Wie bedroht ist Israel wirklich?

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Demonstration gegen Israel am 10. Januar 2009 in Paris. Foto Flickr.com / looking4poetry. CC BY-NC-ND 2.0
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Ende des 19. Jahrhunderts sind die Juden mit dem Zionismus als Nationalvolk aktiv in die Geschichte eingetreten, um ihr Schicksal selber zu bestimmen. Mit der Staatsgründung haben sie einen Zufluchtsort für bedrohte Juden aus aller Welt geschaffen, wie man an der steten Einwanderung heute sogar aus Frankreich, Belgien oder der Ukraine sehen kann.

Wegen einseitigen, antisemitisch orientierten Verurteilungen durch Menschenrechtsorganisationen, des Menschrechtsrates der UNO, BDS oder anderen Organisationen werden die Juden Israels ganz gewiss nicht ihre Koffer packen, „um nach Auschwitz zurückzukehren“, wie es die palästinensische Propaganda fordert. Im Spiegel und anderen europäischen Medien wird eine akute Bedrohung Israels als Hirngespinst von Premierminister Benjamin Netanjahu abgetan, das seinem eigenen Machterhalt diene. Das sind Argumente, über die es kaum lohnt, zu diskutieren, wie es kürzlich Alex Feuerherdt in seiner vorzüglichen Analyse präsentiert hat.

Doch bleibt die Frage im Raum, wie bedroht Israel tatsächlich ist.

Seit 1973 kein „Krieg“ mehr

Die arabischen Staaten sind fest davon überzeugt, dass Israel eine Atommacht sei, obgleich Israel den Besitz einer Atombombe weder bestätigt noch dementiert hat. Diese Gewissheit führte Anwar el Sadat nach seinem verlorenen Krieg von 1973 dazu, mit Israel Frieden zu schliessen, weil der jüdische Staat angeblich „unbesiegbar“ sei. Jordanien folgte später, wobei Jordanien als gemässigter Verbündeter des Westens immer schon heimlich freundschaftliche Beziehungen mit den Israelis pflegte. Syrien ist und war ein Erzfeind Israels. Doch zwischen beiden Ländern funktioniert seit 1973 eine gegenseitige Abschreckung. Die Syrer konnten mit ihren inzwischen hoffnungslos veralteten Raketen jeden Punkt in Israel treffen, während Israel mit seiner Luftwaffe genauso schnell und effektiv Syrien hätte zerstören können.

In Nahost gab es seit 1973 keinen „Krieg“ mehr – also einen bewaffneten Zusammenstoss stehender Armeen von zwei Staaten.

Ruhe an der „Front“

Inzwischen haben sich die Interessen der arabischen Staaten derart gewandelt, dass man sie schon fast als Verbündete Israels betrachten könnte. Ägypten kämpft gegen ISIS im Sinai und gegen die Hamas im Gazastreifen, weil sie gemeinsame Sache mit den schlimmsten Feinden des Regimes, den Moslembrüdern machen. Deshalb kooperiert Ägypten mit Israel, das Ägypten, im Widerspruch zum Friedensvertrag, erlaubt, schwere Waffen und die Armee im Sinai einzusetzen. Zudem ist Israel ein Garant für die Existenz Jordaniens, falls IS oder Irak versuchen sollten, Jordanien auszulöschen.

Syrien ist noch Erzfeind und die Golanhöhen sind weiter von Israel besetzt. Doch da sich Syrien in einem Zustand der Auflösung befindet, scheint das Assad-Regime keinerlei Interesse zu haben, jetzt auch noch Krieg gegen Israel führen zu müssen. Israel hingegen würdigt die Zurückhaltung Assads und schlägt nur dann zu, wenn seine Sicherheitsinteressen, etwa durch die Lieferung von modernen Raketen an die Hisbollah im Libanon, tangiert werden. Die Waffenstillstandslinie auf den Golanhöhen bleibt daher weitgehend ruhig, obgleich sich auf der syrischen Seite sowohl Kämpfer der Hisbollah als auch Iraner tummeln.

