Die Verhaftung eines führenden Mitarbeiters von World Vision durch den israelischen Geheimdienst klang zunächst wie die übliche Jagd Israels auf Terroristen der Hamas. Doch weil eine weltweit agierende und hoch angesehene Hilfsorganisation betroffen war, machten die angeblich beim Verhör ausgeplauderten Verwicklungen mit der im Gazastreifen herrschenden Hamas-Organisation Schlagzeilen. Noch stehen ungeprüfte Aussagen beim Verhör gegen Dementis und Zweifel von World Vision. Aufklärung kann erst ein Prozess gegen den im Juni verhafteten Muhammed el Halabi bringen. Bis dahin gilt die „Unschuldsvermutung“.
Derweil bringt jeder Tag neue Entwicklungen. Die Wohltätigkeitsorganisation erklärte, ihre Überweisungen nach Gaza vorerst eingestellt zu haben. Australien und Deutschland haben ihre Zahlungen an World Vision eingestellt, ohne den Ausgang des Prozesses gegen el Halabi und Überprüfungen durch World Vision abzuwarten. «Sollten die Anschuldigungen sich als korrekt erweisen», meinte eine Sprecherin des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, «würde die Hamas vorsätzlich die humanitäre Hilfe für ihre eigene Bevölkerung aufs Spiel setzen.»
Palästinensischer Wahlkampf
Die Affäre wird sowohl von der Hamas in Gaza wie von der Fatah-Partei in Ramallah im Vorfeld der für Oktober angesagten Kommunalwahlen in den Palästinensergebieten instrumentalisiert. Die Fatah hatte 2006 wegen sagenhafter Korruption die Parlamentswahlen verloren, während die Hamas als gradlinig galt. Der „gute“ Ruf der Hamas ist jetzt angekratzt. Hamas-Chef Ismail Haniyeh wies jeden Verdacht weit von sich und erklärte feierlich in einer Moschee, dass die Hamas „nicht auf die Idee gekommen wäre, jemals auch nur einen einzigen Dollar von Hilfsorganisationen anzunehmen“. Die Fatah-Partei in Ramallah hingegen jubelte. Jetzt sei die Korruption der Hamas öffentlich „erwiesen“.
Trau schau wem
Die palästinensische Kampfseite gegen Israel, „electronic intifada“, veröffentlichte einen Artikel ihres Mitgründers Ali Abunimah. Die israelischen Beschuldigungen seien „unwahr“, zumal der Geheimdienst Schin Beth bekannt sei für Folter beim Verhör. Die von den Israelis genannten Zahlen seien unglaubwürdig, denn danach habe World Vision mehr Geld an die Hamas gegeben, als für das Gesamtbudget der Projekte in Gaza. Abunimah meint weiter, dass die Verhaftung Teil einer israelischen Kampagne gegen Nichtregierungsorganisationen (NGO´s) sei.
Warnungen in den Wind geschlagen
Die israelische Organisation Shurat Hadin behauptet dagegen, World Vision schon vor vier Jahren gewarnt zu haben. Doch ihr Direktor Tim Costello habe „vehement“ dementiert. Seine Organisation unterstütze keinen Terror. Costello habe deshalb eingehende Untersuchungen abgelehnt.
Schwerer Vertrauensbruch
Robert Piper, der UNO Koordinator für humanitäre Hilfe und Aufbau in den “Besetzten palästinensischen Gebieten” erklärte, dass die Vorwürfe der Israelis ernste Sorge um die Arbeit der Hilfsorganisationen in Gaza aufwerfen. Sollten sie sich als wahr erweisen, wäre das ein schwerer Vertrauensbruch und ein Schlag für die Bedürftigen. Er erwähnte freilich nicht, dass die UNO selber 2014 eingestanden hat, von der Hamas ausgenutzt worden zu sein für das Einlagern von Raketen in UNO-Schulen. Ebenso wurden Einrichtungen der UNO für Beschuss der Israelis benutzt, ein eindeutiger Verstoss gegen das Völkerrecht. Derweil hat der israelische Geheimdienst die Verhaftung von Wahid Borsh, 38, bekannt gegeben, einem Ingenieur in den Diensten der UNDP in Gaza. Er habe die Hamas informiert, wenn er unter demolierten Häusern Tunnel, Waffen oder Sprengstoff entdeckt hat, damit die Hamas dann die Kontrolle übernehmen könne. Israel informierte das Büro des UNO-Generalsekretärs und forderte Aufklärung.
