Europas ‚Türkisches Erwachen‘

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Die niederländische Polizei in Rotterdam benutzte am 11. März 2017 Schlagstöcke, Hunde und Wasserwerfer um einen Aufruhr von Pro-Erdogan-Demonstranten zu kontrollieren. Foto RT Video Screenshot
Die niederländische Polizei in Rotterdam benutzte am 11. März 2017 Schlagstöcke, Hunde und Wasserwerfer um einen Aufruhr von Pro-Erdogan-Demonstranten zu kontrollieren. Foto RT Video Screenshot
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Die Türkei ist ein offizieller Anwärter auf die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union. Ausserdem verhandelte sie einen Deal mit Brüssel, bei dem es darum geht, Tausenden von Türken die Einreise nach Europa ohne Visum zu ermöglichen. Die Türkei ist jedoch nicht wie jedes andere Land, das bislang der EU beigetreten ist oder dies künftig tun wird: Die Entscheidung der Türken für ihren Anführer, der seit 2002 im Amt ist, macht das Land nur allzu offensichtlich zu einem Exoten.

von Burak Bekdil

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, der aktuell dafür kämpft, seine konstitutionellen Befugnisse zu erweitern, die ihn zum Staatsoberhaupt, Regierungschef und zum Kopf der Regierungspartei machen würden – und zwar alles zur gleichen Zeit – ist von Natur aus autokratisch und anti-westlich gesinnt. Offenbar sieht er sich als grossen muslimischen Führer, der gegen die Heere der ungläubigen Kreuzritter kämpft. Dieses Bild, mit dem er sich selbst gern darstellt, findet bei Millionen konservativen Türken und [sunnitischen] Moslems im gesamten Nahen Osten grosse Resonanz. Dies sowie andere Extreme im türkischen Stil machen die Türkei völlig unvereinbar mit der politischen Kultur Europas.

“Erdbeben in der Westtürkei ist das Werk der USA und Israels”

Es gibt jedoch auch eine heitere Seite des Ganzen. Nehmen wir beispielsweise Melih Gökcek, den Bürgermeister von Ankara und eine grosse Nummer in Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP). Im Februar behauptete Gökcek, dass die Erdbeben in einer westtürkischen Provinz möglicherweise von finsteren ausländischen Mächten (sprich: westliche Ungläubige) ausgelöst worden seien, um die türkische Wirtschaft mit einem „künstlichen Erdbeben“ in der Nähe von Istanbul zu zerstören. Laut dieser Verschwörungstheorie behauptet der Bürgermeister nicht nur, dass das Erdbeben in der Westtürkei das Werk der USA und Israels war, sondern auch, dass die die radikale Terrororganisation Islamischer Staat (IS) von den US geschaffen worden sei. Tatsächlich haben nach seiner Ansicht die USA und Israel insgeheim zusammengearbeitet, um ein Erdbeben in der Türkei auszulösen, damit sie dann den Strom aus den geschädigten türkischen Stromleitungen abgreifen könnten.

Die Angelegenheiten zwischen der Türkei und Europa sind heute wesentlich angespannter und ernster zu nehmen als die lächerlichen Stellungnahmen von Politikern, die sich bei Erdogan lieb Kind machen wollen. Der Präsident, der bewusst seine eigenen starken antisemitischen Ansichten ignoriert, beschuldigte Deutschland kürzlich im zunehmenden Streit um die Absage politischer Kundgebungen, mit denen er bei den 1,5 Millionen türkischen Bürgern in Deutschland um Unterstützung für sich werben will, „faschistischer Aktionen“ im Stil der Nazizeit.

Von den Niederländern denkt Erdogan augenscheinlich dasselbe. In einem vergleichbaren Streit über politische Kundgebungen der Türken in den Niederlanden bezeichnete Erdogan die niederländische Regierung als „Nazi-Überbleibsel und Faschisten“. Nachdem sie dem türkischen Aussenminister Mevlut Cavusoglu die Einreise per Flugzeug verweigert hatten, eskortierten die niederländischen Behörden einen weiteren türkischen Minister aus dem Land. Zweifellos eine ziemliche Demütigung. Ein wütender Erdogan versprach den Niederlanden, dass sie dafür büssen würden.

Europa, nicht nur Deutschland und die Niederlande, scheinen vereint, wenn es darum geht, Erdogan nicht zu erlauben, die äusserst angespannte und oft sogar gewaltbereite politische Polarisierung auf den alten Kontinent zu exportieren. Es gibt Medienberichte, nach denen der Eigentümer eines Veranstaltungsorts in der schwedischen Hauptstadt Stockholm jetzt ebenfalls eine pro-Erdogan-Kundgebung abgesagt hat. Das schwedische Aussenministerium gab an, es habe mit dieser Entscheidung nichts zu tun gehabt.

