Der Holocaust: Viele Schurken, wenige Helden

1
Die Nürnberger Prozesse vor siebzig Jahren . Von links nach rechts : In der ersten Reihe, Hermann Göring, Rudolf Hess, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Keitel, Ernest Kaltenbrunner. In der zweiten Reihe, Karl Dönitz, Erich Raeder, Baldur von Schirach und Fritz Sauckel . Foto zVg
Lesezeit: 4 Minuten

Im Zuge des Gedenkens zum 70. Jahrestag der Nürnberger Prozesse, bei denen ausgewählte führende Nazis auf der Anklagebank sassen, müssen wir uns einige beunruhigende Fragen über diejenigen stellen, die wegen ihrer Mittäterschaft am weltweit schlimmsten Genozid nie vor Gericht gestellt wurden.

Von Alan M. Dershowitz

Es wäre unmöglich gewesen, den Massenmord an so vielen Menschen ohne die Mittäterschaft vieler Regierungen, Gruppen und Einzelpersonen durchzuführen. Vielleicht gab es zu viele schuldige Parteien, um sie alle vor Gericht zu stellen; es ist jedoch nie zu spät, die Schuldigen moralisch für ihre Taten und Versäumnisse zur Verantwortung zu ziehen.

Um es klarzustellen, die Personen mit der grössten Schuld waren die Nazi-Führer, die die Endlösung direkt planten und umsetzten. Ihre Zielsetzung bestand darin, Juden aus der ganzen Welt zusammenzutreiben, um sie zu töten und das zu vernichten, was sie als die „Jüdische Rasse“ betrachteten. Sie kamen dem von ihnen gewünschten Erfolg relativ nahe, indem sie nahezu alle europäischen Juden in einem kurzen Zeitraum auslöschten. Diese Nazi-Führer hatten die Unterstützung vieler „williger Henker“, sowohl in Deutschland als auch in den Ländern unter seiner Kontrolle. Unter den schlimmsten Schuldigen waren viele einzelne Litauer, Letten, Ungarn, Slowaken, Polen, Ukrainer und andere. Es gab in diesen Gruppen auch einige Helden und diese werden zu Recht geehrt und im Gedächtnis behalten. Die Anzahl der Schurken reicht jedoch weit über die Anzahl der Helden hinaus.

Dann gab es da noch die schuldigen Regierungen, die kooperierten und dazu beitrugen, die Deportationen und das Zusammentreiben zu vereinfachen. Die französische Regierung deportierte mehr Juden, als die Nazis von ihr forderten. Andere Regierungen, einschliesslich der Regierungen von Norwegen, der Niederlande und von Ungarn, unterstützten die Nazis ebenfalls darin, ihr völkermordendes Ziel zu erreichen. Andererseits weigerten sich Bulgarien und Dänemark, beim Völkermord der Nazis zu kooperieren, und ihre jeweils kleine jüdische Bevölkerung wurde gerettet.

Es gab auch Länder, die sich weigerten, Juden aufzunehmen, die vor den Nazis gerettet worden wären, wäre ihnen die Einreise gestattet worden. Zu diesen Ländern gehören die USA, Kanada und viele andere potenzielle Zufluchtsorte, die ihre Türen verschlossen. Auch in den USA und in Kanada gab es Helden, die Druck auf ihre politischen Führungskräfte ausübten, mehr zu tun; die meisten hatten jedoch keinen Erfolg.

Viele arabische und muslimische Anführer spielten gleichermassen unehrenhafte Rollen, indem sie sich an die Seite der Nazis stellten und ihre eigenen Pogrome gegen einheimische Juden  ausführten. Der führende Schuft war in dieser Hinsicht der Grossmufti von Jerusalem, der sich mit Hitler in Berlin zusammentat und eine praktische Rolle dabei spielte, Juden in den Tod zu schicken und die Türen Palästinas für jüdische Flüchtlinge geschlossen zu halten.

Hätten Grossbritannien und die USA mehr tun können, um den Genozid zu beenden? Hätten sie die Bahngleise nach Auschwitz und zu den anderen Todeslagern bombardieren können? Dies sind komplexe Fragen, die gestellt, jedoch seit 1945 nicht in zufriedenstellender Weise beantwortet wurden.