Nichts verbindet so sehr wie ein gemeinsamer Feind

Im erweiterten Kreis der klassischen Feinde Israels hat sich auch viel verändert. Saudi-Arabien und die Golfemirate sehen in Israel heute eher einen heimlichen Verbündeten, vor allem im Widerstand gegen Iran. In Qatar wurde erstmals eine israelische Flagge öffentlich gehisst und es ist die Rede von israelischen Waffenlieferungen an diese Länder, speziell des Abwehrsystems Iron Dome (Eisenkappe). Alles geschieht natürlich auf Umwegen und über Drittländer. Dennoch gab es sogar öffentliche Treffen und Händegeschüttel, speziell mit Saudis, während israelische Sportler in Doha auftreten können – gleichwohl nicht unter ihrer Flagge.

Der Iran und die Terror – Milizen

Der grosse Feind ist und bleibt im Augenblick Iran. Die Gefahr einer atomaren Aufrüstung Teherans scheint für einige Jahr gebannt zu sein. Aber Testraketen mit der Aufschrift „Israel muss ausgelöscht werden“, sprechen ihre eigene Sprache.

Im näheren Umkreis stellen die Hamas im Gazastreifen, die Hisbollah im Libanon und die Palästinenser im Westjordanland eine gewisse Gefahr für Israel dar.

Libanonkrieg 2006 – die Lektion wirkt nach

Gegen die Hisbollah und einst gegen die PLO im Libanon hat Israel mehrere grössere Militäroperationen unternommen, die nicht als „Krieg“ bezeichnet werden sollten, weil sie nicht gegen den Staat Libanon gerichtet waren, sondern gegen dort agierende Milizen. Seit dem letzten „Libanonkrieg“ 2006 herrscht eine erstaunliche Ruhe, offensichtlich, weil Israels Vorgehen sehr viel erfolgreicher war, als dargestellt. Jedenfalls wagt es die Hisbollah seitdem trotz eines gewaltigen Raketenarsenals nicht mehr, Israel frontal anzugreifen und beschränkt sich auf bedrohliche Rhetorik. Israel hat offenbar 2006 dank Geheimdienstarbeit sehr zielgenau die Raketenbunker der Hisbollah getroffen und zerstört. Ebenso hat Israel über zwei Drittel der Kämpfer der Hisbollah getötet oder verletzt. Dieses Risiko will die Hisbollah bislang nicht wieder eingehen.

Die Hamas hat sich 2014 selber geschadet

Mit der Hamas sieht es ähnlich aus. Die hat nach dem Abschuss von rund 12.000 Raketen auf Israel bereits zweimal, 2009 und 2014 die zerstörerische Macht Israels zu spüren bekommen. 2014 war klar, dass Israels Militär (und damit auch Regierungschef Netanjahu) keine Absicht hatten, die Hamas zu zerstören oder zu vertreiben. Doch die Lektion wirkt bis heute nach, zumal die Moslembrüder aus dem Gazastreifen mit über 2.200 Toten, von denen nachweislich mindestens die Hälfte Kämpfer waren, zu spüren bekommen haben, dass deren 14-malige Verweigerung eines Waffenstillstandes vor allem ihnen selber schadete. Israel konnte sich weitgehend schadlos halten dank der Entwicklung und des Einsatzes der Eisenkappe, dem weltweit ersten erfolgreichen Abwehrsystem gegen Kurzstreckenraketen.

Seit jenem „Krieg“ 2014 ist die Hamas ernsthaft bemüht, Raketenbeschuss Israels durch andere radikale Gruppen zu unterbinden. Und falls dennoch die Ruhe gebrochen wird, erfährt die Hamas Israels Reaktion, durch Bombardements ihrer Stellungen.

Insgesamt steht Israel heute also besser da als jemals zuvor in seiner Geschichte. Gleichwohl kann und darf es sich nicht auf seinen „Lorbeeren“ ausruhen, denn es muss die Abschreckung aufrechterhalten. Ohne die von Netanjahu geforderte Entmilitarisierung könnte ein voll aufgerüsteter palästinensischer Staat tatsächlich eine akute Bedrohung darstellen, weil dessen Staatsgrenzen bis zu den Bevölkerungszentren Israels bei Tel Aviv wie in Jerusalem reichen würden.

