Von Israel lernen

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Ausnahmezustand in Brüssel in diesen Tagen. Foto Screenshot Youtube
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Auf der Website „Watson“, die sich „das andere Newsportal der Schweiz“ nennt, erschien dieser Tage ein Beitrag mit dem Titel:  „Sollten wir nach den Pariser Anschlägen von Israel lernen? Nein, sicher nicht.“ 

Von Stefan Frank

Somit hat der Autor, William Stern, schon in der Überschrift alles gesagt, was ihm am Herzen lag: bloss nichts von Israel lernen! Man beachte, dass die Frage nicht lautet: „Können wir etwas von Israel lernen?“ Denn dass wir das können, versteht sich von selbst. Es macht menschliche Zivilisation aus, dass jeder von allen anderen lernt. Fortschritt entsteht aus der Zusammenarbeit. Selbst von seinen Feinden kann man lernen – gerade von den Feinden, heisst es bei Aristophanes: „Also lernten auch die Städte nicht vom Freund, vom Feinde nur, stolze Mauerwälle türmen, kampfgerechte Schiffe bau’n. Dass sie das erlernten, sichert ihnen Kinder, Haus und Gut.“

Die Schlagzeile bei Watson.
Der Titel des Kommentars von William Stern bei Watson. Screenshot watson.ch

Dass es ein israelischer Geheimdienst war, der den Hinweis auf den mutmasslich bevorstehenden Terroranschlag gab, der zur Absage des Fussballländerspiels in Hannover führte, spricht für sich. Da die meisten Angelegenheiten, die mit der Terrorismusbekämpfung zu tun haben, nicht an die grosse Glocke gehängt werden, dürfen wir mit einiger Sicherheit annehmen, dass Israel viel mehr für die Sicherheit Europas tut, als öffentlich bekannt wird.

Wenn ein kleines Volk wie das israelische sich seit Jahrzehnten gegen alle terroristischen Bestrebungen zur Wehr setzt, es zu vernichten, und trotzdem heute mit an der Spitze der menschlichen Zivilisation steht – wirtschaftlich, technologisch, kulturell und was das Mass an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und persönlicher Freiheit betrifft –, dann kann man allerdings einiges von ihm lernen. Pädagogisch ausgedrückt: Man lernt am meisten von dem, der Erfahrung hat. Gefahren abzuwenden, lernt man am besten von den Nationen, die ihnen am stärksten ausgesetzt sind. Die Niederländer wissen, wie man Sturmfluten begegnet; die Schweizer sind Spezialisten für Lawinenschutz; die Japaner können erdbebensichere Wolkenkratzer bauen.

Die Israelis sahen sich von Anfang zwei grossen Feinden ausgesetzt: der Wasserknappheit und dem Terrorismus. Beides sind Feinde, die sich niemals besiegen lassen; aber man kann lernen, die Probleme, die aus ihnen erwachsen, zu meistern und mit ihnen zu leben. Das hat Israel getan und gilt deshalb auf beiden Gebieten als führend.

Weltkrieg gegen den Terror
Doch wenn jemand, wie kürzlich Ayaan Hirsi Ali, sagt, wir sollten von Israel lernen, dann geht das Israels Feinden natürlich mächtig gegen den Strich. Wir könnten zwar. Aber wir sollten nicht. Weil Israel böse ist. Der Vorschlag, von Israel zu lernen, nimmt den Anti-Israel-Fanatikern gleich auf mehrfache Weise den Wind aus den Segeln. Erstens versuchen sie ja stets, Israel zu dämonisieren, es als etwas darzustellen, was ganz und gar ausserhalb der menschlichen Gesellschaft steht. Wenn wir aber von Israelis lernen können (was für Wissenschaftler selbstverständlich ist), dann sind sie vielleicht doch Menschen wie wir. Menschen, die uns etwas anzubieten haben – und nicht die habgierigen Schmarotzer sind, als die die Anti-Israel-Propaganda sie darstellt. Wenn sich dann zeigt, dass wir vielleicht gar mitunter auf die Hilfe der Israelis angewiesen sind, dann verpufft eine weitere Illusion der Israelhasser: Dass der Judenstaat „isoliert“ sei und darum schwach. Vor allem aber behagt es den Anti-Israel-Animateuren gar nicht, dass immer mehr Menschen begreifen, dass Israel, Europa und der Rest der Welt sich in ein und demselben Krieg befinden – dass diejenigen, die in Jerusalem mit dem Messer auf Juden einstechen, nicht „frustriert“ sind wegen der Checkpoints oder einem Mangel an palästinensisch-arabischer Eigenstaatlichkeit. Sie sind Anhänger derselben Ideologie wie die Terroristen von Paris, Kairo, Nairobi oder Bali: „Tötet die Ungläubigen!“, lautet ihr Credo.

