Antisemitismus und Aliyah

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Foto CC0 Public Domain
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Politische Korrektheit scheint uns dazu zu nötigen, immer weiter das Mantra herunterzubeten, dass wir Antisemitismus nicht als Grund für die Ansiedlung in Israel angeben dürfen und stattdessen weiterhin darauf bestehen, dass in unserer Zeit das einzige Motiv für die Aliyah [1. Der Begriff Alija (hebräisch עלייה, wörtlich „Aufstieg“; Plural Alijot) stammt aus der Bibel und bezeichnet im Judentum seit dem babylonischen Exil (586–539 v. Chr.) die Rückkehr von Juden als Einzelne oder Gruppen in das Gelobte Land.] darin besteht, einem bekennenden Juden zu ermöglichen, ein wahres jüdisches Leben in seinem Heimatland zu leben.

von Isi Leibler

Ohne dies zu bestreiten, ist es inzwischen dennoch höchste Zeit für Juden, die in vielen Teilen der Welt in der Diaspora leben, sich von dieser Leugnung zu verabschieden und der Realität ins Auge zu sehen. Sie müssen anerkennen, dass alle Zeichen dafür sprechen, dass sich ihre Situation künftig nur weiter verschlechtern wird und dass in einigen Ländern der Aufruf zur Aliyah angesichts zunehmenden Antisemitismus durchaus gerechtfertigt ist.

Der fieberhafte Anstieg des Antisemitismus ist ein globales Phänomen. Auch wenn der Judenhass in den Vereinigten Staaten, Kanada und Australien weit entfernt von dem ist, was sich in Europa und Südafrika abspielt, verfehlt selbst dort ein Teufelstrank aus muslimischem, linkem und neonazistischem Judenhass nicht seine Wirkung.

In den Vereinigten Staaten geht inmitten von Bombendrohungen und Friedhofsschändungen die hauptsächliche Gefahr von der Verbindung der extremen Linken und muslimischen Antisemiten aus, in erster Linie auf den Universitätsgeländen, wo jüdische Studenten zunehmend bedroht werden.

Die linksliberalen Juden, die es versäumt haben, auf Barack Obamas bösartige diplomatische Angriffe gegen Israel zu reagieren und die das auf den Universitätsgeländen verbreitete Gift herunterspielten, promoten jetzt eine Agenda der Parteipolitik, indem sie Präsident Donald Trump die Schuld an den jüngsten Drohungen und Schändungen geben. Sie unterstützen sogar die Anti-Trump-Bewegungen von Antisemiten und ehemaligen islamischen Terroristen. Indem sie diese verleumderische Kampagne fördern, lösen sie Ressentiments unter den bislang pro-israelisch gestimmten christlichen Elementen aus.

Abgesehen von diesen Spannungen ist jedoch die Voraussage einer Aliyah-Welle aus den Vereinigten Staaten als Reaktion auf Antisemitismus einfach absurd. Im Grunde sind die Amerikaner das am wenigsten antisemitische Volk der Welt. Die stärker angepassten jüdischen Liberalen haben Israel aufgegeben und die Prognose für ihre jüdische Kontinuität ist nicht gerade vielversprechend. Die Hauptgruppe derer, die sich aus den USA oder aus Kanada und Australien auf die Aliyah begeben, wird auch weiterhin nur aus einer geringen Zahl Orthodoxer und engagierter Juden bestehen, die ihre langfristige Zukunft als Juden in Israel sehen.

In Europa ist das jedoch vollkommen anders. Hier hat der Antisemitismus direkte Auswirkungen auf Juden, die bereits einen Aussenseiter-Status geniessen und deren Lebensqualität sich mit grosser Sicherheit weiter verschlechtern wird.

Dies soll nicht heissen, dass die Juden in Europa ihrer bevorstehenden Vernichtung entgegensehen, wie dies am Vorabend des Holocaust der Fall war. Die Existenz eines jüdischen Staates mit der Bereitschaft, allen Juden einen sicheren Hafen zu bieten, bietet die Sicherheit, dass es eine solche Situation nie wieder geben wird.

Die heutige Qualität des jüdischen Lebens in Europa rechtfertigt jedoch den Aufruf zur Massenauswanderung.

