«Israelkritik»: Alter Wein in neuen Schläuchen

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Foto Stephen Melkisethian / Flickr. CC BY-NC-ND 2.0
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Ressentiments gegen den jüdischen Staat erfreuen sich überall in Europa einer geradezu unheimlichen Popularität. In Deutschland aber hat man einen ganz besonderen Kniff gefunden, um sie moralisch zu rechtfertigen: Dort verkauft sich die «Israelkritik» als Konsequenz aus der nazistischen Vergangenheit.

Mit dem Einsatz gegen Antisemitismus und für Israel ist es schon eine seltsame Sache. Kaum jemand käme beispielsweise auf die Idee, dass der Kampf gegen den Rassismus in erster Linie die Aufgabe von Menschen mit einem Migrationshintergrund zu sein hätte oder das Eintreten gegen Homophobie die Sache von Schwulen und Lesben – also der «Betroffenen» höchstselbst. Vielmehr wird ein solches Engagement gerne als vornehme Aufgabe der Zivilgesellschaft betrachtet, die sich für ihre Liberalität gerne auch ein bisschen selbst auf die Schulter klopft. Wenn es allerdings um den Hass gegen Juden und insbesondere um die antisemitischen Ressentiments gegen Israel geht, stellt sich die Sache anders dar. Dann nämlich gehen augenscheinlich allzu viele davon aus, dass der Widerspruch vornehmlich die Angelegenheit der Juden ist. Oder zumindest davon, dass selbst jüdisch sein muss, wer den jüdischen Staat verteidigt. Dass Letzteres von Antisemiten aller Couleur angenommen wird – die davon überzeugt sind, dass Juden nur (und automatisch) dem «rassistischen» und «militaristischen» Israel gegenüber loyal sind –, ist dabei nicht verwunderlich, sondern nur folgerichtig.

Doch auch aufgeklärte und wohlgesinnte Zeitgenossen sind davor nicht gefeit, wie etwa ein Beispiel aus dem Juli 2009 zeigt. Für die «Jüdische Allgemeine» sollte damals eine Autorin die «deutschsprachige jüdische Blogosphäre» porträtieren. Heraus kam dabei jedoch ein Porträt der proisraelischen und antisemitismuskritischen deutschen Bloggerszene, wobei die vorgestellten Blogs ganz überwiegend von Nichtjuden betrieben wurden (und werden). Offenbar nahm die Verfasserin wie selbstverständlich an – zu einem Kontakt zu den Porträtierten im Zuge der Recherche war es nicht gekommen –, dass jene Blogger, die für Israel und gegen Antisemitismus Partei ergreifen, nur Juden sein können. Das war keine böse Absicht, schliesslich offenbarte sie ihre Sympathien für diese Blogs. Aber die Logik, der die Autorin ungewollt folgte, unterschied sich im Kern nicht von der Logik jener, die sich nicht vorstellen können, dass die Verteidigung des jüdischen Staates und der Einsatz gegen Judenfeindlichkeit auch Nichtjuden ein Anliegen sein kann.

Moralisches Überlegenheitsgefühl

Gleichzeitig entspricht es der gesellschaftlichen Realität, dass Nichtjuden dieses Anliegen eher selten haben und verfolgen – vor allem die Parteinahme für Israel ist unter ihnen ein rares Gut, während das Gegenteil im Überfluss zu haben ist. In Deutschland hat man mit der Zeit sogar einen besonderen Kniff gefunden, um das Ressentiment gegen den jüdischen Staat moralisch abzusichern. Das Stichwort dabei lautet: «Vergangenheitsbewältigung». Wie sie funktioniert, hat der Publizist Wolfgang Pohrt schon vor vielen Jahren auf den Punkt gebracht: «Mit den Verbrechen, die Deutschland an den Juden und an der Menschheit beging, hat es sich eigenem Selbstverständnis gemäss das Vorrecht, die Auszeichnung und die Ehre erworben, fortan besondere Verantwortung zu tragen. Der Massenmord an den Juden verpflichte, so meint man, Deutschland dazu, Israel mit Lob und Tadel moralisch beizustehen, damit das Opfer nicht rückfällig werde. Zwei angezettelte Weltkriege böten, so meint man weiter, die besten Startbedingungen, wenn es um den ersten Platz unter den Weltfriedensrichtern und Weltfriedensstiftern geht – frei nach der jesuitischen Devise, dass nur ein grosser Sünder das Zeug zum grossen Moralisten habe. Je schrecklicher die Sünde, desto tiefer die Busse und Reue, je tiefer die Busse und Reue, desto strahlender am Ende die moralische Überlegenheit.»

