Wie steht es um die jüdische Tierethik?

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Jahrzehntelang  wurde jeder, der sich in Deutschlands jüdischen Gemeinden zum jüdischen Tierschutz äusserte automatisch entweder als „Schächt“-Befürworter oder als „Schächt“-Gegner behandelt.

von Hanna Rheinz

Im einen Fall galt er oder sie als Spinner („Warum muss man als Jude darum so ein Aufheben machen?“), im anderen Fall als gefährlicher Handlanger der Neonazis („Auch Hitler hat als erstes das Schächten mit dem Reichstierschutzgesetz von 1933 verboten“). Dass  die jüdische Tierethik  als weltweit erste Tierrechtsbewegung gelten kann, die Tiere als „nefesch chaya“ (Lebewesen) und als Gefährten des Menschen preist und die Tora eine Vielzahl von anrührenden Beziehungen zwischen Menschen und Tieren schildert, schien angesichts der Last der Vergangenheit mit ihrer  bis zum heutigen Tag virulenten und erdrückenden antijüdischen deutschen Tierschutzbewegung in Vergessenheit geraten zu sein.

Das hat sich geändert.

Mitgefühl und jüdische Tierethik
Mitgefühl Tieren gegenüber war und ist Teil jeder jüdischen Erziehung. Ein “guter Jid”  zu sein, geht einher mit der Fähigkeit, die Seele seines Tieres zu erkennen. Mitgefühl steht im Mittelpunkt der jüdischen Tierethik. Eine Bildung des Herzens und der tätigen Empathie für die Schwachen. Ein Schutz, der jenen eine Stimme gibt, die von den  Menschen als „stumm“ erfahren werden. Dies sind die Ziele von  „Tza`ar baalei chayim“, dem Verbot, Tiere zu quälen, einer Ethik, die in der Tora, der Mischna (der mündlichen Lehre) und dem Talmud verankert ist. Die Botschaft  wie sie auch in Perek Schira, dem „Gesang der Natur“ veranschaulicht ist,  lautet:  das Leben aller Lebewesen (nefesch chaya)  ist schützenswert und „heilig.

Menschen, die wie König David zu Anführern ihres Volkes werden, fallen durch Sorge und Verantwortung gerade für die schwächsten  ihrer Tiere auf. Es gilt, auch den Schwächsten zu retten, und gerade nicht den Schwachen zu opfern, damit die Starken stärker werden.

Die – gewährte – Nutzung von Tieren ist kein Freibrief zu Ausbeutung und Sklaverei. Freundlichkeit und gute Versorgung dient dem Wohl der Tiere wie das Gebot der Schabbatruhe für Tiere, was den Tierhalter nicht von seiner Pflicht der Versorgung und Pflege seiner Tiere entbindet – trotz Schabbatruhe!

Die Kaschrut (Koscher Gesetze) ist mehr als das Verbot Blut zu verzehren, das als Sitz der lebendigen Seele nicht zum Verzehr erlaubt ist. Mit ihrem detaillierten Regelwerk berühren die Kaschrutgebote die Frage der Haltung der Tiere und die Methode ihres Schlachtens, das nach dem Regelwerk der Schechita (Schlachtung nach jüdischen Gesetzen) zu geschehen hat, also ohne dem Tier unnötige Qualen und Ängste zu bereiten. Dies verbietet Töten durch Jagd als auch Töten im Akkord und vor den Augen der anderen Tiere.

Um Wildtiere zu schützen, werden vorwiegend domestizierte Tiere als Nahrung genutzt. Damit wurde Fleischverzehr zu einer reglementierten, aufwendigen Ernährungsweise, die nicht zum “täglichen Brot” werden kann.

Die Regeln der Kaschrut sind auf der Erkenntnis aufgebaut, dass es ein Frevel ist das Böcklein in der Milch seiner Mutter zu kochen. Das Leiden der  Mutter könnte eine so gewonnene Nahrung nicht koscher, nicht zur lebendigen Nahrung für Körper und Seele machen.

Daher kann kein Segen – und kein Segensspruch über der Nahrung von Fleisch liegen, das mit Tierleid erzeugt wird. Dies gilt auch für Tierhäute, also Lederprodukte. Daher wird kein „Schechechijanu“ (Segensspruch etwa beim Anziehen neuer Kleidung) über ein neues Paar Lederschuhe gesprochen.