Und dann gab es da auch diejenigen, die die in Nürnberg verurteilten Nazis begnadigten und ihr Strafmass umwandelten und andere, die den Nazis dabei halfen, einer Strafverfolgung nach Ende des Krieges zu entgehen. Diese Liste ist zu lang und verstörend.

Die Nürnberger Prozesse entschuldigten implizit die Personen, die durch ihre Handlungen und Unterlassungen weniger direkte und doch wichtige Rollen spielten, indem sich die Prozesse eng auf die führenden Nazis und ihre direkten Gefolgsleute konzentrierten. Gerichte sind naturgemäss in dem beschränkt, was sie leisten können, um eine grosse Anzahl von Einzelpersonen zur Rechenschaft zu ziehen, die zu einem weiten Kontinuum rechtlicher und moralischer Schuld gehören. Historiker, Philosophen, Juristen und gewöhnliche Bürger unterliegen jedoch einer solchen Beschränkung nicht. Wir können mit dem Finger auf die Schande all derjenigen zeigen, die es verdienen, beschuldigt zu werden, unabhängig davon, ob sie in Nürnberg oder in späteren Prozessen vor Gericht gestellt wurden oder nicht.

Es wird niemals perfekte Gerechtigkeit im Hinblick auf diejenigen herrschen, die zur Umsetzung des Holocausts beitrugen. Die Mehrzahl der Schuldigen entging einer Strafverfolgung, lebte ein glückliches Leben und starb im Kreise ihrer Lieben in ihren Betten. Westdeutschland erblühte infolge des Marshall-Plans zum Wohlstand, während viele deutsche Industrielle, die die Zwangsarbeit zu ihrem Vorteil nutzten, auch weiterhin infolge des wahrgenommenen Bedarfs des Kalten Krieges profitierten. Die Waage der Justitia bleibt im Ungleichgewicht. Vielleicht hilft dies zu erklären, warum mehr als 6 Millionen Menschen in vermeidbaren Genoziden ermordet wurden – in Kambodscha, Ruanda, Darfur und an anderen Orten – seit die Welt sich schwor: „Nie wieder.”

Es besteht natürlich die Gefahr, dass wir, indem wir alle beschuldigen, niemandem die Schuld geben. Es ist wichtig, die Verantwortung derjenigen, die im Holocaust unterschiedliche Rollen spielten, auf ein genaues Mass zu bringen. Dies ist eine gewaltige Aufgabe, die jedoch übernommen werden muss, wenn Völkermorde in Zukunft verhindert werden sollen.

In englisch zuerst erschienen bei Gatestone Institute. Alan M. Dershowitz ist langjähriger Professor an der Harvard Law School. Professor Alan Dershowitz teilt sich gemeinsam mit Professor Irwin Cotler den Vorsitz eines Symposiums über das Erbe von Nürnberg am 4. Mai 2016 in Krakau.

1 Kommentar

  1. Was für ein Thema!

    Wann trägt man eigentlich an etwas die Schuld?
    Dazu muss Schuld in einem rechtlichen Sinne definiert werden:
    es ist der Eigenanteil, den ein Mensch am Zustandekommen eines Unfalls, einer Ordnungswidrigkeit oder einer Straftat trägt; er umfasst insbesondere auch den Anteil an der verursachten Gefährdung und/oder Schädigung und deren möglichen Folgen.

    Hier kristallisiert sich bereits eines heraus:
    Wer keine Einwirkungsmöglichkeiten auf ein Geschehen hat, trägt auch keine Schuld!
    Das reduziert die Anzahl der potentiell Schuldigen erheblich.
    Und führt zu möglichem Zwist und Streit:
    Dann nämlich hätten die Deutschen, die der “Gnade der späten Geburt” anheimgefallen sind, definitiv keine Schuld, überhaupt keine Schuld.
    Upps!
    Was ist denn jetzt falsch?!
    Muss die Definition von Schuld überarbeitet werden oder taugt eine einzelne Definition für Begriffe wie Schuld und Freiheit nicht?

    Entscheide ein Jeder selbst!

    Untersuchen wir derweil die Einwirkungsmöglichkeiten von gesellschaftlichen Gruppen während des Dritten Reiches:
    Da gab es Gruppen innerhalb und außerhalb von Deutschland.
    Hätten die Kirchen mehr tuen müssen, welche Rolle spielte der Vatikan?
    Doch warum in die Ferne schweifen ….
    … wo das Böse doch auch so nahe liegt und gerne übersehen wird.