Das Holocaust-Mahnmal in Berlin war, als Pohrt dies schrieb, noch nicht einmal in Planung. Seit elf Jahren steht es nun und ist binnen kurzer Zeit zu einer Touristenattraktion geworden, zu der man «gerne hingeht», wie es Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder so unnachahmlich formulierte. Zum fünften Jahrestag der Einweihung dieses Gedenkmonuments wurde ein «Bürgerfest» veranstaltet, auf dem der Historiker Eberhard Jäckel eine Rede hielt, in der er munter ausplauderte, worum es bei dem Mahnmal tatsächlich geht. «In anderen Ländern beneiden manche die Deutschen um dieses Denkmal», sagte Jäckel mit hörbarem Stolz in der Stimme. «Wir können wieder aufrecht gehen, weil wir aufrichtig bewahren. Das ist der Sinn des Denkmals, und das feiern wir.» Es handelt sich seinem Namen zum Trotz also gar nicht um ein Mahnmal für die ermordeten Juden, sondern vielmehr um ein Denkmal, das sich die Deutschen für ihre «Vergangenheitsbewältigung» selbst gesetzt haben, weshalb es gar nicht gross genug ausfallen konnte. Ohne den grössten Massenmord der Geschichte kein grösstes Mahnmal der Welt, keine strahlende moralische Überlegenheit, kein Neid in anderen Ländern.

Vom Täter zum Bewährungshelfer

Und keine «Israelkritik», die sich als Lehre aus der deutschen Geschichte versteht und doch nur alter Wein in neuen Schläuchen ist. Je nach politischer Konjunktur stimmen in Umfragen zwischen 40 Prozent und zwei Dritteln der Deutschen Aussagen zu, in denen dem Staat Israel Nazimethoden unterstellt werden – etwa, dass er einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser führt oder sie im Prinzip nicht anders behandelt als die Nationalsozialisten seinerzeit die Juden. Das bestätigt einen Befund, zu dem bereits Theodor W. Adorno gekommen war: Wenn man schon zugibt, dass Verbrechen geschehen sind, will man auch, dass die Opfer mitschuldig sind. Und deshalb führen sich nicht wenige Deutsche auf wie Bewährungshelfer. Ihre demonstrative Trauer um die im «Dritten Reich» ermordeten Juden erfüllt so einen praktischen Zweck: Sie fungiert als eine Art Ablasszahlung dafür, um desto härter mit jenen (über)lebenden Juden ins Gericht gehen zu können, die Israel mit Worten und Taten verteidigen. Auf diese Weise lässt sich die deutsche Geschichte weitaus eleganter und effektiver entsorgen oder doch zumindest historisieren als durch die jahrzehntelang erhobene Forderung nach einem «Schlussstrich».

Diese Einstellung in der deutschen Bevölkerung findet ihren Widerhall in der Politik, die stets spätestens dann zu allumfassender Einigkeit zulasten Israels kommt, wenn der jüdische Staat besonders dringend Solidarität nötig hätte. Geradezu paradigmatisch war diesbezüglich ein belehrender und anmassender Bundestagsbeschluss vom Juli 2010, in dem der Einsatz der israelischen Marine gegen die mit Islamisten und europäischen «Friedens»-Aktivisten beladene «Free Gaza»-Flottille einstimmig (!) verurteilt und Israel aufgefordert wurde, die Blockade des Gazastreifens sofort und bedingungslos aufzuheben, sich der Hamas also waffen- und tatenlos auszuliefern. Endgültig klar war damit auch: Die rhetorischen Aufwände, sich als Israels engster Freund und Partner zu inszenieren, dienten nie der tatsächlichen Unterstützung des jüdischen Staates, sondern lediglich der Erledigung deutscher Pflicht und Schuldigkeit nach Auschwitz. Und seit man sich selbst attestiert hat, die Vergangenheit hinreichend «aufgearbeitet» zu haben, gibt es kaum noch ein Halten: Israel wird zunehmend abgeworfen wie lästiger Ballast. Der Bundestagsbeschluss war insoweit die parlamentarische Entsprechung dessen, was ausserhalb des Plenarsaals ohnehin bereits nahezu unhinterfragter Konsens war. Die Volksvertreter hatten sich ihren Namen also redlichst verdient.