Das wollen Leute wie William Stern scheinbar nicht wahrhaben. Da sie es aber nicht widerlegen können, versuchen sie, mit Masse zu überzeugen; sie bringen eine Vielzahl an schlechten Argumenten vor, die ihrer Meinung nach so viel wert sind wie ein stichhaltiges. Schauen wir sie uns an.

„Tatsache ist, dass es in Israel seit langem keine grösseren Terroranschläge mehr gegeben hat. Die rigorosen Sicherheitsmassnahmen im jüdischen Staat haben Wirkung gezeitigt. Gleichzeitig ist die jüngste Anschlagsserie in Israel – Messerattacken von meist jugendlichen Arabern und Angriffe mit Fahrzeugen – aber auch Beweis dafür, dass dem Terrorismus mit Zäunen, Militärpräsenz und Geheimdienst-Technologie alleine kaum beizukommen ist.“

Zuerst einmal sind sie der Beweis dafür, dass Organisationen wie die Hamas und der Islamische Dschihad dank der israelischen Anti-Terror-Massnahmen nicht mehr über die gleichen Kapazitäten verfügen wie in der Vergangenheit. Die oft von Teenagern verübten Messeranschläge sind wie Hitlers Volkssturm, bei dem die Nazis gegen Kriegsende schlecht bewaffnete Kinder an die Front schickten: das letzte Aufgebot. Zweitens sagt niemand in Israel, dass bestimmte Mittel „allein“ den hundertjährigen Krieg gegen den Terrorismus entscheiden werden. Es ist eine Vielzahl an Massnahmen, mit denen er besiegt wird. Dazu gehört auch, gegen diejenigen vorzugehen, die nicht selbst morden, aber zu Morden anstiften, die Hetzer. Diesen Kampf würde der Autor aber gewiss entschieden ablehnen. Darin besteht überhaupt seine – und auch anderer Leute – Strategie: Mal zu höhnen, dass israelische Massnahmen nicht hundertprozentig effektiv seien, dann darüber zu klagen, sie gingen zu weit.

„Überdies ist der Preis für die Sicherheitsmassnahmen hoch – nicht nur in finanzieller Hinsicht. Die Vorkehrungen Israels, um seine Einwohner vor Hamas, IS, Hisbollah, Kaida, Iran und den feindlich gesinnten arabischen Staaten im Nahen Osten zu schützen, schränken die Bürger in ihrer Freiheit empfindlich ein.“

Ich war gerade in Israel und habe davon nichts bemerkt. Zugegeben: Es mag viele Einschränkungen geben, von denen Touristen nichts mitkriegen. Dann wiederum schaue man aber auch nach Brüssel, wo die U-Bahn ausser Betrieb ist, Menschen gesagt wird, dass sie ihre Häuser nicht verlassen sollen und ein Fussballspiel der ersten Liga vor leeren Rängen stattfindet, weil ohne die Polizisten, die alle zum Dienst in der Hauptstadt abgezogen wurden, die Sicherheit der Zuschauer nicht zu gewährleisten ist. Dann schaue man auch auf Frankreich, wo der Ausnahmezustand gilt und gerade die Menschenrechtskonvention ausser Kraft gesetzt wurde. Wie war das mit der Einschränkung der Freiheit? Man darf auch nicht vergessen: Hier in Europa hat dieser Krieg ja gerade erst begonnen!