Was für ein Leben ist es für einen Juden, wenn er Angst haben muss, sich in der Öffentlichkeit mit einer Kippa oder einem anderen äusserlich sichtbaren Zeichen seines Judentums sehen zu lassen, das ihn zu einer Zielscheibe für Gewalt oder zu einem Magneten für amoklaufende Terroristen machen würde?

Oder wenn Schulen, Synagogen und andere Orte, an denen Juden zusammen kommen, militärischen Schutz brauchen oder jüdische Gemeinschaften sich dazu gezwungen sehen, eigene Sicherheitsdienste zu gründen. Wer hätte sich eine solche Situation noch vor zehn Jahren träumen lassen?

Wer hätte sich vorstellen können, dass die angesehensten Universitäten in Grossbritannien und Europa sich in Plattformen für anti-israelische und antisemitische Aktivitäten verwandeln würden, die jüdische Studenten häufig bedrohen, ihnen die freie Meinungsäusserung verwehren und pro-israelische Redner davon abhalten, ihre Sache ebenso gleichberechtigt vortragen zu können wie jeder andere.

„Viele jüdische Studenten versuchen ihr Judentum zu verbergen.“

Als Konsequenz versuchen viele jüdische Studenten, ihr Judentum zu verbergen, und einige nehmen sogar führende Funktionen als flotte antizionistische Aktivisten ein, um sozial anerkannt zu werden. Es ist eine Alptraumsituation, an die sich die meisten Juden als unvermeidbaren negativen Aspekt ihres Lebens schlicht und einfach angepasst haben.

Gewaltbereiter islamistischer Terrorismus, einschliesslich einer hausgemachten Variante, ist für die Europäer heute eine tägliche Bedrohung. Der Zustrom von „Flüchtlingen“, von denen viele tief geprägt von Antisemitismus sind, hat dieses Problem nur noch weiter verstärkt, und wann immer sich die Möglichkeit bietet, stehen in erster Linie Juden in der Schusslinie der barbarischen islamistischen Terroristen.

Während die meisten Regierungen nur Lippenbekenntnisse von sich geben, um den Antisemitismus zu bekämpfen, nimmt der „beliebte“ Judenhass zu und – trotz eindeutiger, gegenteiliger Beweise – wird Israel nach wie vor beschuldigt, die Quelle des islamischen Extremismus zu sein.

In den Medien und auf der politischen Bühne grassiert der Antisemitismus. Aber selbst die geringste Kritik am islamischen Extremismus hat Anschuldigungen der Islamophobie und Anklagen wegen „Rassismus“ zur Folge, was, wenn es darum geht, die Aktivitäten islamischer Extremisten aufzudecken, einer Beschneidung der Meinungsfreiheit gleichkommt.

Die Situation ist in jedem Land etwas anders. Ironischerweise sind die osteuropäischen Länder weniger feindlich gesinnt als ihre westlichen Kollegen. Frankreich ist am extremsten. In Grossbritannien ist die Situation trotz einer positiven Regierung auf Ebene der Basis desaströs, und angesichts des instinktiven Hasses gegenüber Israel und den Juden, wie er in Demonstrationen und den Gesprächen in den sozialen Medien und bekannten Tageszeitungen deutlich zutage tritt, kann man nur schockiert sein.

Darüber hinaus kann der Oppositionsführer Jeremy Corbyn als das linksgerichtete Äquivalent des ehemaligen Anführers der britischen Faschisten, Oswald Mosley, bezeichnet werden. Zu seinen Freunden und Verbündeten zählen die Unterstützer islamischer Terroristen sowie bekennende Antisemiten.

Seine Aussichten auf einen Wahlerfolg sind derzeit düster. Dennoch hat Grossbritannien, von den Liberaldemokraten abgesehen, ein Zwei-Parteien-System. Sollte die gegenwärtige Regierung einen Finanzkrise erleben, deuten Präzedenzfälle darauf hin, dass die Wähler einfach gegen die Amtsinhaber stimmen würden. Wenn unter solchen Umständen die Labour-Partei mit ihrer derzeitigen Führung an die Macht käme, wäre dies katastrophal, und Grossbritannien hätte die erste gewählte, wirklich antijüdische Regierung Westeuropas seit dem Zweiten Weltkrieg.