Die europäische Anti-Erdogan-Stimmung breitet sich wie ein Virus aus. Der dänische Premierminister Lars Loekke Rasmussen gab bekannt, dass er seinen türkischen Amtskollegen darum gebeten habe, aufgrund der angespannten Situation zwischen der Türkei und den Niederlanden seinen geplanten Besuch zu verschieben. Wenngleich die Türkei sich bei Frankreich dafür bedankte, dass es Aussenminister Cavusoglu gestattete, bei einem Treffen türkischer „Auswanderer“ in Metz aufzutreten, rief der französische Aussenminister Jean-Marc Ayrault die türkischen Behörden dazu auf „weitere Exzesse und Provokationen zu vermeiden“.

Keiner dieser Vorfälle, die nachdrücklich auf das „türkische Erwachen“ Europas hinweisen, ereignete sich aus heiterem Himmel heraus. Anfang Februar fand in Ankara ein angespanntes Treffen zwischen der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Erdogan statt. Erdogan wies Merkels Erwähnung des „islamischen Terrors“ vehement zurück und zwar mit der Begründung, dass „dieser Ausdruck Muslime betrübt, weil der Islam und Terror schlicht und einfach nicht nebeneinander existieren können.“ Der Streit ereignete sich zu einem Zeitpunkt, als in Deutschland eine Untersuchung stattfand, bei der es um türkische Imame ging, die in Deutschland für Erdogan dessen Feinde bespitzelt haben sollen, und diese Untersuchung drohte, auch in andere Teile Europas überzuschwappen. Peter Pilz, ein österreichischer Abgeordneter, gab an, er sei im Besitz von Dokumenten aus 30 Ländern, die ein „global agierendes Spionagenetz“ bei diplomatischen Missionen der Türkei aufdeckten.

Anfang März, nachdem die Türkei angekündigt hatte, sie würde sich dem Widerstand der deutschen und niederländischen Autoritäten widersetzen und weiterhin Kundgebungen in beiden Ländern abhalten, rief der österreichische Bundeskanzler Christian Kern zu einem EU-weiten Verbot der Wahlkampfauftritte türkischer Politiker auf.

Daraufhin verhaftete die Türkei in einer Reaktion, die Europa weiter herausforderte, Deniz Yücel, einen türkisch-deutschen Reporter der bekannten deutschen Tageszeitung Die Welt, aufgrund von Vorwürfen der „Propaganda für eine Terrororganisation und Anstiftung der Öffentlichkeit zu Gewalt.“ Yücel wurde festgenommen, nachdem er über E-Mails berichtet hatte, die ein linkes Hacker-Kollektiv angeblich vom privaten E-Mail-Account von Berat Albayrak, dem türkischen Energie-Minister und Erdogans Schwiegersohn, erhalten hatte.

Erdogans Propagandafeldzug gegen das „ungläubige“ Europa hat das Potential, die bilateralen Beziehungen zu einzelnen Ländern sowie zu ganz Europa weiter zu vergiften. Nicht einmal die türkischen „Auswanderer“ sind glücklich darüber. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland beschuldigte Erdogan, die Verbindungen zwischen den beiden NATO-Verbündeten zu schädigen. Gokay Sofuoglu, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland, einem Dachverband für 270 Mitgliedsorganisationen, sagte: „Erdogan ist einen Schritt zu weit gegangen. Deutschland sollte sich nicht auf dieses Niveau herab lassen.“

Die jüngste Welle der Spannungen zwischen Erdogans Türkei und Europa, für dessen Beitritt es ein theoretischer Anwärter ist, haben einmal mehr die lange tolerierte Unvereinbarkeit zwischen der vorwiegend konservativen, islamistischen und häufig anti-westlichen politischen Kultur der Türkei und den liberalen Werten Europas offenbart.

Die Türkei ähnelt zunehmend dem Irak Saddam Husseins. Während meines Besuchs im Jahr 1989 im Irak weigerte sich ein türkisch-sprechender, von der Regierung autorisierter Reiseführer, über irakische Politik zu sprechen und rechtfertigte seine Zurückhaltung folgendermassen: „Im Irak besteht die Hälfte der Bevölkerung aus Spionen, … die die übrige Hälfte bespitzeln.“ Offiziell hat sich Erdogans Türkei auf eine Reise hin zur westlichen Demokratie begeben. In der Realität gleicht ihre islamische Geisteshaltung jedoch viel eher einem Feldzug gegen die westliche Demokratie.

Burak Bekdil, Journalist in der Türkei, wurde im Januar 2017 nach 29 Jahren von der wichtigsten Zeitung des Landes entlassen, nachdem er für Gatestone über das aktuelle Geschehen in der Türkei berichtet hatte. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Middle East Forum. Auf Englisch zuerst erschienen bei Gatestone Institute.