Wie wichtig sind Moral und Ethik in Israel? Welches Verhalten wird insbesondere von israelischen Soldaten in gefährlichen Krisengebieten erwartet? Haben sie Handlungsspielraum in lebensbedrohlichen Situationen, etwa während eines Terroranschlags? Mit diesen zentralen Fragen beschäftigt sich die israelische Öffentlichkeit nach dem Schuldspruch von Elor Azaria.
Der Soldat wurde jüngst wegen Totschlags verurteilt, weil er einen bereits-„neutralisierten“ palästinensischen Terrorist erschossen hatte. Azaria beteuerte zwar immer wieder, er habe noch Gefahr gewittert und einen zusätzlichen Anschlag verhindern wollen. Das israelische Militärgericht verwarf diese Einwände aber und deklarierte Rache zu seinem Hauptmotiv. Mildernde Umstände für den jungen Sanitätssoldaten, der seinen Dienst in der Terror-Hochburg Hebron leisten und Minuten zuvor einen gefährlichen Anschlag miterleben musste, liessen die Richter nicht gelten. In der IDF, so ihre Begründung, gäbe es eine klare Direktive: Soldaten dürfen auf Terroristen, die keine unmittelbare Gefahr mehr darstellen, nicht schiessen. Azaria habe gegen diese Direktive verstossen.
Zwar räumen viele Israelis ein, der junge Soldat hätte im Affekt falsch gehandelt. Die meisten wünschen sich aber, der Fall wäre anders gelöst worden. Sie wünschten, das Gericht hätte berücksichtigt, unter welch extremer Spannung, der Soldat zur Tatzeit gestanden hatte, und wie das Trauma auf den gerade mal 18- Jährigen gewirkt haben mag. „Die eigentliche Ungerechtigkeit“ so etwa Yifat Erlich auf Ynet, „besteht darin, sich in einem gut-gekühlten Gerichtssaal im Nachhinein über einen Vorfall zu empören, der in einer chaotischen Realität passiert ist“. Die Journalistin bestreitet die Schuld Azarias nicht, sie wehrt sich aber dagegen, „demjenigen den Rücken zu kehren, den man zum Schutze aller ins Schlachtfeld geschickt hat.“
Viele Beobachter glauben Azaria auch, dass er fürchtete, der Angreifer würde Sprengsätze unter seiner dicken Jacke verbergen, zumal das warme Frühlingswetter die Winterbekleidung keineswegs rechtfertigte. Das würde nichts zur Sache tun, winkt aber die Richterin Maya Heller entschieden ab. „Selbst wenn der Angeklagte tatsächlich geglaubt hat, der Terrorist würde Sprengstoff mit sich tragen, hätte er nicht schiessen dürfen“, erklärt die Militärrichterin. Der Verdacht einer Gefahr würde den Gebrauch eines Gewehrs [mit der Absicht zu töten] nicht rechtfertigen. Dazu bedürfe es der definitiven Identifizierung einer Waffe. “Künftig wird es ausdrücklich verboten sein, auf Grund von Verdacht, Feuer auf Terroristen zu eröffnen mit der Absicht zu töten“, versichert Heller.
Könnte diese strikte Vorgabe und Azarias hartes Urteil, Soldaten und Sicherheitsbeamte nun grundsätzlich davon abhalten, auf Terroristen zu schiessen und damit die Sicherheit der Bevölkerung gefährden? Einen beklagenswerten Präzedenzfall dafür gibt ja es bereits: Während eines tödlichen Anschlag in einer Bar in Tel-Aviv genau vor einem Jahr zögerte ein bewaffneter Zeuge, von seinem Gewehr Gebrauch zu machen. Hätte er geschossen, so die Experten einstimmig, hätte er Leben retten können.
Viele meinen denn auch, der Prozess hätte Israel geschadet. Er sei zu einem nationalen und internationalen Medienspektakel ausgeartet und hätte „Land und Armee demoralisiert“, schreibt beispielsweise Judith Bergman auf ihrer Facebook-Seite. Mehr noch, er würde den Feinden nützen, die sich das Debakel schliesslich selbst zuzuschreiben hätten, weil es sich hier nicht um einen Kriminalfall, sondern um die Konsequenz eines Terroranschlags handle, so die Journalistin weiter. Israel würde damit seinen Feinden wieder einmal „den eigenen Kopf auf einem Silbertablett servieren“.