Der Vernichtungswille des Iran, der arabischen Führer und auch der Palästinenser erinnert jeden Israeli daran, dass allein die ständige Kampfbereitschaft einen weiteren Holocaust verhindern kann.  Und die Geschichte der antijüdischen Pogrome in Europa wie in der arabischen Welt gehören zum Erbe jeder jüdischen Familie in Israel.

Die Linken wollten Frieden und bahnten dem Terror den Weg

Netanjahu kann bei nüchterner Betrachtung keine „Angstmache“ vorgeworfen werden. Aus innerisraelischer Sicht muss man konstatieren, dass es die Linken waren, die erst unter Rabin mit den Osloer Verträgen und der Rückkehr Arafats mitsamt seinen Kämpfern den Terror in die Strassen israelischer Städte gebracht haben. Es war Ehud Barak, der mit dem Rückzug aus Libanon den Weg zur zweiten Intifada geebnet hat, während ausgerechnet Ariel Scharon dem Spuk der Selbstmordattentäter durch den Bau von Mauer und Zaun ein Ende gesetzt hat.

Antisemitische Propaganda schadet Europa mehr als Israel

Zuletzt bleiben noch die diplomatischen Aktivitäten der Autonomiebehörde und die weltweite Propaganda von BDS. Diese Aktionen schaden dem Ansehen Israels und es gibt noch keine adäquate Antwort darauf. Aber am Ende werden UNO-Resolutionen und Verurteilungen wohl kaum zu einem Ende des jüdischen Staates führen.

Durch die mörderischen Angriffe auf Juden in Europa und dem aggressiven Antisemitismus, der bis hinein in akademische Kreise wirkt, ist ein wesentlicher Bestandteil der europäischen Kultur ein weiteres Mal massiv gefährdet. Die steigenden Zahlen jüdischer Auswanderer sprechen eine eigene Sprache: Die Juden sind immer noch der „Kanarienvogel“, der anzeigt, wann die Luft der Freiheit dünn wird.

Über Ulrich W. Sahm

Ulrich W. Sahm, Sohn eines deutschen Diplomaten, belegte nach erfolgtem Hochschulabschluss in ev. Theologie, Judaistik und Linguistik in Deutschland noch ein Studium der Hebräischen Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1975 ist Ulrich Sahm Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien und berichtet direkt aus Jerusalem.

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2 Kommentare

  1. Absolut richtig. Weder Streitkräfte der arabischen Welt, noch die
    Hamas/Hisbollah stellen eine existenzielle militärische Bedrohung für
    Israel dar (mal von den Träumen des Irans und noch unvorhersehbaren
    Folgen der russischen Einmischung in Syrien abgesehen). Aber das ist nur
    eine Halbwahrheit. Die andere Hälfte besteht darin, dass sich Israel
    im Umschlingen eines öffentlich-politischen Pythons befindet. Und
    dieses Umschlingen scheint immer enger zu werden. Man versucht die Vorgehensweise mit der
    Republik Südafrika zu wiederholen… Der Autor sieht es auch und bleibt
    trotzdem optimistisch. Möge er recht behalten!

  2. Absolut richtig. Weder Streitkräfte der arabischen Welt,
    noch Hamas/Hisbollah stellen eine existenzielle militärische Bedrohung für
    Israel dar (mal von den Träumen des Irans und noch unvorhersehbaren
    Folgen der russischen Einmischung in Syrien abgesehen). Aber das ist nur eine
    Halbwahrheit. Die andere Hälfte besteht darin, dass sich Israel im Umschlingen
    eines diplomatischen Pythons befindet. Und dieses Umschlingen scheint immer
    enger werden. Man versucht die Vorgehensweise mit der Republik Südafrika zu
    wiederholen… Der Autor sieht es auch und ist trotzdem optimistisch. Möge er
    recht behalten!

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