Was Israels Feinde nicht wahrhaben wollen
„Hinzu kommt“, schreibt Stern,

 „dass eine ganze Bevölkerungsgruppe marginalisiert wird. Für die 1,7 Millionen Araber ist das, was amerikanische Muslime nach 9/11 erlebten, seit langem schmerzhafte Realität. Misstrauische Blicke in der Öffentlichkeit, Schikane bei Polizeikontrollen und vor Gericht: De facto ist Israel in vielerlei Hinsicht eine staatlich verordnete Zweiklassengesellschaft, und eine solche kann eine aufgeklärt- demokratische westliche Welt nicht tolerieren.“

Das Schicksal amerikanischer Muslime ist natürlich ein besonders hartes. Nirgendwo auf der Welt werden Muslime so verfolgt wie in Manhattan. Härter dran sind nur arabische Israelis. Nicht genug, dass man ihnen die vollen Bürgerrechte, Sozial- und Gesundheitsleistungen und Rentenansprüche aufnötigt – sie müssen auch damit leben, dass sie in Israel jeden Beruf ergreifen können, im Parlament repräsentiert sind und Araber in allen Bereichen der israelischen Gesellschaft in Spitzenpositionen gelangt sind: in der Justiz, der Kultur, dem Sport und sogar in der Armee. Stern muss Israel wohl mit den Palästinensischen Autonomiegebieten oder einem der 21 anderen arabischen Länder verwechselt haben. Dort gibt es Klassengesellschaften, die nach der Religion sortiert sind. Der Platz der Christen und anderer Minderheiten ist ganz unten, und die einzige Erinnerung an die Juden, die Jahrhunderte lang dort lebten, sind Grabsteine. Von Israel lernen, heisst: ein friedliches Zusammenleben verschiedener Religionsgemeinschaften zu lernen – auch wenn Israels Feinde dies partout nicht wahrhaben wollen.

Opfer zum Täter gemacht
Als Beweis dafür, wie böse Israel angeblich ist, führen seine Feinde ausgerechnet die Massnahmen an, die es zu seinem Selbstschutz ergreifen muss – selbst passive Sicherheitsmassnahmen wie Zäune und Stacheldraht sind in ihren Augen Zeichen eines verdorbenen Staates:

„Israel hat sich weitgehend abgeschottet. Im Norden, wo das Land an den notorisch instabilen Libanon und an das bürgerkriegsversehrte Syrien grenzt, stehen Zäune und Stacheldraht. An der Grenze zu Jordanien wurde vor kurzem mit dem Bau eines neuen Zauns begonnen, das Tote Meer und den See Genezareth verbindet eine Zaunanlage und im Süden trennt ein 230 Kilometer langer Zaun Israel vom Nachbarland Ägypten.“

Die Phobie vor Zäunen ist eine noch recht neue mentale Auffälligkeit bei einigen westeuropäischen Journalisten. Der Zaun an sich – eine der ältesten kulturellen Errungenschaften der Menschheit – ist in ihren Augen ein Mal der Schande für den, der ihn aufstellt. Das alte Argument gegen die Juden – wenn alle sie hassen, muss ja was dran sein – wird hier auf Israel bezogen, das Opfer zum Täter gemacht. Doch so, wie sich nicht die Frauen schämen sollten, die in einem Frauenhaus Schutz vor prügelnden Männern suchen, so ist es nicht Israels Schande, dass solche Barrieren notwendig sind, sondern sollte diejenigen anklagen, die anderenfalls nachts über Grenzen schleichen würden, um Zivilisten im Schlaf zu ermorden und Kindern die Köpfe abzuschneiden (wie im Fall des Anschlags von Itamar 2011). „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“, heisst es im „Wilhelm Tell“. Und der Volksmund sagt: „Gute Zäune machen gute Nachbarn“. Der Besucher im Zoo wird gleich durch einen doppelten Zaun von den Tigern getrennt, ohne dass er deswegen ein schlechtes Gewissen hätte. Der Zaun ist ja auch nicht dazu da, die Tiger zu bestrafen, sondern nur, um sie daran zu hindern, die Besucher aufzufressen. Freilich wäre es schön, wenn man die Tiger aus der Nähe betrachten und vielleicht sogar streicheln könnte. Aber in einem Stück zu bleiben, hat Priorität. Das Gleiche gilt für Israels Sicherheitsmassnahmen.