Tatsächlich zeigt sich die arabische Welt vom Urteil gegen Azaria eher aufgestachelt, als besänftigt. So hat die Familie des Terroristen angekündigt, sie würde Azaria, die IDF, und den Staat Israel klagen und erwarte einen Schadenersatz in Millionenhöhe.
Auch der Rest der Welt scheint vom Prozess und seinem Bestreben, Moral und Ethik walten zu lassen, komplett unbeeindruckt. Zwar berichten internationale Medien mehrheitlich darüber; viele verabsäumen es aber, zumindest in der Headline, zu erwähnen, dass es sich bei dem erschossen Palästinenser um einen überführten Terroristen handelt, der gerade einen Anschlag ausgeübt hatte. So spricht die BBC von einem “israelischen Soldaten, der einen unbewaffneten Palästinenser ermordete”, Le Monde vom “Totschlag eines Palästinensers”, CNN von einem “Terror-Verdächtigen”.
Fassungslos fragen sich Israelis, ob diese und andere Medien wohl so berichten würden, wenn sich ein ähnlicher Vorfall nach den Anschlägen in Paris, Brüssel, Berlin oder New York ereignet hätte. Und ob ihre lokalen Militär- und Polizeibehörden ebenso bedingungslos gegen die eigenen Soldaten vorgegangen wären.
David Horowitz findet allerdings, dass diese Fragen am wirklichen Thema vorbeigehen. Der Gründer der Times of Israel sieht in der Tatsache, dass Azaria der Prozess gemacht wurde und zwar „in einem unanfechtbar-glaubwürdigen israelischen Gericht” einen Beweis für die unabdingbaren Verpflichtung des Landes, Moral und Ethik zu wahren. Zudem veranschauliche diese Tatsache “Israels Entschlossenheit, sich von terroristischen Feinden nicht auf ihr zynisches, mörderisches Niveau herabziehen zu lassen.”
Horowitz plädiert für ein reduziertes Strafmass, weil eine umgehende Begnadigung, wie viele Israelis sie fordern, ein „Hohn“ auf das Urteil wäre. Das Urteil müsse aber stehen, denn es würde „zwischen den Zeilen“ vermitteln, wie tief die Werte Moral und Ethik im Charakter des Landes und in seinem Selbstverständnis verankert seien. „Dabei geht es nicht darum, was die Welt von uns denkt,“ argumentiert Horowitz, „ es geht vielmehr darum, worauf [und wohl auch woraus] wir bestehen”.
Vielen Dank, @mark_nu:disqus für den Kommentar und das aufmerksame Lesen.
Wie der Quelltext (siehe nachstehenden Link) auch im Gesamtkontext belegt, hat die Richterin Maya Heller tatsächlich erklärt, dass es verboten ist, auf Grund von Verdacht allein zu schießen. Allerdings, und damit haben Sie Recht, spezifiziert sie dabei, „mit der Absicht zu töten“. Dieser Zusatz hat gefehlt; wir haben ihn jetzt auch im Artikel selbst nachgetragen.
Zu Ihrem Szenario: Natürlich haben die Sicherheitskräfte einen gewissen Handlungsspielraum, weil sie Verdächtige, etwa mit gezogener Waffen, versuchen können, aufzuhalten. Etwas absurd scheint die Vorgabe dennoch.
Den Quelltext können Sie im Original hier nachlesen:
http://www.haaretz.co.il/news/law/.premium-1.3196682
Richterin Maya Heller:
„Der Verdacht einer Gefahr würde den Gebrauch eines Gewehrs nicht rechtfertigen. Dazu bedürfe es der definitiven Identifizierung einer Waffe. “Künftig wird es ausdrücklich verboten sein, auf Grund von Verdacht, Feuer auf Terroristen zu eröffnen “, versichert Heller.“
Hier muss es sich um einen Übersetzungsfehler handeln oder die Äußerung der Richterin ist aus dem Kontext gerissen.
Andernfalls würde die Richterin bejahen, dass künftig Pali-Araber auf Kontrollpersonen zugehen und diese notfalls umarmen dürften
– um dann den nicht sichtbaren Sprengstoffgürtel zu zünden.
Alternativ könnten die Kontrollpersonen an den Checkpoints noch vor unbewaffneten Pali-Arabern weglaufen.
Steckt der Fehler jetzt im Kopf der Richterin oder
ist den Journalisten beim „Stille-Post-Spiel“ ein Fehler unterlaufen?
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