Er hat auch schon Terroristen verarztet – der Jerusalemer Rettungssanitäter Aharon Adler ist Tag und Nacht auf Abruf, um zu helfen. Ein Porträt über einen Mann, der trotz schrecklicher Erlebnisse weitermacht und nur ein Ziel hat: Leben zu retten.
Von Yoav Dreifuss
Wenn man Aharon Adler in seiner Anwaltskanzlei im Zentrum Jerusalems umringt von Aktenordnern sieht, ist es nur schwer zu glauben, was er schon alles gesehen und erlebt hat. Denn weder sein freundliches Lächeln noch das sauber gebügelte Hemd geben einen Hinweis darauf, dass der junge Anwalt 24 Stunden pro Tag abrufbereit ist und schon in tausenden von medizinischen Notfällen Nothilfe geleistet hat. Bereits seit 15 Jahren ist er für Magen David Adom (MDA) im Einsatz, heute leistet er seine Schichten vor allem am Wochenende und an Abenden.
Es ist kein leichter Job, in Jerusalem Sanitäter zu sein. Die unruhige Stadt ist immer wieder Schauplatz von Terroranschlägen, so auch in den letzten Monaten. Die Lebensretter von Magen David Adom sind dabei stets zur Stelle. „Wir arbeiten im Ungewissen, erhalten einen Notruf mit sehr wenigen Informationen und müssen dann innerhalb von Sekunden entscheiden, was zu machen ist und wie man die eigenen Fähigkeiten und die zur Verfügung stehende Zeit am besten nutzt, um lebensrettende Sofortmassnahmen zu ergreifen“. Doch nicht immer gelingt das.
Mission: Leben retten
Sanitäter zu sein ist für ihn nicht nur eine Berufung, sondern auch ein Kindheitstraum, der erfüllt wurde. Das Schlüsselerlebnis machte er im Alter von fünf Jahren. „Es gab einen schweren Schneesturm und ich kämpfte mich am Freitagabend zur Synagoge durch. Dabei lief ich in einen Hydranten und holte mir eine klaffende Platzwunde am Kopf. Sofort stoppte ich die Blutung mit ein bisschen Schnee, noch bevor mein Vater und danach der Krankenwagen eintrafen. Mein Vater lobte mich für meine schnelle und richtige Reaktion. Von da an wusste ich, was ich einmal werden möchte“.
Der heute 29-Jährige kam 2014 in den Schlagzeilen, als er den politischen Aktivisten Yehuda Glick rettete, der von einem Jerusalemer Araber mit vier Schüssen niedergestreckt wurde. „Wir feierten gerade den ersten Geburtstag unserer Tochter, als ich informiert wurde, dass ganz in der Nähe jemand mit schweren Schussverletzungen am Boden liege. Sofort eilte ich hin und begann, ihn zu verarzten“, erzählt Adler, der als „Retter von Glick“ geehrt wurde.
Eine weitere sehr prägende Erfahrung machte er 2002, er war gerade einmal 15 Jahre alt. Ein palästinensischer Selbstmordattentäter hatte sich in einem Bus in Jerusalem in die Luft gesprengt und 19 Menschen in den Tod gerissen. Gemäss den MDA-Richtlinien hätte er als Teenager gar nicht vor Ort sein sollen, darum wartete er im Krankenwagen. Doch plötzlich öffneten Rettungssanitäter einer anderen Ambulanz die Türe, luden eine Person mit schwersten Verbrennungen auf die Ladefläche und eilten zum nächsten Patienten. „Der Verletzte starrte mir direkt in die Augen und flehte mich an – rette mich! Ich verstand, dass das Verarzten meine alleinige Verantwortung war, ich begann darum sofort mit lebensrettenden Massnahmen, bis mir ein erfahrener Sanitäter zu Hilfe eilte“. Adler erzählt, dass er damals als Jugendlicher jeweils einfach das machen musste, was man ihm auftrug. Heute sei das anders, die Verantwortung liege nun jeweils in seinen Händen und er entscheide und gebe anderen Anweisungen am Ort des Geschehens.