Die jüdische Ethik fordert Recht, kein Mitleid für Tiere. Mitleid würde der Willkür Tür und Tor öffnen und zwischen dem für den Menschen nützlichen, schönen und dem unscheinbaren, „nutzlosen“ Tier diskriminieren.

Die jüdische Tierethik beschreibt das Recht des Tieres auf Leben.

Bei aller Verschiedenheit der Arten gilt jedwedes geborene Leben als „heilig“, einzigartig und schützenswert (Perek Schira -Gesang der Natur und Segensprüche).

Diese Rechtsposition des Tieres ist ein Aspekt, der von Juden bereits im Altertum befolgt, in der nichtjüdischen Welt jedoch erst von einigen Philosophen im 20. Jahrhundert formuliert wurde, wobei die Menschenaffen als dem Menschen genetisch nächste “Verwandte” bevorzugt wurden.

Der  jüdische “Mensch”, so auch der Babylonische Talmud (Yevamot 79a ) zeichnet sich durch Scham, Mitgefühl und  Freundlichkeit aus. Dies bedeutet: Tiere dürfen nicht ohne Grund getötet werden (Or Hachaim Hakadosch, Leviticus 17:11). Ihnen darf  kein unnötiger Schmerz verursacht werden (Minchat Chinuch 90). Tiere und Pflanzen dürfen nicht zerstört und vergeudet werden (Bal Taschchit). Das Leben jedes Geschöpfes wird so sehr geachtet, dass dem Menschen in der Schöpfungsgeschichte eine pflanzliche Ernährung empfohlen wurde (Genesis 1:29-30). Der Mensch wird  aufgefordert sich von  Pflanzen, Früchten und Nüssen zu ernähren. Die Ernährung mit Fleisch ist nachrangig. Der Hunger, so viele Rabbiner, solle  zunächst  mit Brot gestillt werden. Dass Fleisch überhaupt erlaubt wird und als Teil der Freude des Schabbat gilt, geschieht aus Rücksicht auf die Schwächen des Menschen (Genesis 9:2-3).

Die Verbindung von Freude und Fleischgenuss sei, so etliche Talmudgelehrte, ein  Anachronismus, der nach der Zerstörung des Tempels als Ort der Opferung und Tierschlachtung obsolet geworden sei. Mit der  Zerstörung des Tempels liege Oneg Schabbat (Freude des Schabbat)  nicht mehr in der Tieropferung und dem Verzehr des Fleisches,  sondern im Genuss des Weines, der das Herz des Menschen erfreue  (Psalm 104:15 und Talmud Bavli, Pesachim 109a)

Maimonides (Hilchot Jom Tov 6:17-18) rät Freude nicht mit Fleisch zu verbinden, sondern Kindern geröstete Walnüsse und Süssigkeiten zu geben, den Frauen schöne Gewänder, während es Männern anheimgestellt werde zur Schabbatfreude dem Fleisch und Wein zu frönen.

Eine der Säulen der jüdischen Lehre ist die Kaschrut, d.h. die Speisegesetze.

Die Vorschriften der Kaschrut laufen auf eine Verringerung des Fleischkonsums hinaus. Die Vielzahl der Regeln, und die zwischen fleischiger und milchiger Nahrung vorgeschriebene Essenspause, erschwert den Verzehr von Fleisch.

Auch das Töten von Tieren ist mit Auflagen verbunden. Anders als in anderen Glaubenslehren und Kulturen, durften Tiere nur im Tempel von Priestern geschlachtet werden. Nach der Zerstörung des 2. Tempels dürfen nur Rabbiner, die zugleich als Schlachter (Schochet) ausgebildet sind, Tiere schlachten. Tierarten, Tiergesundheit und  die Frage, welche Fleischteile als koscher bewertet wurden, werden von den Vorschriften der Kaschrut geregelt.

