Der Zionistenkongress von 1946 in Basel forderte erstmals die Schaffung eines souveränen jüdischen Staates.
von Simon Erlanger, Basler Zeitung
Der erste Zionistenkongress von 1897 in Basel ist unvergessen. Der Wiener Journalist Theodor Herzl rief damals 200 Delegierte in den Grossen Musiksaal des Stadtcasinos. Dort verabschiedeten die Delegierten das «Basler Programm» für die Schaffung eines jüdischen Staates in Palästina. «In Basel habe ich den Judenstaat gegründet», sagte Herzl damals. Doch 1897 war nur der Anfang.
Jahrzehntelang trafen sich die Zionisten aller Schattierung beinahe jedes Jahr. Allein in Basel fanden neun weitere Kongresse statt. Sie sind wenig präsent. Fast völlig in Vergessenheit geraten ist der 22. Zionistenkongress, der vom 9. bis zum 22. Dezember 1946 – also vor exakt 70 Jahren – in der Basler Mustermesse stattfand. Dabei war dieser letzte Zionistenkongress vor der Gründung Israels der folgenreichste. Hatte die zionistische Bewegung sich seit der Balfour-Deklaration von 1917 mit einer sogenannten Heimstätte innerhalb des britischen Empires zufrieden gegeben, dies seit 1919 in Koordination mit der arabischen Dynastie der Haschemiten, forderte man 1946 ein völlig souveränes Staatswesen.
Erst anderthalb Jahre zuvor war die Shoah zu Ende gegangen. Zwei Drittel der Juden Europas waren ermordet worden. Über 250 000 Überlebende lebten als «Displaced Persons» oder «DPs» in sogenannten DP-Camps in Süddeutschland und Österreich. Für die meisten war der Weg zurück in ihre Heimatländer aufgrund des dort tobenden Antisemitismus versperrt. So waren nur ein halbes Jahr vor dem Basler Kongress, am 4. Juli 1946, im polnischen Kielce 42 Juden ermordet worden. Weitere 80 wurden verletzt. Das Pogrom von Kielce war nur die bekannteste der Gewalttaten, denen nach 1945 allein in Polen zwischen 1500 und 2000 Juden zum Opfer fielen. Zehntausende flohen darum nach Westen in die DP-Lager.
Niemand wusste, was mit den Flüchtlingen geschehen sollte. Nur relativ kleine Kontingente wurden von den USA, Australien und Kanada aufgenommen. Die Auswanderung der jüdischen Überlebenden nach Palästina erschien allgemein als Lösung.
Treffen der Übriggebliebenen
Mit der Einberufung des Zionistenkongresses nach Basel suchte die übrig gebliebene zionistische Bewegung an die Vorkriegszeit anzuknüpfen. Doch die Basler Konferenz von 1946 mit ihren 357 Delegierten und 2000 Besuchern, Berichterstattern und Schaulustigen blieb überschattet vom grausamen Geschehen der letzten Jahre. So schreibt der Basler Zionist und Zeitzeuge Heini Bornstein in seinen Erinnerungen: «Es war ein trauriges und deprimierendes Treffen. (…) Wiederum stand Chaim Weizmann vor den Hunderten von Delegierten und Gästen und eröffnete den Kongress. Ich erinnerte mich an die Schlusssitzung des Kongresses im Jahr 1939 in Genf am Vorabend des Einmarschs der deutschen Truppen in Polen und des Ausbruchs des Kriegs. In meinen Ohren klangen noch die Worte in seiner Abschiedsrede: ‹Ich hoffe, wir werden uns im Frieden wiedersehen.› Sieben Jahre später in Basel konnte er seine tiefe Erregung nicht verbergen.»