    Die Wirtschaft
    Ja, hier kommen wir zu den echten Schlechten!
    Bis heute gerne unter staatlichen und alliierten Welpenschutz gestellt, haben wir hier doch die Hauptinitiatoren, diejenigen, die in Ermangelung von ausreichend harter Beschäftigung Zeit und Muße hatten, zu intrigieren und mit Politikern Übles zu planen.
    Es war nicht von ungefähr, dass Hitler und Konsorten ausgerechnet über die Bevölkerungsschicht herfielen, die damals unbestritten den weltweiten Goldmarkt beherrschte.
    Hitler und Konsorten wurden durch Spendengelder der Wirtschaft auf den Thron gehievt und die NSDAP war übrigens nie eine Arbeiterpartei – nicht einmal von Arbeitern gegründet!
    Wenn eine Personengruppe nach dem Krieg an den Galgen gehört hätte, dann sicherlich der gesamte gottverfluchte Keppler-Kreis, später besser bekannt als “Freundeskreis der Waffen-SS Heinrich Himmler”.
    Und bei diesem erlauchten Kreis hätte man auch nicht wählerisch sein und getrost alle in einen Sack stecken sollen.
    Es ginge über die Möglichkeiten eines einzelnen Kommentars weit hinaus, die Untaten dieser Gierhälse einzeln aufzuführen, aber es soll nicht unerwähnt bleiben, dass es genau diese Leute aus der Wirtschaft waren, die Hitler anspornten, bis runter nach Griechenland kleine wehrlose Staaten zu überfallen, damit das deutsche nichtjüdische Großkapital über die lohnendsten Betriebe der Besiegten herfallen konnte.
    Andere Themen dieses Bereichs: Beutekunst, Goldvorräte zur Währungssicherung, Katholische Kirche führt Beutezug gegen die Orthodoxen Kirchen.

    Die Verwaltung
    Wer in Filmklassikern schon immer die Rolle des so hässlichen wie speichelleckenden Igor, wahlweise Draculas oder Frankensteins willenlosen Knecht, verabscheute, der kommt hier voll auf seine Kosten:
    Ja, Adolf Hitler hat weder alleine Millionen von Juden vernichtet noch alleine die russische Armee angegriffen!
    Ob es galt, die Juden zusammen zu treiben, sie zu zählen oder die Logistik von Konzentration oder Vernichtung zusammen zu stellen – Igor war stets zugegen und sich für keinen Job zu schade.
    Die deutsche Verwaltung in Person jedes kleinen Sachbearbeiters, jedes Abteilungs- oder Behördenleiters schoß sogar beständig über die gesetzten Ziele der Vernichtung jüdischen Lebens weit hinaus.
    Da wuchsen vor Ort kleine Sachbearbeiter zu Halbgöttern heran, die völlig charakterlos den ihnen zugewiesenen Aufgaben der Begehung von Gräueln – in vorauseilendem Gehorsam -noch weitere Grausamkeiten abgewinnen konnten.
    Die Dämonen von Geldgier bis Karrieresucht, die damals gerade die labilsten und schwächsten “Staatsdiener” befallen hatte, zu beschreiben, würde ganze Bücher füllen.

    Die Bevölkerung
    Hatten die Menschen damals nicht Adolf Hitler gewählt?
    Na und!
    Wussten die Menschen denn damals, was Hitler neben einer Beendigung der verhassten Reparationszahlungen noch alles vorhatte?
    Stand im Parteiprogramm, stand im Buch “Mein Kampf”!
    Ich bitte Sie:
    Wer liest denn Parteiprogramme oder Bücher von Politikern!
    Und inwiefern generiert sich daraus eine Schuld?
    Und wenn sich daraus eine Schuld generieren würde
    – gemessen an der Einwirkungsmöglichkeit, die ein einzelner Wähler auf die sich erst noch entwickelnde Mordmaschinerie “Drittes Reich” gehabt hätte
    – kann man da von einer Schuld sprechen?

    Entscheide ein Jeder selbst!

Kommentarfunktion ist geschlossen.