Israelischer Journalist trifft Syrer in Berlin

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Migranten an der Grenze von Ungarn nach Österreich, 6 September 2015. Foto Mstyslav Chernov. Lizenziert unter CC-BY-SA 4.0 über Wikimedia Commons.
Lesezeit: 8 Minuten

Über Hunderttausend syrische Flüchtlinge kamen nach Deutschland, inoffizielle Zahlen sprechen von einer noch höheren Zahl. Allein in Berlin gibt es 85 Unterkünfte, in denen jeweils einige hundert Flüchtlinge wohnen. Nach Angaben von Sozialsenator Mario Czaja (CDU) kommen derzeit (Stand: 04.11.2015) täglich 600 bis 700 Flüchtlinge in Berlin neu an.

Dabei kommt es immer wieder zu Fällen, in denen Flüchtlinge aus Tschetschenien, Albanien und Marokko mit gefälschten Pässen nach Deutschland kommen und so versuchen, Asyl und ein Arbeitsvisum zu erhalten. Im Erstaufnahmelager in Wilmersdorf , Berlin, leben rund 600 Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern. Christen und Muslime, Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder, alle leben zusammen. Nachdem sie Grenzen und Länder überwunden haben, versuchen sie die deutsche Bürokratie zu durchlaufen und eine Arbeitserlaubnis zu erhalten.

Achash Hussein ein 24-jähriger syrischer Kurde, der aus Aleppo in Nordsyrien nach Deutschland gekommen ist, erzählt mir auf den Fluren der Unterkunft in einem Gespräch seine Geschichte. „Mein Haus wurde von Regierungstruppen bombardiert. Wir lebten so für eine lange Zeit, bis wir erkannt haben, dass es nicht sicher ist, ob wir überleben werden, wenn wir Syrien nicht verlassen. Wir nahmen Kontakt mit Vermittlern auf, welche die Auswanderung aus Syrien organisieren, und sie erklärten uns, was wir tun müssen. Wir bezahlten 1100 Euro und bestiegen ein Kunststoff-Boot mit einer Grösse von circa 9 x 3 Meter und begannen die Reise nach Europa. Als wir uns dem griechischen Strand näherten, hielt der Bootsführer an. Er sagte, dass wir ab jetzt alleine weiter müssten. Wir wussten, dass hinter uns in Syrien der Tod auf uns wartete. Obwohl wir nicht schwimmen konnten, sprangen wir ins Wasser. Irgendwie kamen wir an eine Insel an der griechisch-türkischen Grenze. Dort nahm uns die griechische Polizei fest und brachte uns nach Athen. Wir blieben ein paar Tage in Athen, dann bezahlten wir jemand anderem 1000 Euro, damit er uns zur mazedonischen Grenze bringt. Vor dort aus gingen wir weiter über Ungarn und Österreich bis nach Deutschland. Die zweiwöchige Reise kostete uns rund 2500 Euro.”

Ali Alu, der Zimmergenosse von Achash kommt auch aus der Gegend von Aleppo. Er ist 30 Jahre alt und hat genug davon, in der Unterkunft zu warten. „Ich kam vor etwa 54 Tagen an und es gibt immer noch keine Fortschritte in Bezug auf Papiere. Wir haben es geschafft zu überleben und sind dem Tod in Syrien und dem Tod auf dem Weg hierher entkommen, jetzt wollen wir ein neues Leben beginnen.”

Die Tatsache, dass die Bewohner der Anlage warme Zimmer, drei Mahlzeiten am Tag, Wäscherei und Reinigung der Toiletten und Duschen geniessen, beeindruckt Alu nicht. „Es ist ein Gefängnis aus Gold. Es heisst immerzu, dass wir ein gutes Leben haben, aber in Wahrheit können wir diesen Ort nicht verlassen. Selbst zur U-Bahn zu gehen,gilt als Straftat. Wir haben die Unterlagen für ein Visa eingereicht, warum dauert es so lange?”