Terror ohne Grenzen
Doch Stern hadert immer noch:

„Schulen, Universitäten, Einkaufszentren, Bibliotheken, Vergnügungstempeln: Ohne Metalldetektoren geht hier nichts. Das Sicherheitsprozedere führt dazu, dass alltägliche Verrichtungen oft zeitraubend sind. Dasselbe Bild zeigt sich auch am grössten Verkehrshub des Landes: Dem Ben-Gurion-Flughafen. Reisende werden hier rigorosen Sicherheitsmassnahmen unterzogen. Mehrstündige Befragungen bei Verdachtsmomenten sind Usus.“

Bei mir hat die israelische Sicherheitskontrolle sowohl bei der Hin- als auch bei der Rückreise nur wenige Sekunden gedauert. Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht verdächtig bin. Bei denen, die Anlass für „Verdachtsmomente“ liefern, würde ich als Mitreisender darum bitten, dass sie sehr gewissenhaft geprüft werden. Was ist an diesem Usus verkehrt? „Verdachtsmoment“ heisst ja hier nichts anderes, als dass der Verdacht besteht, sie könnten Massenmörder sein. Denen darf man ruhig ein paar Fragen stellen, oder nicht? Es passierte mir übrigens nicht beim Rückflug aus Tel Aviv, sondern beim Hinflug von Hamburg, dass sich der Start wegen einer Terrorwarnung über eine Stunde verzögerte: Die (deutsche) Polizei hatte in dem (deutschen) Flugzeug eine Flasche gefunden, die eine Bombe hätte sein können. Terrorismus kennt keine Grenzen, hat den Satz schon mal jemand gesagt? Im Laufe des Dschihads werden Metalldetektoren in Zukunft sicherlich auch in Europa noch beliebter werden. An Flughäfen gab es sie schliesslich früher auch nicht – bis Jassir Arafat Anfang der Siebziger Jahre auf die Idee kam, Flugzeuge in die Luft zu sprengen.

Zum Schluss eine persönliche Bemerkung: Allen Kriegen und Terroranschlägen zum Trotz sind die Israelis die freundlichsten Menschen, die mir je an einem Ort begegnet sind. Den Terror zu besiegen, können wir von ihnen in einem doppelten Sinne lernen: Im technischen Sinn: Lernen, Menschenleben wirksam vor denen zu schützen, die sie auslöschen wollen. Im moralischen Sinn: Uns nicht von den Terroristen von unserem Pfad ablenken zu lassen, der einer der Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft sein sollte. Beides gehört zusammen. Wenn wir gegen die Mächte des Bösen – die im Innern und die von aussen kommen – so gewappnet sind, dass wir uns sicher fühlen können, fällt es uns leichter, gute Menschen zu sein. Dort hingegen, wo der Staat zulässt, dass Einzelne oder Gruppen Angst und Schrecken in der Bevölkerung verbreiten, geht das ganze Gemeinwesen vor die Hunde.

Über Stefan Frank

Stefan Frank ist freischaffender Publizist und lebt an der deutschen Nordseeküste. Er schreibt regelmässig über Antisemitismus und andere gesellschaftspolitische Themen, u.a. für die „Achse des Guten“, „Factum“, das Gatestone Institute, die „Jüdische Rundschau“ und „Lizas Welt“. Zwischen 2007 und 2012 veröffentlichte er drei Bücher über die Finanz- und Schuldenkrise, zuletzt "Kreditinferno. Ewige Schuldenkrise und monetäres Chaos."

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