Und auch die sogenannte vierte Gewalt im Staate Deutschland reiht sich nahtlos in diesen nationalen Konsens ein: Was sich Nahostberichterstattung nennt, ist ein grosses Elend und von wenigen Ausnahmen abgesehen ein Einheitsbrei, dessen Hauptzutat die «Israelkritik» darstellt. Monika Schwarz-Friesel, die Leiterin des Fachgebietes Allgemeine Linguistik an der TU Berlin, untersucht die medialen deutschen Äusserungen zum Thema Nahost bereits seit Jahren und kommt zu dem Ergebnis, dass darin kaum ein Land so oft und so heftig ins Visier genommen wird wie Israel. «In den Artikeln finden sich ungewöhnlich viele NS-Vergleiche, es gibt ein sehr negatives Bild des Landes», sagt sie. Oft liege eine Realitätsverdrehung vor, insbesondere in den Schlagzeilen werde der jüdische Staat immer wieder als Aggressor dargestellt, und die Israelis stünden «oft im Zusammenhang mit extremen Verben, die Gewalt und Willkür ausdrücken – ‹zerstören, angreifen, besetzen, befehlen›». Generell sei der verbale Antisemitismus seit zehn Jahren «normaler» geworden. Auch in der Öffentlichkeit lehnten immer weniger Menschen judenfeindliche Slogans ab.

Erinnerung als höchste Form des Vergessens

Der Publizist Henryk M. Broder schrieb nach dem Bundestagsbeschluss zur Gaza-Flottille: «War früher die sogenannte Judenfrage das überparteiliche Band, das die Deutschen zusammenhielt, so ist es heute die Palästina-Frage, die ein Gefühl der nationalen Einheit erzeugt.« Bereits zwei Jahre zuvor hatte er in einer bemerkenswerten Rede vor dem Innenausschuss des Deutschen Bundestages deutlich gemacht, was es mit der «Israelkritik» auf sich hat: «Der moderne Antisemit findet den ordinären Antisemitismus schrecklich, bekennt sich aber ganz unbefangen zum Antizionismus, dankbar für die Möglichkeit, seine Ressentiments in einer politisch korrekten Form auszuleben. Denn auch der Antizionismus ist ein Ressentiment, wie der klassische Antisemitismus es war. Der Antizionist hat die gleiche Einstellung zu Israel wie der Antisemit zum Juden. Er stört sich nicht daran, was Israel macht oder unterlässt, sondern daran, dass es Israel gibt. Und deswegen beteiligt er sich so leidenschaftlich an Debatten über eine Lösung der Palästina-Frage, die für Israel eine Endlösung bedeuten könnte. Antisemitismus und Antizionismus sind zwei Seiten derselben Münze. War der Antisemit davon überzeugt, dass nicht er, der Antisemit, sondern der Jude am Antisemitismus schuld ist, so ist der Antizionist heute davon überzeugt, dass Israel nicht nur für die Leiden der Palästinenser, sondern auch dafür verantwortlich ist, was es selbst erleiden muss. Der moderne Antisemit verehrt Juden, die seit 60 Jahren tot sind, nimmt es aber lebenden Juden übel, wenn sie sich zur Wehr setzen. Der Antisemit nimmt dem Juden prinzipiell alles übel, auch das Gegenteil.»