Achash und Ali bewohnen zusammen mit einem anderen Flüchtling namens Jussef Akobi das gleiche Zimmer.  Nach den von den Heimleitern festgelegten Regeln leben jeweils drei Singles in einem Zimmer; Familien und Frauen erhalten ein eigenes Zimmer. Die Leiter der Unterkunft haben angedeutet, dass sie nicht beabsichtigen, die Flüchtlinge nach ihrer Herkunft oder ihrer Religion aufzuteilen, obwohl im Gespräch mit Achash und Ali diese über vergangene Konfrontationen erzählen . „Es gab einen Fernsehraum und syrische Flüchtlinge sahen sich ein Programm an, in dem Mädchen auftauchten. Dies gefiel den Afghanen nicht, die behaupteten, dass dies nicht im Sinne des Islams sei und sie wollten das Programm ändern. Die Syrer wurden wütend und die Stimmung heizte sich auf. Geschrei, Schlägereien mit Polizisten, Inhaftierungen und Durcheinander waren die Folge. Zum Schluss wurde der Fernsehraum für uns geschlossen. Insgesamt fühlen wir, dass die Deutschen die Afghanen den Syrern vorziehen. Wir haben festgestellt, dass sie nach uns gekommen sind und vor uns ein Visa bekommen haben.”

Wir treffen Jussef, den dritten Zimmergenossen. Er kam aus dem Bezirk Ar-Raqqa, der heute von Daesh (ISIS) kontrolliert wird, nach Deutschland. „Wir besassen einige Häuser in Syrien. Am Anfang wurden wir vom Regime bombardiert, dann kam die Freie Syrische Armee und Daesh. Ich hatte zwei Brüder, die bei den Bombardierungen umgekommen sind,” erzählt er.  „In Syrien war ich ein Fleischhändler. Ich habe mit meinem Vater zusammen gearbeitet, der sehr jung an einer Krankheit verstarb. Ich leitete das Geschäft und beschäftigte  Mitarbeiter. Täglich musste ich an einen anderen Ort fahren.  Jetzt sitze ich hier und rauche. Ich kann nicht mehr. Ich will arbeiten, um etwas  in meinem Leben anzufangen. Es bringt mich um, dass ich aus dem Fenster des Zimmers schaue und die schönen Häuser in Berlin sehe. Ich möchte auch so ein Haus mit einem schönen Auto und einer schönen Frau mit Kindern. Ich will keinen Gefallen, ich will kein Geld. Gebt mir das Recht zu arbeiten und ich werde den Deutschen beibringen, wie man Geschäfte macht.”

Unterwegs frage ich nach verbotenen “Affären” zwischen den Mauern der Unterkunft. „Im Grossen und Ganzen vermischt sich hier keiner mit dem anderen. Doch es gibt Ausnahmen. Ich habe gehört, dass es ein Flüchtlingspaar gibt, das heiraten möchte, aber ich kenne sie nicht persönlich. Es gibt hier Kinder, Frauen und auch Schwangere. Vor zwei Wochen wurde eine Frau in den Kreisssaal gebracht und jetzt ist sie mit dem Baby wieder hier. Es gibt eine Menge Leute und es ist immer sehr eng. Doch von dem, was wir von Freunden aus anderen Unterkünften erfahren haben, herrscht bei uns ein guter Zustand. Deutschland füllt sich mit Flüchtlingen. Das bedeutet, dass man lange auf Genehmigungen warten muss. Einige Leute warteten drei Monate auf Arbeitsgenehmigungen und realisierten, dass es besser ist, nach Schweden oder Holland zu gehen, wo es schneller geht.”, erzählt mir Achash.

Am Eingang zum Speisesaal auf der dritten Etage wurde ein Tisch mit der Aufschrift „Lernt Deutsch” aufgestellt. Um den Tisch sammelt sich eine Gruppe Flüchtlinge, die einem Mann zuhören, der Englisch spricht und als Dolmetscher agiert. Achash und Ali mit ihrer Erfahrung lachen wieder. „Man sieht, dass sie gerade angekommen sind. Sie glauben, dass es ihnen gelingt, Deutsch zu lernen. Wir waren in diesen Unterrichtsstunden. Studenten machen dies freiwillig und nehmen die Arbeit nicht ernst. Einmal kommen sie, dann wieder nicht. Du weisst, dass Freiwillige sich der Arbeit nicht verpflichtet fühlen. Wenn man merkt, dass der Lehrer es nicht ernst meint, dann nimmt man es auch nicht ernst.”

