Die Hamas hat in den vergangenen Monaten ihre Zusammenarbeit mit dem Ableger des Islamischen Staates in Sinai verstärkt. Die Kooperation scheint aus taktischer Sicht für Hamas opportun zu sein, birgt aber auch Risiken.
Von Michel Wyss
Im Dezember 2015 traf sich Shadi al-Mani‘i, Militärchef von Wilayat Sinai, der sogenannten „Provinz Sinai“, einem lokalen Ableger des Islamischen Staates auf der ägyptischen Halbinsel, bei einem geheimen Besuch in Gaza zu Gesprächen mit seinen Gegenübern der Izz al-din al-Qassam-Brigaden, dem militärischen Flügel der Hamas. Das Treffen mit al-Mani‘i, seit Mai 2014 auf der meistgesuchte Terrorist Ägyptens, war der bisherige Höhepunkt einer zunehmenden Kooperation zwischen IS Sinai und der Hamas.
Die Hamas hatte bislang eine Zusammenarbeit mit dem Islamischen Staat (IS) Sinai stets abgestritten und einige Hamas-Funktionäre verneinten auch Berichte über das Treffen mit al-Mani’i. Israel, auf der anderen Seite, hat bereits seit längerer Zeit auf die Kooperation zwischen Hamas und IS Sinai hingewiesen, doch diese Warnungen waren von westlichen und arabischen Geheimdiensten bislang mit Skepsis aufgenommen worden. Ausführliches Beweismaterial führte aber in jüngster Zeit dazu, dass die im Sinai stationierten UN-Truppen, sowie zahlreiche Sicherheitsorganisationen mittlerweile Israels Einschätzung teilen.
Die Zusammenarbeit zwischen Hamas und IS Sinai scheint in erster Linie ein Zweckbündnis. Zum einen hofft offenbar die Hamas, dass die Aktivitäten von IS Sinai dem Druck der ägyptischen Armee auf Gaza entgegenwirken. Seit seiner Machtübernahme verfolgt Präsident Abdel Fatah al-Sisi eine harte Linie gegenüber der palästinensischen Enklave. IS Sinai und Hamas sind vereint in ihrer Abneigung gegenüber des ägyptischen Machthabers und Mitglieder der Qassam-Brigaden unterstützen IS-Kämpfer in deren militärischen Ausbildung.
Wirtschaftliche Interessen und persönliche Beziehungen
Ein weiterer Grund für die Zusammenarbeit scheinen gegenseitige wirtschaftliche Interessen zu sein. Auf der Halbinsel ansässige Beduinenstämme, wurden seit Jahrzehnten systematisch von der ägyptischen Regierung vernachlässigt und diskriminiert. Der seit den Neunzigerjahren florierende Schwarzmarkt aus Schmuggel und weitere kriminelle Aktivitäten sind für viele Beduinen die einzige Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Hamas‘ Machtübernahme in 2007 und die darauffolgende Blockade des Gazastreifens, eröffnete den Beduinen die Möglichkeit, diese verbotenen Geschäfte zu expandieren. Mittels eines umfangreichen Tunnelnetzwerks werden zahlreiche Güter, von Rohmaterialien und Lebensmitteln über Autos und Waffen bis hin zu Zootieren, nach Gaza geschmuggelt. Ein profitables Geschäft sowohl für die Beduinen als auch für die Hamas, welche die Tunnelökonomie reguliert und besteuert.
Der vorrangig aus Beduinen stehende IS Sinai, sowie dessen Vorgängerorganisation Ansar Bait al-Maqdes, die im Zuge des Umsturzes in Ägypten in 2011 in Erscheinung trat, helfen der Hamas dabei, aus Iran stammende Waffen in den Gazastreifen zu schmuggeln. Im Gegenzug dazu erhalten sie neben einer finanziellen Entschädigung auch einen Teil der Waffenlieferungen, darunter etwa auch Kornet-Panzerabwehrwaffen.
Nebst wirtschaftlichen Interessen sind vor allem auch persönliche Beziehungen ein ausschlaggebender Faktor für die Kooperation zwischen den beiden Organisationen. Dabei spielen wiederum Beduinenstämme, die auf beiden Seiten der Grenze – in Gaza und in Ägypten – aktiv sind, eine massgebliche Rolle. Vereinzelt wurden beispielsweise IS-Kämpfer, die einflussreichen Beduinenstämmen angehören oder über gute Beziehungen zu den Qassam-Brigaden verfügen, in Spitälern in Gaza unter Aufsicht der Hamas behandelt. Und der erwähnte Shadi al-Mani’i fand im Gazastreifen für mehrere Monate Zuflucht vor den ägyptischen Sicherheitsbehörden.
