9.November 1938: Zerstören erlaubt, Plündern nicht

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Die brennende orthodoxe Synagoge am Börneplatz in Frankfurt am Main. Foto Vashem Fotoarchiv
Die brennende orthodoxe Synagoge am Börneplatz in Frankfurt am Main. Foto Vashem Fotoarchiv
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Am Mittwoch wurde der 78. Jahrestag der Novemberpogrome („Reichspogromnacht“ oder „Kristallnacht“) begangen. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gingen in Deutschland mehr als 1.400 Synagogen in Flammen auf. Tausende von jüdischen Geschäften und Betrieben wurden ausgeraubt und zerstört.

In den darauffolgenden Tagen wurden etwa 30.000 jüdische Männer von der deutschen Polizei verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald gebracht. Hunderte von jüdischen Gefangenen kehrten nicht aus diesen Lagern zurück.

Audiatur-Online publiziert aus diesem Anlass zwei Auszüge aus der Edition „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945“. Die geplanten16 Bänder umfassen authentische Zeugnisse von Opfern und Tätern. Diese sind gemäss der Chronologie der Naziherrschaft in Deutschland geordnet. Die zwei Auszüge der Edition bezeugen von der Planung und Vorbereitung des Pogroms, sowie von der mit detaillierten Anweisungen geleiteten Führung.


DOK. 125
Anweisungen des Geheimen Staatspolizeiamts vom 9. November 1938, 23:55 Uhr, für den Pogrom

Fernschreiben (geheim) des Gestapa (Nr.234 404 9.11.23:55), gez. Gestapa II Mueller, Berlin, an alle Stapo- und Stapo-Leitstellen vom 9.11.1938

Dieses FS ist sofort auf dem schnellsten Wege vorzulegen.

    1. Es werden in kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen Juden, insbesonders gegen deren Synagogen, stattfinden. Sie sind nicht zu stören. Jedoch ist im Benehmen mit der Ordnungspolizei sicherzustellen, dass Plünderungen und sonstige besondere Ausschreitungen unterbunden werden können.
    2. Sofern sich in Synagogen wichtiges Archivmaterial befindet, ist dieses durch eine sofortige Massnahme sicherzustellen.
    3. Es ist vorzubereiten die Festnahme von etwa 20 – 30 000 Juden im Reiche. Es sind auszuwählen vor allem vermögende Juden. Nähere Anordnungen ergehen noch im Laufe dieser Nacht.
    4. Sollen bei den kommenden Aktionen Juden im Besitz von Waffen angetroffen werden, so sind die schärfsten Massnahmen durchzuführen. Zu den Gesamtaktionen können herangezogen werden Verfügungstruppen der SS sowie Allgemeine SS. Durch entsprechende Massnahmen ist die Führung der Aktionen durch die Stapo auf jeden Fall sicherzustellen.
      Zusatz für Stapo Köln:
      In der Synagoge Köln befindet sich besonders wichtiges Material. Dies ist durch schnell- ste Massnahme im Benehmen mit SD sofort sicherzustellen.
      Gestapa II Mueller
      Dieses FS ist geheim.

DOK. 126
Heydrich präzisiert am 10. November 1938 um 1:20 Uhr früh die Anweisungen des Geheimen Staatspolizeiamts zum Pogrom

Blitz-Fernschreiben (geheim. Dringend! Sofort dem Leiter oder seinem Stellvertreter vorlegen!) des Chefs der Sicherheitspolizei (München 47767 10.11.38, 1 Uhr), gez. Heydrich, an alle Staatspolizeileit- und Staatspolizeistellen und alle SD-Ober- und Unterabschnitte vom 10.11.1938 (Abschrift)

Betrifft: Massnahmen gegen Juden in der heutigen Nacht.