Die negativen Auswirkungen der arabischen Massenmigration auf die Lebensqualität haben in ganz Europa zu gewaltigen Ressentiments geführt. In Kombination mit dem unerwarteten Sieg Trumps in den USA haben zahlreiche antiarabische, populistische Parteien stark an Einfluss gewonnen. Einigen von ihnen, meist kleine Minderheitsparteien, hatten ursprünglich in ihren Reihen antisemitische Elemente. In Frankreich und Österreich wurden diese Antisemiten jedoch, als die Parteien sich um eine breitere Akzeptanz bemühten, meist aus den Parteien ausgeschlossen.

In Frankreich befinden sich viele Juden in einem Dilemma, da sie vor den Wahlen und somit vor der wenig beneidenswerten Aufgabe der Stimmabgabe stehen – sei es für die Gruppierungen der Mitte oder der Linken mit ihrer instinktiven Israel-Feindlichkeit, für populistische Parteien mit ehemals antisemitischen Komponenten oder ob sie einfach gar nicht zur Wahl gehen.

Für ultraorthodoxe Juden, die in ghettoähnlichen Gesellschaften leben, stellt sich die Situation nicht so akut dar. Allerdings begegnet ihnen aufgrund ihrer charakteristischen Kleidung zunehmende Feindseligkeit auf der Strasse.

Diejenigen, denen ihr Judentum nichts mehr bedeutet, halten den Ball flach und versuchen, ihre jüdische Identität abzulegen. In den meisten Fällen werden ihre Kinder sich schon nicht mehr als Juden betrachten.

Es sind die verbliebenen engagierten Juden, die in einer Zwickmühle stecken. Viele von ihnen leben unter ebenfalls jüdischen Mitbürgern und werden nur selten mit direktem Antisemitismus konfrontiert. Sie führen ein Leben in Verleugnung und tun die Feindseligkeit und Diskriminierung, die ihren Kindern begegnet, mit philosophischer Gelassenheit ab.

„Juden sollten nicht bereit sein, unter solchen Umständen zu leben.“

Juden sollten nicht bereit sein, unter solchen Umständen zu leben. Es gibt in keiner Gesellschaft eine Garantie, dass die Kinder die Traditionen ihrer Eltern bewahren werden. Im heutigen Europa jedoch ist es nahezu unmöglich, darauf zu vertrauen, jüdische Enkelkinder grosszuziehen, die ihr Erbe bewahren und stolz darauf sein werden. Bei vielen ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre jüdische Identität ablegen werden, sehr hoch.

Es ist an der Zeit, es klar und deutlich auszusprechen: Die Bedingungen für Juden in Europa werden sich mit grosser Wahrscheinlichkeit verschlimmern, selbst in Ländern wie Grossbritannien. Deshalb sollten Juden, die ihr Erbe wertschätzen und die wollen, dass ihre Kinder und Enkelkinder stolze, bekennende Juden bleiben, die Beine unter die Arme nehmen und so schnell wie möglich verschwinden.

Auswanderung ist keine leichte Herausforderung. Abgesehen von den unvermeidlichen sozialen Veränderungen können wohlhabende Familien einfach ihre Koffer packen und sofort abreisen und werden in vielen Fällen auch weiterhin ein komfortables Leben führen können.

Dennoch kann es, auch wenn Israel heute eine der erfolgreichsten Ökonomien der Welt hat, für viele Familien im mittlerem Alter schwierig sein, eine sinnvolle Beschäftigung zu finden. Die meisten von ihnen werden also bleiben.

Sie sollten jedoch wenigstens ihre Kinder dazu ermutigen, sich in Israel niederzulassen. Diese werden dann den Vorteil haben, eine enorme Vielfalt an Karrieremöglichkeiten vorzufinden und sich in einem Umfeld zu bewegen, das ihnen ermöglicht, stolze Juden zu sein, die am Wachstum ihres Heimatlandes teilhaben.

Isi Leibler ist ehemaliger Vorsitzender der australischen jüdischen Gemeinde und ehemaliger Vorsitzender des Verwaltungsrates des Jüdischen Weltkongresses. Dieser Kommentar wurde erstmals in der Jerusalem Post und der Tageszeitung Israel Hayom veröffentlicht.