Umstrittene Kooperation
Doch die Kooperation mit IS Sinai ist in Hamas-Kreisen offenbar nicht unumstritten. Abu Marzouk, ein führender Funktionär des Hamas-Politbüros, stritt nach einem massiven IS-Terroranschlag in Sinai am 1. Juli 2015 jegliche Beteiligung durch die Hamas ab. Marzouk erklärte, die Hamas habe nicht bloss kein Interesse an einer Zusammenarbeit mit dem Islamischen Staat, sondern dass Terrorangriffe durch den IS Sinai den Palästinensern in Gaza schade. Ägypten ist in den vergangenen Jahren energisch gegen Schmuggeltunnel vorgegangen, schloss mehrfach den Rafah-Grenzübergang und designierte die Hamas im vergangenen Februar vorübergehend als Terrororganisation. Die Hamas-Anführer sind sich bewusst, dass eine zu offensichtliche Zusammenarbeit mit IS Sinai ihre bereits angespannten Beziehungen zu Kairo weiter belasten wird. Da die Kooperation aber hauptsächlich von einigen hochrangigen Mitgliedern der Qassam-Brigaden vorangetrieben wird, dürfte das Politbüro nur beschränkten Handlungsspielraum haben. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der militärische Flügel seine Macht auf Kosten der politischen Führung in den vergangenen Jahren massiv ausgebaut hat und mittlerweile dessen Strategien diktiert.
Ein weiterer Vorbehalt dürfte das Misstrauen der Hamas gegenüber salafi-jihadistischen Gruppierungen innerhalb Gazas sein. Salafisten, die das Weltbild von Al Qaida und IS teilen, ist die Hamas, wie auch ihre Mutterorganisation, die ägyptische Muslimbruderschaft, aufgrund ihrer politischen Aktivitäten ein Dorn im Auge. Al Qaida etwa kritisierte die Hamas dafür, dass sie zugunsten von Politik den Jihad und ihre Märtyrer verraten habe und Osama Bin Laden selbst erklärte, die Organisation „habe ihre Religion verloren.“
Der Umgang der Hamas mit salafistischen Gruppierungen in Gaza variierte in den vergangenen Jahren stark. Zeitweise verschloss sie die Augen vor salafi-jihadistischer Agitation, während sie bei anderer Gelegenheit hart gegen Salafisten vorging. So etwa 2009 als der Anführer von Jund Ansar Allah die Gründung eines islamischen Emirates in Rafah verkündete. Bei den darauffolgenden Kämpfen starben 13 Personen. Nach dem Sturz des ägyptischen Präsidenten und Muslimbruders Mohamed Mursi versuchte die Hamas, ihre Beziehungen zu salafistischen Gruppen in Gaza zu verbessern. Gemäss der Sicherheitsexpertin Benedetta Berti dürfte der „zunehmende wirtschaftliche und politische Druck durch die schwierige Beziehungen zu Ägypten“ eine Rolle gespielt haben.
Islamischer Staat in Gaza
Doch nach dem Krieg mit Israel im Sommer 2014, haben die Spannungen wieder zugenommen. Der Erfolg des Islamischen Staates in Syrien und Irak gab salafistischen Gruppierungen neuen Auftrieb und brachte einige von ihnen dazu, ihre Loyalität gegenüber IS-Anführer Abu Bakr Al Baghdadi zu erklären. Angriffe, wie derjenige auf das französische Kulturzentrum in Gaza, führten dazu, dass die Hamas wieder stärker gegen Salafisten vorging. Im vergangen Frühling führte die Hamas mehrere, zunehmend aggressive, Verwaltungswellen gegen selbsternannte IS-Anhänger durch und zerstörte Anfangs Mai nach einem Angriff auf das Hamas Sicherheitshauptquartier eine salafi-jihadistische Moschee. Gemäss Berichten feuerten Anhänger einer der Salafi-Gruppierungen als Reaktion Mörsergranaten auf eine Einrichtung der Qassam-Brigaden.
Gemäss der Sicherheitsexpertin Berti, stellen salafistische Gruppierungen bislang keine militärische Bedrohung für die Hamas dar, zumal diese untereinander stark zersplittert sind. Doch steigende Unzufriedenheit angesichts der misslichen politischen und wirtschaftlichen Lage könnte den Salafi-Gruppen etwa in Form neuer Anhänger in die Hände spielen und erhöht das Potenzial für Unruhen innerhalb Gazas. Zudem könnten diese Gruppierungen versuchen, einen neuen Konflikt mit Israel anzuzetteln, in der Hoffnung, die Hamas dadurch zu stürzen.
Aus diesen Gründen versucht die Hamas, starke Beziehungen zwischen IS Sinai und IS-Sympathisanten innerhalb Gazas zu verhindern. Bislang offenbar mit Erfolg, denn bislang hat IS Sinai keinerlei Unterstützung für Salafi-Gruppierungen in Gaza geäussert. Und im Gegensatz zum Islamischen Staat in Irak und Syrien hat die Organisation bislang davon abgesehen, die Hamas zu denunzieren. Angesichts dessen dürfte die Hamas ihren delikaten Balance-Akt zwischen Kooperation mit dem IS im Sinai und Repression gegen IS-Anhänger in Gaza für absehbare Zeit fortsetzen; wohlwissend, dass sie dabei mit dem Feuer spielt.