Der Präsident der Zionistischen Bewegung seit 1935 stellte das Fehlen vieler alter Weggenossen fest: «Es war ein furchtbares Gefühl, vor dieser Versammlung zu stehen, ihre Reihen entlang zu schauen und kaum eines von den vertrauten Gesichtern zu sehen, die in den früheren Kongressen die Reihen geziert hatten. Das polnische Judentum fehlte, das Judentum Zentral- und Osteuropas fehlte, das deutsche Judentum fehlte. Die beiden Hauptgruppen, die vertreten waren, waren Palästinenser und Amerikaner. Zwischen ihnen sassen die Fragmente der Vertreter des europäischen Judentums, zusammen mit einigen kleineren Abordnungen aus England, von den Dominions und Südafrika», erklärte Weizmann.
Das demografische, kulturelle, religiöse und politische Zentrum jüdischen Lebens war durch die Shoah gewaltsam verschoben worden, weg von Europa hin zum künftigen Israel und den Vereinigten Staaten. Dies ist – trotz Versuchen seit den Neunzigerjahren, Europa als drittes Standbein der jüdischen Welt aufzustellen – bis heute so geblieben. Daran änderten auch die von Weizmann beschriebenen «Fragmente der Vertreter des europäischen Judentums» nichts. Die damit gemeinten DPs waren 1946 in Basel zahlreich vertreten. Ihr Schicksal schien ungewiss.
Flüchtlingskrise
Seit Oktober 1945 beschäftigte sich eine «anglo-amerikanische Untersuchungskommission» unter der Leitung des Juristen Earl G. Harrison im Auftrag von US-Präsident Truman mit der Lage der überlebenden Juden in Europa. Harrison kam zum Schluss, dass es für sie keine andere Lösung gebe, als Europa in Richtung Palästina zu verlassen. Er forderte darum im Mai 1946 die sofortige Ausstellung von 100 000 Einwanderungszertifikaten. Eine entsprechende Forderung ging von US-Präsident Truman an den britischen Premierminister Attlee, der sie umgehend zurückwies.
Das geschwächte britische Empire wollte nicht die 1,2 Millionen palästinensischen Araber und die strategisch wichtigen arabischen Staaten gegen sich aufbringen Die jüdische Einwanderung nach Palästina, wo 1946 ein jüdisches Gemeinwesen mit 600 000 Menschen bestand, blieb deshalb weitgehend illegal. Die Briten suchten Einwandererschiffe abzufangen und die jüdischen Flüchtlinge entweder wieder nach Europa zurückzuschicken oder auf Zypern in Lagern zu internieren. Dies sorgte weltweit für Irritation. Die damalige Flüchtlingskrise wurde aussenpolitisch zum Thema und unterminierte die Legitimität britischer Herrschaft in Palästina.
Vor diesem Hintergrund waren die Beratungen und Beschlüsse des Basler Kongresses entscheidend. Wollte man aufgrund der Spannungen in und um Palästina auf ein souveränes jüdisches Gemeinwesen dort verzichten oder nicht? Oder hatte nach der Shoah das Projekt einer jüdischen Heimstätte neue Dringlichkeit erhalten? War ein Wiederaufbau der europäischen Gemeinden angesichts des anhaltenden Antisemitismus überhaupt möglich? Was war zu tun? Darauf sollte der Kongress Antworten geben.
Dringliche Staatsgründung
Liest man die Protokolle und Berichte, so wird klar: In Basel konzentrierten sich im Dezember 1946 weltgeschichtliche Entwicklungen zeitlich und örtlich auf wenige Kongresstage in der Basler Mustermesse. Weizmann, Ben Gurion, Golda Meir und auch der junge Shimon Peres: Fast alle wichtigen Akteure späterer Jahrzehnte waren präsent. Hier wurden Weichen gestellt für die nächsten Jahrzehnte, politische Anliegen definiert, Resolutionen ausformuliert und die Gründung Israels nur anderthalb Jahre später aufgegleist.
Zentral war dabei die Übernahme der Forderungen der New Yorker Biltmore-Konferenz von 1942, wo angesichts der Massenvernichtung der Juden in Europa die sofortige Errichtung eines jüdischen Staates gefordert worden war. In Basel nahmen nun dies die Kongressteilnehmer wieder auf und appellierten an die Vereinten Nationen, «die Forderung des jüdischen Volkes nach der Errichtung eines Staates in Palästina und dessen Aufnahme in die UNO zu unterstützen».