Keine Alternative für Hilfsorganisationen
Verschiedene offizielle israelische Sprecher und Sicherheitsleute erklärten, dass es für die Hilfsorganisationen keine Alternative gebe. Nur über sie könnten Warenlieferungen in den Gazastreifen koordiniert werden. Gleichzeitig seien sich die Israelis bewusst, dass all diese Organisationen Gefahr liefen, von rücksichtslosen und korrupten Machthabern bestohlen, ausgebeutet und missbraucht zu werden. Das Ausräumen von Lagerhäusern und Überfälle auf Hilfskonvois seien an der Tagesordnung. Entsprechende Fälle habe es in Ruanda, Irak, Somalia und anderswo gegeben. Die Amerikaner hätten ihre Hilfe über USAID nach Syrien eingestellt, weil Hilfsgüter den Rebellen in die Hände gefallen seien.
Widersprüchliche Homepages von World Vision
Viel Bewegung gibt es auf den Homepages von World Vision (WV). Da kann man Länderprofile von Afghanistan bis Vanatu anklicken. Eine Pressemitteilung verkündet: „World Vision ist schockiert über die Vorwürfe gegen einen Mitarbeiter des Büros Jerusalem-Westbank-Gaza“. Geht man dann auf die deutsche Homepage der Organisation, so scheint sich das Büro in Luft aufgelöst zu haben. Auf der amerikanischen Seite wird man zwischen Indonesien und Jordanien fündig. Hier steht die Adresse im deutschen Auguste Victoria Komplex auf dem Ölberg in Jerusalem mitsamt Telefonnummer. Anrufe dort werden sehr unhöflich abgewimmelt.
Weiter kann man in der aktuellen Pressemitteilung lesen: „World Vision arbeitet nach humanitären Prinzipien und distanziert sich ausdrücklich von allen politischen, militärischen sowie terroristischen Aktivitäten.“
Doch von Neutralität ist auf der amerikanischen Seite wenig zu finden. Die Beiträge widersprechen eklatant der politisch neutralen Selbstdarstellung einer „humanitären Organisation“: Man beklagt, dass „Kinder Belästigungen erfahren durch Soldaten und Siedler“. Hinzu kämen Häuserzerstörungen und Vertreibungen durch die israelischen Behörden, Strassensperren, Kontrollpunkte und die Separations-Mauer. Unerwähnt bleibt, dass sich die „belästigten“ Kinder immer wieder an tödlichen Steinwürfen auf Autos beteiligen und sogar als Messerstecher hervorgetan haben. Kein Wort auch dazu, dass erst durch Zaun und Mauer die Mordserie der 2. Intifada beendet wurde und die Sicherheitsmassnahmen eine Antwort auf den Terror waren.
World Vision Amerika ruft zu „Ko-Widerstand“ auf
Auf der Website von World Vision sind israelische Kooperationspartner wie B’Tselem, Breaking the silence und ICAHD aufgelistet. Darunter steht: „World Vision hat sich verpflichtet, Initiativen zu unterstützen, palästinensisch, israelisch oder gemeinsam, die im Rahmen des Ko-Widerstands agieren. Wir begrüssen israelisches Handeln, das Ko-Widerstand gegen die Besatzung leistet und darauf hinarbeitet, Rechte von Palästinensern wiederherzustellen, die in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten leben.“
So sieht World Vision nach eigener Aussage seine Aufgabe in der politischen Aktivität und der Kooperation mit dem „Widerstand“ gegen Israel. Die Besatzung wird als „Ursache des Nahostkonflikts“ vorgestellt, obgleich die Besatzung eine Folge Krieg und Terror war.
Die Erklärungen auf der amerikanischen Homepage sind mit den World Vision-Partnern in Deutschland „nicht abgesprochen“. Eine Anfrage an World Vision Amerika zu dieser selbstverkündeten Beteiligung am „Widerstand“ gegen die israelische Besatzung blieb nach 3 Tagen immer noch unbeantwortet.
World Vision betont, dass es vorläufig nur einen einzigen Verhafteten gebe und keinerlei Beweise für seine angebliche Hilfe an die Hamas-Organisation. World Vision sei jedoch in über hundert Ländern weltweit aktiv. Die Verhaftung eines Mitarbeiters aus Gaza lasse keine Rückschlüsse auf die Arbeit für Kinder in vielen anderen Konfliktgebieten zu.
Keine Projekte für jüdische Kinder?
Die Behauptung eines Sprechers von World Vision, wonach auch „israelische Kinder“ unter einem Abbruch der Aktivitäten leiden würden, lässt sich nur begrenzt nachvollziehen. Jüdische Israelis scheinen unerwünscht zu sein, denn in der Liste der Ortschaften, in denen World Vision Projekte durchführt, stehen ausschliesslich palästinensische Städte. Deren Zugang ist für jüdische Menschen wegen akuter Lebensgefahr strikt verboten.