Tisch’a beAw – Zum Wiederaufbau des Tempels

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Männer beten an der Klagemauer in Jerusalem am 25. Juli 2015. Foto Flash90
Lesezeit: 4 Minuten

Diesen Schabbat ist – im jüdischen Kalender – der 9.Aw, auf Hebräisch „Tisch’a beAw“. Dieser Tag ist ein höchst trauriger Tag in der jüdischen Geschichte. Sowohl der erste wie der zweite Tempel in Jerusalem wurden an diesem Tag zerstört. Der Tag ist deshalb als öffentlicher Fasttag festgelegt worden. Da aber am Schabbat – ausser am Jom Kippur (dem Versöhnungstag) – nicht gefastet werden darf, ist Tisch’a beAw dieses Jahr auf den Sonntag verschoben.

Seit der Zerstörung des zweiten Tempels – also seit bald 2000 Jahren – sehnt sich das jüdische Volk nach dem Wiederaufbau des Tempels. Jeden Tag bittet jeder religiöse Jude G-tt mehrmals darum, die Stadt Jerusalem und den Tempel wieder zu errichten.

Zu keiner Zeit waren wir der Möglichkeit, den Tempel wirklich wieder aufzubauen, näher als heute. Jerusalem ist wieder die Hauptstadt unseres freien Landes und der Tempelberg ist endlich wieder „b’jadejnu“, in unseren Händen, wie Motta Gur – der Kommandant der israelischen Truppen, die den Tempelberg während des 6-Tage-Krieges im Jahre 1967 erobert haben – stolz und dramatisch verkündet hat. Es stellt sich deshalb die Frage, warum der Tempel dennoch bis heute noch nicht wieder erbaut worden ist.

Die Frage ist alles andere als eine theoretische, „akademische“ Frage. Sie ist eine höchst aktuelle Frage mit direktem Bezug und unmittelbarer Wirkung auf das religiöse und politische Leben in Israel. Denn es muss in diesem Kontext einerseits sehr betont werden, dass die Erwartung, der Tempel werde nun sehr bald wieder errichtet werden, in gewissen jüdischen Kreisen, bei den so genannten national-religiösen Juden, seit dem überraschenden und überragenden Sieg im 6-Tage-Krieg und der – wie sie es nennen – „Befreiung“ der Altstadt Jerusalems, enorm gross ist. Der Sieg in diesem Krieg wird als ein g-ttliches Zeichen der baldigen Erlösung Israels verstanden und hat einen bis heute anhaltenden Messianismus hervorgerufen. Eine messianische Erwartung, die ganz direkten Effekt auf die religiösen Gefühle und das politische Verhalten weiter Kreise der israelischen Gesellschaft hat.

Andererseits findet sich auf der palästinensisch-arabischen Seite eine verbreitete, oft künstlich geschürte Angst vor einer, wie sie es nennen, „Veränderung des Status quo“ auf dem Tempelberg, oder – wie die Extremisten unter ihnen es darstellen – der Zerstörung der El-Aksa-Mosche. Die Frage nach dem Wiederaufbau des Tempels ist also eine aktuelle und äusserst geladene Frage.

Wir wollen die Frage hier nicht aus politischer, sondern aus primär religiöser Perspektive angehen.

In den jüdischen Quellen werden die politischen und sozialen Entwicklungen, die sich in den letzten Jahrzehnten in Israel abspielen, als Teil der messianischen Zeiten vorausgesagt. Die politische Unabhängigheit des jüdischen Volkes in seinem Land und die Rückkehr der Juden aus der Diaspora nach Israel sind integralste Elemente der Erlösung des jüdischen Volkes. (vgl. Maimonides, Hilchot Melachim XI, 1) Es ist deshalb nicht überraschend, dass die Staatsgründung, die grosse Einwanderung nach Israel und die Rückeroberung der Altstadt Jerusalems grosse messianische Hoffnungen hervorgerufen haben.

Frauen der Bnei Akiva Bewegung beten auf dem Rabin Square in Tel Aviv am 25. Juli 2015. Foto Flash90
Frauen der Bnei Akiva Bewegung beten auf dem Rabin Square in Tel Aviv am 25. Juli 2015. Foto Flash90

Wenn wir nun bedenken, dass in den jüdischen Quellen auch der Wiederaufbau des Tempels für die messianischen Zeiten vorausgesagt wird, so verstehen wir die verbreitete Erwartung, dass der Tempel wohl sehr bald wieder errichtet werde, und kehren damit zu der oben gestellten Frage zurück, warum denn der Tempel trotz der scheinbar idealen Bedingungen noch nicht wieder aufgebaut wurde.

Zur Beantwortung der Frage ist darauf hinzuweisen, dass der Blick auf die messianischen Zeiten stark erweitert werden muss. Es ist zwar richtig, dass die Gründung des Staates Israel, die Rückkehr der Juden aus dem Exil und die Befreiung der Altstadt Jerusalems klare Indizien sind für die Erlösung des jüdischen Volkes. Diese partikularistischen Entwicklungen sind durchaus Zeichen des Beginns der messianischen Zeiten. Die „Tage des Messias“ beschränken sich aber nicht auf das Partikularistische, auf das, was uns Juden betrifft. Die Erlösung betrifft die ganze Welt. Sie betrifft Jerusalem und den Tempel, aber auch die anderen Völker. Sie ist etwas Universelles: „In den zukünftigen Tagen wird der Berg des Hauses G-ttes bereit sein … und alle Völker werden zu ihm strömen … und werden sagen: Lasst uns aufsteigen zum Berg G-ttes … denn von Zion geht die Thora aus … Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden … Kein Volk wird sein Schwert gegen ein anders erheben und sie werden nicht mehr Krieg führen.“ (Jesaja 2, 2 ff.)

In den messianischen Zeiten werden die Völker in Frieden miteinander leben und gemeinsam den Tempelberg besteigen. Der Wiederaufbau des Tempels ist also direkt mit dem Ende aller Kriege zwischen den Völkern verbunden. Da aber sowohl in Israel selbst, wie auch an unzähligen anderen Orten auf dieser Welt immer noch viele Kriege im Gang sind, da wir noch sehr weit von einem universellen Frieden entfernt sind, ist verständlich, warum auch der Tempel bis jetzt noch nicht wieder errichtet worden ist.

Wir müssen also weiter beten, hoffen und aktiv dafür sorgen, dass auf dieser Welt Frieden herrschen kann. Damit der Tempel in Jerusalem wieder aufgebaut werde.

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Über Dr. David Bollag

Rabb. Dr. David Bollag ist Rabbiner in Efrat, einem Vorort von Jerusalem, und Lehrbeauftragter für Judaistik an den Universitäten Luzern und Zürich.

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1 Kommentar

  1. Ein Argument für die Verzögerung des Tempelbaus ist, dass noch ein Krieg um Jerusalem bevor steht; aber Gott könnte ihn beschützen.
    Das Argument, dass die Moscheen auf dem Tempelberg weggeräumt werden müssten, kann ich nicht gelten lassen, denn nach Jeheskel soll er auf einem „sehr hohen Berg“ im Norden Jerusalems gebaut werden, da käme der Har Samwil“ in Frage.
    Ihr Argument, „da wir noch sehr weit von einem universellen Frieden entfernt sind“, ist m.E. falsch; wir befinden uns sehr nahe an diesem Zeitpunkt. Wenn Sie Interesse an meinen Ausführungen haben, lesen Sie doch bitte mal unter „Notizen“ bei mir (Hans Dieter Fürst) in „Facebook“ nach.

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