Terrorismus in der Presse: Nicht alle Massaker sind gleich wichtig

1
Lesezeit: 7 Minuten

Für westliche Medien beiderseits des Atlantiks sind die meisten dschihadistischen Terroranschläge kaum eine Meldung wert. Über das Massaker in Lahore wurde weitaus weniger berichtet als über den Anschlag in Brüssel – und Terror in Afrika wird so gut wie nicht zur Kenntnis genommen. Geht es um Mord an Juden, fällt es Journalisten und Regierungen schwer, irgendwo Antisemitismus zu erkennen.

Wollen Journalisten womöglich am liebsten gar nicht über Terrorismus reden und tun es nur widerwillig – dann, wenn es wegen der geografischen Nähe des Anschlagsziels unvermeidlich ist? Würde über alle Terroranschläge berichtet werden, würde das vielleicht zu Erkenntnissen führen, die dem Medienestablishment unangenehm wären: Niemand könnte mehr leugnen, dass Dschihadisten einen Weltkrieg führen – gegen alle, die aus ihrer Sicht den Tod verdient haben: Christen, Juden, Kurden, Hindus und solche Muslime, die den Terroristen als nicht schariatreu gelten oder von ihnen als Konkurrenten im Kampf um die Macht wahrgenommen werden. Allein zwischen 2002 und 2013 wurden in Pakistan 53.000 Menschen im Namen des Islam ermordet.

Doch Massaker wie das am 27. März in Lahore verübte (derzeitige Bilanz: 75 Tote) bekommen im Westen deutlich weniger Medienaufmerksamkeit als Terroranschläge in Paris oder Brüssel.

Noch weniger beachtet werden die vielen islamistisch motivierten Taten in Afrika.

Ist das Rassismus? Sind Terroropfer desto weniger nachrichtenwert, je dunkler ihre Hautfarbe ist? Oder stecken Journalisten der Mainstreammedien in der Falle ihrer linken Ideologie, wonach Terrorismus eine „Waffe der Schwachen“ sei, womöglich gar eine Reaktion auf die „Politik des Westens“? – Dieser Irrglaube würde schnell als solcher entlarvt, wenn ausführlicher darüber berichtet würde, in welchen Ländern der Welt der islamische Terrorismus am stärksten wütet und gegen wen er sich dort richtet. Oder ist die Schieflage in der Berichterstattung am Ende vielleicht doch nicht so gravierend wie es den Anschein hat?

„Über die meisten Anschläge wird nicht berichtet“
Audiatur Online sprach mit zwei Wissenschaftlern, die – unabhängig voneinander –Medienberichterstattung über Terroranschläge untersucht haben. Aaron M. Hoffman, Dozent für Politikwissenschaft an der Purdue University in Indiana, hat am Beispiel der „Washington Post“ und der „USA Today“ in einer 2010 veröffentlichten Studie untersucht, wie die Funktionsweise des Nachrichtenwesens die Berichterstattung über Terroranschläge beeinflusst. Er vermutet, dass die Unterschiede in der Berichterstattung in erster Linie auf die Erwartungen des Zielpublikums zurückzuführen seien. „So haben die Untersuchungen, die meine Mitarbeiter und ich durchgeführt haben, ergeben, dass über Anschläge, bei denen Amerikaner getötet oder verletzt wurden, wesentlich mehr berichtet wird, als über solche, bei denen keine amerikanischen Bürger zuschaden kamen.“ Das schlage sich in der Länge der Artikel nieder und in der Wahrscheinlichkeit, dass sie auf der Titelseite erscheinen. „Über Anschläge, bei denen viel mehr Menschen getötet wurden [aber keine Amerikaner], wird oft nur kurz irgendwo im Innern der Zeitung berichtet“, sagt Hoffman. Interessanterweise würde aber z.B. in der „Washington Post“ über Attentate im Nahen Osten oft ausführlicher berichtet als über solche in Europa. „Terrorismus in Afrika hingegen wird in der westlichen Presse in der Regel weniger Aufmerksamkeit gewidmet. Bei Terroranschlägen andernorts spielt oft eine Rolle, ob der Islamische Staat – eine Gruppe, die von Westlern derzeit als besonders gefährlich empfunden wird – hinter einem Anschlag steckt oder nicht“, so Hoffman.