Auf Grund des Attentats gegen den Leg. Sekretär vom Rath in Paris sind im Laufe der heutigen Nacht – 9. auf 10.11.1938 – im ganzen Reich Demonstrationen gegen die Juden zu erwarten. Für die Behandlung dieser Vorgänge ergehen die folgenden Anordnungen:

1) Die Leiter der Staatspolizeistellen oder ihre Stellvertreter haben sofort nach Eingang dieses Fernschreibens mit den für ihren Bezirk zuständigen politischen Leitungen – Gauleitung oder Kreisleitung – fernmündlich Verbindung aufzunehmen und eine Besprechung über die Durchführung der Demonstrationen zu vereinbaren, zu der der zuständige Inspekteur oder Kommandeur der Ordnungspolizei zuzuziehen ist. In dieser Besprechung ist der politischen Leitung mitzuteilen, dass die Deutsche Polizei vom Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei die folgenden Weisungen erhalten hat, denen die Massnahmen der politischen Leitungen zweckmässig anzupassen wären:

a) Es dürfen nur solche Massnahmen getroffen werden, die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums mit sich bringen (z.B. Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung vorhanden ist),

b) Geschäfte und Wohnungen von Juden dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden. Die Polizei ist angewiesen, die Durchführung dieser Anordnung zu überwachen und Plünderer festzunehmen.

c) In Geschäftsstrassen ist besonders darauf zu achten, dass nicht jüdische Geschäfte unbedingt gegen Schäden gesichert werden.

d) Ausländische Staatsangehörige dürfen – auch wenn sie Juden sind – nicht belästigt werden.

2) Unter der Voraussetzung, dass die unter 1) angegebenen Richtlinien eingehalten werden, sind die stattfindenden Demonstrationen von der Polizei nicht zu verhindern, sondern nur auf die Einhaltung der Richtlinien zu überwachen.

3) Sofort nach Eingang dieses Fernschreibens ist in allen Synagogen und Geschäftsräumen der Jüdischen Kultusgemeinden das vorhandene Archivmaterial polizeilich zu beschlagnahmen, damit es nicht im Zuge der Demonstrationen zerstört wird. Es kommt dabei auf das historisch wertvolle Material an, nicht auf neuere Steuerlisten usw. Das Archivmaterial ist an die zuständigen SD-Dienststellen abzugeben.

4) Die Leitung der sicherheitspolizeilichen Massnahmen hinsichtlich der Demonstrationen gegen Juden liegt bei den Staatspolizeistellen, soweit nicht die Inspekteure der Sicherheitspolizei Weisungen erteilen. Zur Durchführung der sicherheitspolizeilichen Massnahmen können Beamte der Kriminalpolizei sowie Angehörige des SD, der Verfügungstruppe und der allgemeinen SS zugezogen werden.

5) Sobald der Ablauf der Ereignisse dieser Nacht die Verwendung der eingesetzten Beamten hierfür zulässt, sind in allen Bezirken so viele Juden – insbesondere wohlhabende – festzunehmen, als in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können. Es sind zunächst nur gesunde männliche Juden nicht zu hohen Alters festzunehmen. Nach Durchführung der Festnahme ist unverzüglich mit den zuständigen Konzentrationslagern wegen schnellster Unterbringung der Juden in den Lagern Verbindung aufzunehmen. Es ist besonders darauf zu achten, dass die auf Grund dieser Weisung festgenommenen Juden nicht misshandelt werden.

6) Der Inhalt dieses Befehls ist an die zuständigen Inspekteure und Kommandeure der Ordnungspolizei und an die SD-Oberabschnitte und SD-Unterabschnitte weiterzugeben mit dem Zusatz, dass der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei diese polizeiliche Massnahme angeordnet hat. Der Chef der Ordnungspolizei hat für die Ordnungspolizei einschliesslich der Feuerlöschpolizei entsprechende Weisungen erteilt. In der Durchführung der angeordneten Massnahmen ist engstes Einvernehmen zwischen der Sicherheitspolizei und der Ordnungspolizei zu wahren.

Der Empfang dieses Fernschreibens ist von den Stapoleitern oder deren Stellvertretern durch FS an das Geheime Staatspolizeiamt – z.Hd. SS-Standartenführer Müller – zu bestätigen.


Synagogenverbrennung in Bühl, Westen Baden-Württembergs, 157 Km nördlich von Basel.


Ilse Neuberger erlebte die Novemberpogrome in Düsseldorf. Während der Ausschreitungen wurde ihr Mann schwer verletzt. Die Düsseldorfer Jüdin beschreibt ihre Erlebnisse während dieser Nacht im Jahr 1938.