In einer Watson-Reportage über das Palästinenser-Camp Sabra in Beirut wird der Verdrängungskampf zwischen den Nachkommen von Palästinensern und Neuankömmlingen aus Syrien beschrieben. Die Reportage ist ein packender Augenzeugenbericht, doch neben den persönlichen Eindrücken ist auch die Frage nach den vielfältigen Gründen für die herrschenden Bedingungen von herausragender Bedeutung.
Von Yoav Dreifuss
Kürzlich veröffentlichte Watson eine spannende Reportage über das Palästinenser-Camp Sabra in der libanesischen Hauptstadt Beirut und über den Zustrom von syrischen Flüchtlingen. Die Journalistin Rafaela Roth taucht in eine Welt ein, die geprägt ist von Drogenhandel, Perspektivlosigkeit, Isolation von der Aussenwelt und dem Fehlen von Recht und Ordnung. Der Artikel bringt dem Leser zudem eine Problematik näher, die in der europäischen Medienlandschaft häufig nur in Form von statistischen Rohdaten Erwähnung findet – die Millionen von syrischen Flüchtlingen, die in anderen arabischen Ländern Zuflucht suchen, um den Kriegswirren in ihrer Heimat zu entfliehen.
Prekäre Zustände
Die Zustände im Camp scheinen in der Tat aus humanitärer Sicht höchst problematisch zu sein, und es stellt sich die Frage, warum das so ist. Zu hinterfragen gilt es unter anderem, warum die Palästinenser bis heute in diesem Slum hausen. Rafaela Roth erklärt zwar, dass die Bewohner weder ein Anrecht auf die libanesische Staatsbürgerschaft hätten, noch reisen dürften und dass ihnen die Ausübung von über 70 Berufen verboten sei. Sie zitiert auch ihren Camp-Guide, Sameh, der als Grund die schiitisch-sunnitische Balance im Zedernland und die damit verbundenen demografischen Bedenken der Libanesen nennt. Das mag alles stimmen, doch es ist zu kurz gegriffen. Denn die libanesische Regierung sperrt die Nachkommen von Palästinensern seit Jahrzehnten bewusst in abgeschottete Quartiere, sie leben dort fast ohne Rechte und sind ein menschliches Faustpfand, das politisch und militärisch gegen Israel ausgespielt wird. Und damit ist der Libanon kein Einzelfall im Nahen Osten.
Die Logik ist folgende: Je mehr „palästinensische Flüchtlinge“ es gibt, desto mehr Druck lässt sich auf Israel ausüben. Natürlich wird unter anderem dank der Perspektivlosigkeit im Camp auch der Hass auf Israel von Generation zu Generation weitergetragen. Sameh ist ein trauriges Beispiel dafür. „Sein Ziel heisst Intifada, sein Traum heisst Palästina“, heisst es im Artikel. Samehs palästinensische Identität fusst dabei auf dem Fakt, dass sein Grossvater vor fast 70 Jahren aus dem damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina in den Libanon flüchtete.
Natürlich trägt auch die internationale Gemeinschaft mit ihrem konstanten Fluss von Hilfsgeldern dazu bei, dass die Empfänger Flüchtlinge bleiben – auch in der dritten und vierten Generation. Weltweit ist dieses Phänomen einzigartig, nirgends sonst wird der Flüchtlingsstatus über Generationen hinweg automatisch weitervererbt. Entscheidend zu diesem Phänomen tragt die UNRWA bei, wie ein Audiatur-Online Artikel aufzeigt.
Wer ist ein Flüchtling?
Deshalb ist auch der Titel der Reportage mit Vorsicht zu geniessen. Zwar weckt er Neugierde, doch von seiner Formulierung her ist er etwas problematisch. „Wenn die palästinensischen die syrischen Flüchtlinge aufnehmen (…)“, heisst es da. Während die syrischen Flüchtlinge vor dem Assad-Regime oder vor dem Islamischen Staat fliehen und in Syrien nachweislich um ihr Leben fürchten müssen, sind die Einwohner der Palästinenser-Quartiere schon seit 1948 im Libanon. Aber sind sie genauso Flüchtlinge wie die Syrer? Selbst die Genfer Flüchtlingskonvention lässt da starke Zweifel aufkommen. Sie definiert in Artikel 1 einen Flüchtling als „Person, die sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt oder in dem sie ihren ständigen Wohnsitz hat, und die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung hat und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht vor Verfolgung nicht dorthin zurückkehren kann.“
Video aus einer Schule im Camp Schatila.
Hilfe zur Selbsthilfe
Positiv hervorzuheben ist, wie Rafaela Roth die beschämenden Vorkommnisse in Sabra und Schatila 1982 beschreibt; auf Fakten basierend und im Rahmen des libanesischen Bürgerkriegs. Die äusserst problematische Involvierung der israelischen Streitkräfte, die in Israel selber hohe Wellen geworfen hat, wird zu Recht erwähnt.
Bemerkenswert ist auch, dass Watson für die syrischen Flüchtlinge im Libanon Geld sammelt (übers Rote Kreuz) und den Spendenaufruf gleich im Artikel einbaut. Offenbar geht es also nicht nur darum, die Sensationslust und Neugierde der Leser zu stillen, sondern auch vor Ort Leid zu lindern. Der Artikel enthält nämlich nicht nur einen Spendenaufruf, sondern es ist auch ein Hilferuf der Syrien-Flüchtlinge, die es in Europa erst in den öffentlichen Diskurs geschafft haben, als sie zu hunderttausenden an Europas Pforten standen. Mehr Hilfe zur Selbsthilfe vor Ort ist da wohl der beste Ansatz. Und zum Beispiel in Sabra und Schatila könnte man damit das Leben aller Camp-Bewohner verbessern.
Es bleibt nur zu hoffen, dass die syrischen Flüchtlinge sich nach einem halben Jahrhundert im Libanon nicht immer noch als solche fühlen müssen.