Auch James Igoe Walsh, Professor für Politikwissenschaft an der University North Carolina und Projektleiter der Studie Media Attention to Terrorist Attacks: Causes and Consequences, sieht die Erwartung der Medienkonsumenten als einen wichtigen Grund für die Asymmetrie der Berichterstattung: „Sie interessieren sich mehr für Anschläge auf Ziele, die sie kennen, von denen viele in Europa liegen. Vielleicht fühlen sie auch eine gewisse kulturelle Nähe zu anderen westlichen Ländern.“ Ein weiterer Grund ist aus seiner Sicht die Struktur der Medienindustrie: „Es ist eben viel leichter, über einen Anschlag in Europa zu berichten. Es ist einfach und sicher, an den Ort des Anschlags zu reisen, es gibt die für die Berichterstattung nötige Infrastruktur usw.“

Gefragt, ob er bestätigen könne, dass sich westliche Journalisten kaum für terroristisch motivierte Bluttaten interessieren, wenn diese in Südasien oder Afrika stattfinden, antwortet er: „Ja, es gibt einige Belege, die dafür sprechen. Über die allermeisten Anschläge der Welt – die eben in Ländern wie Pakistan verübt werden – wird gar nicht berichtet.“ Schon eine Untersuchung der Berichterstattung in den 1970er und 1980er Jahren, die die beiden amerikanischen Wissenschaftler Gabriel Weimann und Conrad Winn 1994 durchgeführt hätten, sei zu dem Ergebnis gekommen, dass über einen Anschlag im Nahen Osten oder Europa in amerikanischen Zeitungen mit einer doppelt so hohen Wahrscheinlichkeit berichtet werde wie bei einem Anschlag andernorts. „Dieses Muster ist also wohl nicht neu“, so Walsh. Den Anschlägen in Paris und Brüssel werde mehr Aufmerksamkeit gewidmet als etwa solchen in Bagdad oder Lahore, weil jene als für den Westen bedrohlicher empfunden würden, vermutet Walsh:

„Wenn ISIS oder die pakistanischen Taliban in Bagdad bzw. Lahore einen Anschlag verüben, wird dies bloss als eine Gefahr für die jeweilige Regierung gesehen. Verübt hingegen dieselbe Organisation einen Anschlag in New York (wie etwa im Jahr 2010 im Falle des gescheiterten Time-Square-Attentäters, der angab, im Auftrag der pakistanischen Taliban gehandelt zu haben) oder in Europa (wie bei den Anschlägen des IS in Paris und Brüssel), dann deutet dies daraufhin, dass diese Organisationen Schritte unternehmen, ausserhalb ihres Landes anzugreifen. Und wenn der IS Belgien angreift, dann kann man vernünftigerweise folgern, dass er auch an Anschlägen in Deutschland, Grossbritannien oder den USA interessiert sein wird.“

Unterscheiden sich die Berichte über Anschläge in westlichen und nichtwestlichen Staaten nur quantitativ voneinander oder auch im Ton? „Ich weiss nicht, ob irgendjemand diese Frage beantwortet hat“, sagt Walsh. „Ich würde spekulieren, dass bei der Berichterstattung über Terroranschläge im Westen vielleicht ein ‚weicherer’, emotionalerer Ton angeschlagen wird. Das könnte daran liegen, dass es bei einer ausführlicheren Berichterstattung auch mehr freien Platz für solche Beiträge gibt – oder daran, dass sich die Konsumenten den Opfern näher fühlen.“

Richtig sei diese ungleiche Berichterstattung zwar nicht: „Alle Opfer sollten gleich behandelt werden, unabhängig davon, wo ein Anschlag stattfindet.“ Gleichzeitig müsse man aber auch erkennen, dass die Medienindustrie von immer stärkerer Konkurrenz geprägt sei. „Nachrichtenorgane, die etwas bringen, von dem sie annehmen, dass es das ist, was die Konsumenten wollen, sind im Vorteil. Es wäre also schwierig, an diesem Anreiz etwas zu ändern, ohne die Anreize der Medien insgesamt zu verändern – der Medien als einer Industrie, die Zuschauer bzw. Leser braucht, um zu überleben.“