Strapaziöser Alltag
„Am meisten schätze ich, dass ich als Sanitäter Menschen helfen und Leben retten kann“, sagt Aharon Adler. Es habe aber auch viele Schattenseiten, wie die Gefahren, denen er und seine Kollegen häufig ausgesetzt seien oder die Arbeitsbedingungen. „Es gibt keine normalen Unglücksszenen. Zum Teil muss ich auf Hausdächer klettern oder durch zerschlagene Fenster in ausgebrannte Autos hineinkriechen“. Bei einem Terroranschlag wurde noch geschossen, als der Krankenwagen eintraf. „Sofort legten wir die Schutzwesten an und informierten die anderen Rettungskräfte, dass sie das Gleiche tun sollen“.
Auch die Terroranschläge der letzten drei Monate hat der Sohn amerikanischer Einwanderer hautnah miterlebt. „Wenn jemand im Strassenverkehr ums Leben kommt, ist das sehr schlimm, aber die Trauer beschränkt sich auf Familie und Freunde des Betroffenen. Bei Terroranschlägen wird das Opfer zum Kind der ganzen Nation. Es sind Tragödien, die uns alle betreffen“. Magen David Adom bildet seine Einsatzkräfte speziell aus für die Behandlung von Stichwunden. Kürzlich wurden die Krankenwagen auch mit zusätzlichem Material dafür ausgerüstet. „Meine Kollegen und ich haben in den letzten Monaten zudem unsere Sachkenntnis auf diesem Gebiet vertieft. Wir möchten alles wissen, was im Ernstfall helfen kann“, erklärt er.
Als Rettungssanitäter sieht er die Geschehnisse aus nächster Nähe und wundert sich über die starke Diskrepanz zwischen der Realität der Angriffe und der Berichterstattung in den Medien im Ausland. „Es werden hier laufend unschuldige Menschen niedergestochen und überfahren – in der internationalen Presse kommt dies aber nicht so zum Ausdruck“.
Was die Sicherheitssituation in und um Jerusalem angeht, so ist er pessimistisch. Der Jerusalemer sieht den Hass und die Aufwiegelung in den sozialen Medien als die Hauptgründe für die laufende Terrorwelle. „Ich habe schon viele Terroristen behandelt. Es sind Kinder, junge Frauen, Studenten. Sie sind von schlechten Menschen beeinflusst“. Bei MDA ist es Pflicht und Ehrensache, jeden sofort zu behandeln, gemäss dem Grad seiner Verletzung. „Dazu gehören auch Terroristen, die Menschen ermordet haben. Ich bin kein Richter, ich bin hier, um Leben zu retten. Unabhängig davon, wieviel Terrorismus wir erleiden, unsere moralischen Standards bleiben gleich hoch“. Sicherheit geht jedoch vor, auch bei der Behandlung von verwundeten Attentätern, die zum Teil noch Messer oder Sprengstoff auf sich tragen. Häufig versuchten sie, die Polizei und Rettungskräfte zu attackieren.
Soziales Netz für die Verarbeitung des Erlebten
Der Job ist auch dann belastend, wenn er weit weg scheint. Er gesteht ein, dass ein starkes soziales Netz die Grundvoraussetzung ist, um das Erlebte zu verarbeiten. Er betont, dass er die schrecklichen Dinge, die er erlebt, mit anderen teilt. „Meine Frau und meine Freunde unterstützen mich sehr. Aber manchmal holen mich die erlebten Szenen ein und ich leide unter Schlafstörungen oder denke daran während der Arbeit im Anwaltsbüro.“ Ans Aufhören denkt er aber nicht: „Solange ich die körperliche Kraft habe, werde ich weitermachen. Es ist ein Privileg, Leben retten zu können“.