiere aufgehängt und schliesslich unter Schmerzen getötet wurden. Die koschere Schlachtung verlief langsamer, und der Schächter „kümmerte sich persönlich“ um die einzelnen Kühe oder Schafe. Dabei stellte er sicher, dass sein mit einer einzigen schnellen Bewegung geführtes Messer Luft- und Speiseröhre durchtrennte, so dass das Tier sofort starb. Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass die koschere Schlachtung deutlich humaner (wenn auch weniger „ästhetisch”) als die nicht-koschere ist – und während meiner Zuständigkeit für alle koscheren Schlachtungen als Oberrabbiner in Irland hat sich meine Überzeugung noch vertieft.
Diese Erfahrungen verschafften mir jedoch auch Kenntnis von anderen Faktoren in Zusammenhang mit dem letztendlich zur Schlachtung führendem Viehhandel, deren Auswirkungen mir im Laufe der Jahre immer bewusster wurden.
Die moderne Massentierhaltung führt nicht nur zu früher unvorstellbaren Viehbeständen, sondern auch zu Bedingungen und einem Umgang mit den Tieren, aufgrund derer der Verzehr dieser Geschöpfe für religiös lebende Juden in der Vergangenheit nach jüdischen Gesetzen verboten gewesen wäre.
Einige der höchsten halachischen Autoritäten jüngerer Zeit, wie etwa Rabbi Moshe Feinstein oder Rabbi Haim David Halevy, beide in seligem Angedenken, erklärten den Verzehr von Foie gras (Gänsestopfleber) und Kalb (dem blassen Fleisch von Kälbern, denen Tageslicht und Bewegung verwehrt wurden) für unzulässig, da ihre Erzeugung auf ungeheuerliche Weise das jüdische Prinzip des Tierschutzes (Tza’ar Ba’alei Chayim) umgeht, laut dem Grausamkeiten gegenüber Tieren, die nicht wesentlich für den menschlichen Verzehr sind, zu vermeiden sind.
Lassen wir für einen Augenblick die Frage beiseite, was heutzutage für einen gesunden Lebensstil wirklich erforderlich ist. Diese Rabbiner gaben einfach die allgemein bekannte und grundlegende jüdische Lehre wieder, laut der es untersagt ist, Tiere zu misshandeln. Jeder, der jedoch mit modernem Viehhandel vertraut ist, wird wissen, dass eben diese Misshandlung von Tieren inzwischen der Normalfall ist.
Die meisten Schlachtkühe werden auf deutlich zu engem Raum gehalten und transportiert. Ihre Hörner werden ohne jede Betäubung entfernt oder abgebrannt, damit sie sich auf diesem engen Raum nicht gegenseitig verletzen. Sie werden vollgepumpt mit Hormonen und Antibiotika, die ihre Physiologie verändern und ihre natürlichen Funktionen unterdrücken.
Dabei sollte man auch anmerken, dass eben diese Hormone und Antibiotika in von Menschen verzehrtem Fleisch erhalten bleiben – mit all ihren nachteiligen Auswirkungen.
Milchkühe sind sogar noch schlimmer dran. Um die maximale Milchproduktion anzuregen, bei der Unmengen von Milch für den menschlichen Verzehr erzeugt werden, werden die Kälber unmittelbar nach der Geburt von ihren Müttern getrennt (was in direktem Widerspruch zum biblischen Verbot in Levitikus 22:27 steht). Aufgrund der verabreichten Hormone werden die Euter der Kühe so gross, dass viele von ihnen nicht einmal mehr laufen können.
Eine von einer orthodoxen US-amerikanischen halachischen Instanz an Schlachtkörpern durchgeführte Untersuchung ergab, dass die inneren Organe von Milchkühen derart beträchtliche Deformationen aufwiesen, dass die Tiere damit „treif“ (also für den jüdischen Verzehr unzulässig) wurden. Daraus ergeben sich auch halachische Auswirkungen auf die Milch solcher laut jüdischen Vorgaben nicht für den menschlichen Verzehr geeigneter Kühe.
Als Ergebnis selektiver Zuchtprogramme und aufgrund des Einsatzes von Antibiotika wachsen Hühner in modernen Grossmästereien dreimal so schnell als das noch vor fünfzig Jahren der Fall war. Das führt zu Knochenleiden wie Verkrüppelungen oder auch zu Defekten der Wirbelsäule, die dann wiederum akute Schmerzen und eingeschränkte Bewegungsfähigkeit nach sich ziehen.
Was Eier betrifft (und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um Bio-Eier oder konventionell erzeugte handelt): Um die Produktion auf Höchstniveau zu halten, werden männliche Küken unmittelbar nach dem Schlüpfen getötet, indem sie lebendig geschreddert oder in Säcken erstickt werden.