Broder macht damit deutlich, dass der Antisemitismus nach Auschwitz nicht verschwunden ist, sondern sich transformiert hat und sich längst weniger gegen «den Juden» als vielmehr gegen den jüdischen Staat als Kollektivsubjekt richtet. Die Verwandtschaft des klassischen mit dem «israelkritischen», antizionistischen Antisemitismus ist dabei unübersehbar: Das Klischee des Parasitismus etwa findet sich in der Behauptung wieder, die Israelis raubten den Palästinensern das Land und knechteten sie. Das Klischee der Wurzellosigkeit und Wesensfremdheit scheint in der Überzeugung auf, ein Staat Israel gehöre eigentlich gar nicht in einen muslimischen Nahen Osten. Das Klischee des unbarmherzigen, kalten Egoismus schimmert beispielsweise im Vorwurf durch, die Israelis setzten ohne jede Rücksicht auf Verluste ihre Interessen durch. Das Klischee der jüdischen Rachsucht erfährt in den Militärschlägen der israelischen Armee und in der Unterstellung, Israel versuche aus der Shoa maximales Kapital zu schlagen, seine vermeintliche Bestätigung. Das Klischee des Wirkens im Verborgenen und des unermesslichen Einflusses kehrt in der Paranoia vor dem Mossad und der «jüdischen Lobby» wieder. Auch die verbreitete Behauptung, man dürfe nichts gegen Israel sagen, weil ansonsten sofort die «Antisemitismuskeule» geschwungen werde, spiegelt ein altes antisemitisches Stereotyp wider, nämlich das von der jüdischen Kontrolle über Medien und Gesellschaft.

Die «Israelkritik» ist also nichts anderes als eine moderne, zeitgenössische Form von Antisemitismus, und sie hat dementsprechend nichts mit Kritik zu tun, sondern sie ist das Ressentiment gegen den jüdischen Staat. Diese Erkenntnis auszusprechen und der «Israelkritik» entgegenzuwirken, ist jedoch nur das Anliegen einer Minderheit. Und wer es tut, bekommt es mit den Aggressionen der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu tun, die ihre sorgsam gehegten Befindlichkeiten nicht gestört und ihre «Vergangenheitsbewältigung» nicht infrage gestellt sehen will. Die Abwehrreaktion gegen die Kritik des modernen Antisemitismus und gegen den Einsatz für Israel geht dabei nicht selten so weit, dass diejenigen, gegen die sie sich richtet, automatisch für «jüdisch» gehalten werden. Denn die «Israelkritiker» können und wollen sich nicht vorstellen, dass der Einsatz gegen den Judenhass und für den jüdischen Staat vor allem eines ist: das Anliegen von Humanisten jedweder Couleur und damit eine schiere Selbstverständlichkeit.

Über Alex Feuerherdt

Alex Feuerherdt ist freier Autor und lebt in Köln. Er hält Vorträge zu den Themen Antisemitismus, Israel und Nahost und schreibt regelmässig für verschiedene Medien unter anderem für die «Jüdische Allgemeine» und «Mena-Watch». Zudem ist er der Betreiber des Blogs «Lizas Welt». Gemeinsam mit Florian Markl ist er Autor von »Vereinte Nationen gegen Israel«, erschienen bei Hentrich & Hentrich 2018.

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2 Kommentare

  1. Der letzte Satz von Alex Feuerherdt ist ein wunderbar gelungenes Fazit. Auch die Aussage, dass „Israelkritik“ eine moderne Form des Antisemitismus ist, kann ich einmal mehr bestätigen. Ich habe bislang keinen dieser klinisch besorgten Spezies kennengelernt, bei dem ich nicht nach einiger Zeit festgestellt habe, dass hinter dieser „Kritik“ wesentlich anderes steckt als unreflektiertes Ressentiment und letztlich Antisemitismus. Natürlich nicht einer der vulgären Art, sondern einer, der mittels aufgestelltem Zeigefinger sich moralisch erhaben dünkt, der jede Ähnlichkeit mit dem der nazistischen Prägung von sich weist und das eigene faktische Engagement für die Vernichtung Israels mit dessen zurechtkonstruierter Bösartigkeit wahlweise Gewalttätigkeit zu veredeln versucht.

  2. In der Tat: “Der moderne Antisemit verehrt Juden, die seit 60 Jahren tot sind, nimmt es aber lebenden Juden übel, wenn sie sich zur Wehr setzen. Der Antisemit nimmt dem Juden prinzipiell alles übel, auch das Gegenteil.”

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