Zeichen stehen auf Sturm
War die zionistische Bewegung seit ihrer Gründung 1897 weitgehend der Diplomatie verpflichtet, hatte die Shoah zu einem Wechsel der Einstellungen geführt, wie Weizmann schreibt: «Der 22. Kongress hatte einen besonderen Charakter und unterschied sich mindestens in einer Beziehung von den vorausgegangenen: Sehr viele der Abgeordneten hatten nicht mehr das geringste Vertrauen zur englischen Regierung und auch keine Hoffnung mehr; darum bestand eine Tendenz zu Methoden, an die vor dem Krieg die Zionisten nie gedacht hätten und die von ihnen nie gebilligt worden wären.»
Gemeint war sowohl die Unterstützung illegaler bewaffneter Gruppen in Palästina als auch die Aufrüstung der offiziellen Miliz des jüdischen Gemeinwesens, der «Haganah», aus der 1948 die israelische Armee wurde. Ursprünglich war eine Politik gewaltsamer Konfrontation von der zionistischen Bewegung und der Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Palästinas unter allen Umständen abgelehnt worden.
Doch jetzt standen die Zeichen auf Sturm. Die Aufteilung Palästinas in vier halbautonome Kantone, wie sie der sogenannte Morrison-Grady-Bericht 1945 vorgeschlagen hatte, fand unter den Delegierten in Basel ebenso wenig Anklang wie die Teilnahme an einer geplanten jüdisch-arabischen Konferenz in London. Weizmann konnte zwar die Mehrheit des Kongresses für die Beibehaltung der seit Jahrzehnten praktizierten engen Bindung an Grossbritannien gewinnen. Die Versammlung in der Mustermesse lehnte aber seinen Aufruf, an der Londoner Konferenz teilzunehmen, ab. Daraufhin trat Weizmann als Präsident der zionistischen Weltbewegung zurück. Ohne Titel und Position des Präsidenten anzunehmen, wurde David Ben Gurion faktisch Nachfolger Weizmanns an der Spitze der zionistischen Bewegung.
Schon in Basel begann er sich auf den kommenden Konflikt vorzubereiten: «Der Kongress übertrug mir die Leitung des Ressorts für Sicherheitsfragen. Ich sah es als meine vordringliche Pflicht an, den Stand der Ausbildung und der Rüstung der Haganah zu untersuchen, um festzustellen, wieweit wir imstande sein würden, die bevorstehenden Prüfungen zu bestehen», begründete dies Ben Gurion.
Gegen Neubeginn in Europa
Der Basler Zionistenkongress von 1946 setzte Prioritäten und brach unter dem Eindruck der Shoah mit der stillen und geduldigen Diplomatie der vergangenen fünf Jahrzehnte. Die Errichtung eines jüdischen Staats wurde als dringlich erklärt. Dies beinhaltete unausgesprochen auch einen Entscheid gegen die Wiederansiedlung der DPs in Europa und den Wiederaufbau zerstörter jüdischer Gemeinden in Zentral- und Osteuropa.
Das Ziel voller Souveränität wird in Basel klar artikuliert und in der Folge systematisch vorangetrieben. Nur elf Monate nach dem Basler Kongress beschliesst dann die UNO am 29. November 1947 die Teilung Palästinas in einen jüdischen und in einen arabischen Staat. Dies mündet am 15. Mai 1948 in die Ausrufung des Staates Israel. Bis 1957, als das letzte DP-Lager in Feldafing bei München geschlossen wird, hat dann die Mehrheit der DPs Europa verlassen. Die meisten gehen in das neu gegründete Israel. Aber auch die USA und Australien sind trotz Einwanderungsrestriktionen sehr beliebte Ziele. Die Zahl der Juden in Europa ist seither kontinuierlich am Sinken, auf gegenwärtig noch unter 1,4 Millionen Seelen.
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Basler Zeitung.