Nun aber genug von diesen Horrorgeschichten! Jeder, der Augen im Kopf hat, sollte problemlos erkennen können, dass praktisch alle heute auf dem Markt erhältlichen Tierprodukte auf eine Art und Weise erzeugt werden, die grundsätzlich gegen jüdische Gesetze und die entsprechende Morallehre verstösst. Und selbst wenn das Essen solcher Produkte eine halachische Verpflichtung darstellen würde (was nicht der Fall ist), wäre es unter diesen Umständen eine „Mitzvah Haba‘ah Ba‘aveirah“, d. h. das Produkt nicht legitimer Mittel, was das Ergebnis letztlich untauglich macht.
Es sollte klar sein, dass die Argumentation von Rabbi Moshe Feinstein und Rabbi Hayim David Halevi heutzutage nicht nur für Gänsestopfleber und Kalbfleisch gilt, sondern Anwendung auf die gesamte tierische lebensmittelproduzierende Branche findet.
Die Kaschrut – also die jüdischen Speisegesetze – umfassen mehr als die blosse Vorgabe, wie die Kehle eines Tieres zu durchtrennen ist und seine lebenswichtigen Organe zu untersuchen sind. Sie beziehen sich auf die gesamte Beziehung zwischen Mensch und Tier. Speziell in Bezug auf das Schächten sagen unsere Weisen tatsächlich, dass „die Mizwot (Gebote) nur deshalb erlassen wurden, damit der Mensch sich weiterentwickele“ (Genesis Rabba, 34; Levitikus Rabba, 13).
Selbst wenn am Ende die Kehle des Tieres auf die richtige Weise durchtrennt und seine inneren Organe korrekt untersucht würden, wie könnte man das Produkt ernsthaft als koscher bezeichnen, wenn zuvor alle erdenklichen Vorschriften und Verbote missachtet und entweiht wurden?
Warum gibt es praktisch keinen offiziellen Einspruch oder gar Widerstand seitens der Rabbinerschaft gegen solche Praktiken?
„Diese Fakten sind unbequem“
Zum einen möglicherweise aufgrund von Unwissenheit. Vor allem jedoch sind diese Fakten unbequem, und es ist viel einfacher, ihnen aus dem Weg zu gehen oder sie zu verleugnen. Aber könnte es nicht auch damit zusammenhängen, dass die koschere Lebensmittelbranche und die untrennbar damit einhergehende Kontrolle und Freigabe durch Rabbiner ein bedeutendes Gewerbe mit Bezug auf die Lebensgrundlage, Interessen und Machtbefugnisse unzähliger Menschen darstellt? Man fragt sich, ob sich dieser riesige unmoralische Betrieb, in dem legitime und nicht ganz so legitime Interessen so untrennbar miteinander verflochten sind, überhaupt noch aufhalten lässt.
Möglicherweise bieten uns letztendlich die moderne Technologie und Innovationen, die derzeit noch gemeinsam das Böse darstellen, einen Ausweg aus dieser verzwickten Lage. Nichtsdestotrotz sollten verantwortungsbewusste Rabbiner bis dahin – und vielleicht auch noch danach – vor allem Pflanzenkost als die am ehesten koschere Ernährungsweise für den Grossteil der heutigen Menschen befürworten.
In unserer modernen Welt ist es uneingeschränkt möglich, alle für ein gesundes Leben erforderlichen Nährstoffe zu beziehen, ohne dieses unmoralische Geschehen zu unterstützen. Noch gar nicht erwähnt wurden dabei übrigens andere moralische Fragen, wie etwa eine bessere und gerechtere Verteilung der Lebensmittelressourcen oder die durch den Viehhandel verursachten Umweltschäden (die grösser sind als jene, die alle Transportformen rund um die Welt zusammengenommen verursachen. Siehe dazu auch den von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen veröffentlichten Bericht „Livestock’s Long Shadow“).
Natürlich gab es bedeutende Rabbiner wie Rabbi Avraham HaCohen Kook oder zuvor Rabbi Yosef Albo und andere, die ein messianisches Zeitalter vorhersahen, in dem keine Tiere mehr getötet würden (nicht einmal mehr beim Tempeldienst). Aber selbst wenn einem solche Vorstellungen nicht ansprechen, lebt man in der heutigen modernen Welt umso näher an koscheren Vorgaben, je mehr die eigene Ernährung auf Pflanzen basiert.
Rabbi David Rosen war leitender Rabbiner der grössten jüdischen Gemeinde Südafrikas und agierte als Oberrabbiner in Irland. Derzeit ist er Direktor der Abteilung für interreligiöse Angelegenheiten des American Jewish Committee in Jerusalem. Auf Englisch zuerst erschienen bei The Times of Israel.