Töten durch Jagd oder  Töten im Akkord und vor den Augen anderer Tiere sind nicht koscher. Das Verbot der Jagd weist auf  auf die  Erwartungen Gottes an Israel, an Pflichten des von Gott erwählten Volkes hin: “Und ein heiliges Volk sollt ihr mir sein, und Fleisch eines auf dem Felde Zerrissenen esset nicht.” (Exodus 22:30)

Jagen ist, so Rabbiner Ezechiel Landau im 18. Jahrhundert (Talmud, Yoraah De`ah, 2, Serie 10), eine unjüdische Angelegenheit und sollte jedem Juden ein Greuel sein.

Das Mitgefühl in der Bestimmung “Pflüge nicht mit einem Ochsen und einem Esel zusammen” erschliesst sich dem Menschen, wenn er selbst sich an die Stelle des Esels und an die Stelle des Ochsen setzt und erkennt, welche Qual es für den Esel bedeutet, an der Seite eines grossem Ochsens zu ziehen und umgekehrt, wie wenig der Ochse mit den Schwächen den Esels konfrontiert in der ihm eigenen Geschwindigkeit seinen Weges gehen kann.

Ebenso wie es verboten ist, ein Böcklein in der Milch seiner Mutter zu kochen, darf ein Ochse nicht mit einem Esel zusammen pflügen, oder dem mahlenden Tier darf nicht das Maul verbunden werden, damit es hin und wieder von herabfallenden Halmen essen kann.

Diese Forderung an den Menschen, den Tieren mitfühlend zu begegnen, zeichnet die jüdische Kultur aus.

Die Illusion des „humanen“ Schlachtens
Nicht Opferungen ohne Ende  fordert der Schöpfer des Lebens, sondern “Recht halten, Liebe üben, und demütig wandeln.” (Micha 6:6-8)

Aus  jeder Zeile schimmert die Liebe auf, die der Mensch im unschuldigen Tier zu finden vermag und die das Tier in einem Artfremden sucht.

Awraham HaKohen Kook, selbst Vegetarier, erinnerte an die ethisch-moralische Dimension: “Die Vorschriften der Schlachtung, insbesondere jene, den Tieren Schmerzen zu ersparen, erinnern uns daran, dass wir es hier nicht mit Dingen zu tun haben, die ausserhalb des Gesetzes stehen, und Tiere keine Automaten sind, des Lebens entleert, sondern lebende Geschöpfe.”

Die Lehren des Volkes Israel fordern den Schutz der Tiere und der Natur, unabhängig von den Interessen des Menschen. Diese aussergewöhnliche Betonung der Beziehung von Mensch und Tier ist im Laufe der Geschichte verkannt und verfälscht worden. Juden werden bis heute von vielen Mitgliedern der säkulären Tierrechtsbewegungen als „Tierquäler“ verunglimpft, das rituelle Schlachten etwa wird als Beispiel archaischer Blutrituale bezeichnet, so als wäre Schlachten andernorts ein humaner, blutfreier Akt.  Allerdings gilt auch die Erkenntnis, dass es kein gutes Schlachten im falschen gibt.

Der Stress kann gerade unter den Bedingungen des industriell organisierten Massenschlachtens kaum verringert werden. Dennoch beruhen die Urteile über das rituelle jüdische Schlachten, die Schechita, auf Fehlwahrnehmungen, die wiederum von  antijüdischen Haltungen ausgelöst werden und diese dann bestätigen. Nicht die Juden sind für das Töten von Tieren verantwortlich, sondern die Fleischesser! Die Schechita hat  Regeln des Schlachtens aufgestellt, die das Leiden der Tiere verringern soll. Dass deren Umsetzung gerade unter den heutigen Bedingungen der industriell organisierten Schlachtstrassen kaum möglich ist, erfordert eine Auseinandersetzung mit der Technik dieser Schlachtanlagen. So kann die Forderung, ein Tier möge dem Schlachten eines anderen nicht beiwohnen, nicht umgesetzt werden. Auch individuelles Schlachten mit Segensspruch entfällt.

Die zentrale Forderung des jüdischen Schlachtens ist, das Tier müsse beim Schlachten lebendig sein. Daher das Verbot, Tiere vor dem Kehlschnitt, der zur Bewusstlosigkeit und zum Ausbluten führt, etwa durch einen Bolzenschuss zu verletzen, oder gar zu töten. Dies würde das Fleisch zu „Aas“ machen. Ein solches Fleisch könnte nie einen Koscherstempel erhalten. Daher müsste jede Methode, Tiere zu betäuben, umkehrbar sein. d.h. dem Tier dürfen keine  Verletzungen zugefügt werden, die tödlich wären.