Mord an Juden: „Purer Zufall“
Ein Fall für sich – sowohl, was die Medienberichterstattung als auch Stellungnahmen von westlichen Regierungsvertretern betrifft – sind wiederum Terroranschläge auf europäische Juden oder jüdische Israelis. Ausgerechnet in unserer Zeit, in der Politiker, Journalisten und sonstige Meinungsführer sich stärker denn je dem – tatsächlichen oder eingebildeten – Leid von Minderheiten widmen, wird selten von Antisemitismus gesprochen, wenn Juden ermordet werden. Da kann ein Anschlag auf eine jüdische Schule verübt werden (wie am 19. März 2012 in Toulouse), auf ein jüdisches Museum (wie am 24. Mai 2014 in Brüssel), auf eine Synagoge, in der gerade eine Bat-Mitzvah gefeiert wird (wie am 14. Februar 2015 in Kopenhagen) oder auf einen Supermarkt für koschere Waren (wie am 9. Januar 2015 in Paris) – die Wörter „Antisemitismus“ oder „Judenhass“ kommen kaum einem Journalisten jemals über die Lippen. Und selten nur wird einmal ein antisemitisch motivierter Mord in den richtigen Zusammenhang gesetzt, also eine Verbindung zu vergleichbaren antijüdischen Terrorattacken der jüngsten Zeit hergestellt.

Noch haarsträubender ist die Berichterstattung, wenn es um Morde an Juden in Israel geht. Auch hier wird nicht von Mord an Juden gesprochen – obwohl viele der Täter selbst nach der Tat (wenn sie überleben) oder vorab (etwa über die sozialen Medien oder Bekennervideos) sagen, dass es ihnen um nichts anderes geht, als darum, Juden zu töten. Das aber, so scheint es, wollen viele Journalisten gar nicht wissen und teilen es auch ihren Lesern niemals mit.

Ebenso schäbig ist die derzeitige Riege der westlichen Staatenlenker. Der deutsche Aussenminister Frank-Walter Steinmeier verband mit dem Blutbad in der Jerusalemer Kehilat-Bnei-Torah im November 2014 sogleich die „Hoffnung“, dass dies „ein Weckruf“ sein werde, also etwas durchaus Nützliches. Würde er das auch über Anschläge in Europa sagen?

Der amerikanische Präsident Barrack Obama wiederum bezeichnete die Morde in dem koscheren HyperCacher-Markt in Paris als einen „zufälligen“ Angriff „auf ein paar Leute in einem Deli (Delikatessengeschäft)“. Und US-Aussenminister John Kerry zeigte nach den Terroranschlägen vom 13. November 2015 sogar Verständnis für die Anschläge vom Januar: „Es gibt einen Unterschied zu Charlie Hebdo, und ich denke, dass jeder ihn spürt. [Der Anschlag auf Charlie Hebdo] hatte einen besonderen Fokus und vielleicht sogar eine Legitimation im Hinblick auf – keine Legitimation, aber eine Ratio, die man sich irgendwie zueigen machen kann und sagen: OK, sie sind wirklich wütend wegen diesem und jenem. Dieser Freitag hingegen war völlig unterschiedslos.“

John Kerry gab damals auf besonders ungeschickte Weise einer verbreiteten Geisteshaltung Ausdruck: dass es Terroristen gäbe, die mit ihren Taten auf irgendwie begreifbare Anliegen aufmerksam machen wollten – und dass manche Opfer es sich vielleicht selbst zuzuschreiben hätten, wenn sie getötet werden.

Die Wahrheit ist: Ob Dschihadisten Terroranschläge in Paris, Nairobi, Brüssel, Jerusalem oder Lahore verüben, sie sind immer von derselben Motivation getrieben. Im weltweiten Krieg gegen die „Ungläubigen“ morden sie ohne Ansehen der Person, ihres Status und ihrer Nationalität. Sie machen keinen Unterschied zwischen „Ungläubigen“ in Europa, Israel, Pakistan, Argentinien, den USA und Kenia. Die Medien sollten dies bei der Berichterstattung auch nicht tun.

D 23594 6 small

Über Stefan Frank

Stefan Frank ist freischaffender Publizist und lebt an der deutschen Nordseeküste. Er schreibt regelmässig über Antisemitismus und andere gesellschaftspolitische Themen, u.a. für die „Achse des Guten“, „Factum“, das Gatestone Institute, die „Jüdische Rundschau“ und „Lizas Welt“. Zwischen 2007 und 2012 veröffentlichte er drei Bücher über die Finanz- und Schuldenkrise, zuletzt "Kreditinferno. Ewige Schuldenkrise und monetäres Chaos."

Alle Artikel

1 Kommentar

Kommentarfunktion ist geschlossen.