Angesichts der enormen Wachstumszahlen der muslimischen Halal-Schlachtungen weltweit ist es jedoch dringend nötig, dass Schlachthöfe –  egal wo und für welche Religionsgemeinschaft geschlachtet wird – Tierschutzbestimmungen erfüllen müssen.

Eine Methode, die  Forderungen der Schechita zu erfüllen und das Tierleid in Akkord-Schlachtanlagen zu verringern, bietet die Methode der reversiblen Elektro-Kurzzeitbetäubung, die dem Tier keine Verletzungen zufügt  (der Nachteil: das Zeitfenster bis das Tier wieder aufwacht, ist sehr klein).

Öko-Kaschrut und vegane Ernährung
Bereits in den siebziger Jahren entstand in den USA die „Öko-Kaschrut“: Fragen der Tierhaltung, der Vermeidung von Tierquälereien bei der  Aufzucht und dem Transport der Tiere bestimmen darüber, ob das Tierfleisch „koscher“ wird.

Das bedeutet, keine Eier aus Legebatterien, kein Fleisch aus Tierfabriken, keine Milch aus tierquälerischer Trennung von Mutterkuh und Kälbchen, keine Lebensmittel, die durch Mästen mit genmanipulierten Futtermitteln entstanden ist, kein Zwangsfüttern von Tieren, keine Genmanipulation an Tieren, um schnelleres Wachstum zu bewirken und Förderung der vegetarischen Lebensweise.

Hummus längst ein jüdisches „Nationalgericht“

Seit den 90ziger Jahren hat sich jedoch die vegane, ausschliesslich auf  Pflanzen, Nüssen und Früchten beruhende Ernährung bei den meisten Tierrechtlern durchgesetzt. In Israel, das inzwischen als Land mit der zweitstärksten veganen Bevölkerung (nach Indien) gilt, ist vegane Ernährung inzwischen sehr populär, zumal sie  heute durch Vitamin B 12 Gabe, nicht mehr mit Ernnährungsdefiziten einhergeht und auch für Schwangere, Sportler und Babies gesund ist.

Erinnern wir uns an den Auftrag der Tora: Tikkun Olam, die Welt zu verbessern, die  Erde zu schützen (Schomer ha adama) und ihre  Geschöpfe vor der Auslöschung  bewahren. Die Gebote der jüdischen Tierethik  tragen stets  einen Subtext: Erlösung. Jeder einzelne Mensch ist aufgefordert, seiner Verantwortung für die Erde nachzukommen und das ihm Mögliche beizutragen. Und sei es durch die Wahl einer Nahrung, bei der  kein weiteres Blut verschüttet werden muss. Leider  wird bis zum heutigen Tag jüdische Kultur und Brauchtum mit Fleischgerichten identifiziert, vom Tschulent mit seinen verschiedenen Fleischsorten, bis hin zu Grossmutters wundersamer Hühnersuppe. Angesichts der Erkenntnisse über die Folgen des weltweit explosiv angestiegenen Fleischkonsums, ist es wichtig, die pflanzenbasierte Ernährung ins Auge zu fassen, zumal sie sowohl von der Tora, als auch dem Wunsch nach Lebensfreude entspricht. Und ist  nicht Hummus längst ein jüdisches „Nationalgericht“?

Selbst auf die traditionelle Käsetorte oder Eiscreme zu Schawuot muss nicht verzichtet werden. Pflanzlicher Quark, Sahne etc ist eine tierfreundliche und leckere Angelegenheit.

Hanna Rheinz, Promovierte Psychologin und Magister der Kulturwissenschaften, Publizistin für zahlreiche Printmedien, hat die Mensch-Tier-Bindung zum Mittelpunkt ihres intellektuellen, wissenschaftlichen und künstlerischen Schaffens sowie ihres Lebensalltags gemacht. In zahlreichen Büchern, Essays und Artikeln hat sie aus jüdischer Perspektive-, die Aspekte der Mensch-Tier-Beziehung analysiert.

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