Nach einem Bummel durch das Heim erzähle ich der Gruppe, dass ich ein Jude aus Israel bin. Achash kratzt sich am Kopf und sagt dann: „Ich bin ein Kurde aus Syrien. Ich habe kein Problem mit Juden oder Israelis. Hauptsache du bist ein guter Mensch. Es gibt welche, die sagen, wenn du ein Jude bist, dann mag ich dich nicht, aber ich persönlich habe kein Problem damit. Wenn du meine Religion respektierst, dann respektiere ich dich. Man kann in Frieden leben.”

Ich erzähle ihnen von dem Verdacht der deutschen Juden, dass der Islam in Europa zunimmt und Angst vor syrischen Flüchtlingen, von denen einige Daesh nach Deutschland bringen würden. „Ich verstehe das Gefühl, es gibt immer Extremisten, aber im Grossen und Ganzen liegt,wer sowas sagt und denkt, falsch.” meint Ali .„Du hast die Menschen getroffen und gehört, was sie durchgemacht haben, um hierher zu kommen. Einige von ihnen wären fast gestorben und wurden in letzter Minute gerettet. Es ist nicht wahrscheinlich, dass sich jemand, der auf dem Weg nach Deutschland dem Tod entkam, umbringen möchte. Auch wenn die Menschen in der Moschee beten, im Ramadan fasten und religiös sind. Das bedeutet nicht, dass sie Europa erobern und es in ein islamisches Land verwandeln möchten.” Im Gegensatz zu den beiden Kurden kann sich Jussef nicht damit abfinden, dass ich Jude bin.   „Ich habe  auch kein Problem mit Juden oder Israelis. Verlasst nur Palästina.”

Im Speisesaal setze ich mich neben Majid und Khaled, beide aus der Provinz Sovida  süd-östlich von Damaskus. Sie flohen nach Europa, da sie nicht der syrischen Armee beitreten wollten. Sie befinden sich seit August in der Unterkunft in Berlin. „Wir haben sofort verstanden, dass die Zerstörung und der Verfall von Syrien und unserem Volk nicht richtig ist. Wir wollen nicht am Töten teilnehmen. Was ist der Sinn davon, sich gegenseitig zu töten?” fragt er mich. „Es gibt hier viele Menschen, die von verschieden Orten geflohen sind. Einige sind vor Daesh geflohen und andere sind vor dem Regime geflohen. Keiner möchte eine Rolle im Krieg spielen.”,meint Majid. Khaled erzählt, dass er zu Beginn des Aufstands gegen das Assad-Regime aktiv war.  „Die Wahrheit ist, wir wussten nicht, wohin das Ganze führen würde. Wenn wir gewusst hätten, dass von Syrien nichts übrig bleiben würde und dass die Organisation Daesh aufsteigen würde, dann hätten wir diesen Kampf gar nicht begonnen. Trotz des ganzen Hasses auf Assad war er besser, als das was jetzt dort geschieht. Syrien starb und hat das Land Daesh geboren.Wir können nie wieder nach Hause zurückkehren.” Majid ist verheiratet. Seine Frau blieb in Syrien und er bemüht sich, sie dort herauszuholen und nach Europa zu bringen. „Wir reden hin und wieder über das Internet, ich tue alles, damit sie hierher zu mir kommen kann.”  Auch ihnen erzähle ich, dass ich ein Jude aus Israel bin und auch hier herrscht Peinlichkeit.„Schau her, im Grossen und Ganzen müsstest du als israelischer Jude unser wahrer Feind sein. Hierzu wurden wir, seit wir klein waren, erzogen. Aber nachdem wir gesehen haben, wie grausam unser Regime ist und wie grausam, jene, die es ersetzten, und während wir andererseits  in den Nachrichten hören und sehen, dass Israel verwundete Syrer behandelt, dann hat sich unsere Meinung definitiv geändert.” meint Majid und bittet mit mir in Kontakt zu bleiben. „Jetzt habe ich schon die erste Veränderung in meinem neuen Leben gemacht,” sagt er und schüttelt meine Hand.

Israelischer Journalist, Name der Redaktion bekannt.

1 Kommentar

  1. Ein starker Bericht und ein Extra-Lob an die Audiatur-Redaktion, die darauf hinweist, dass das Thema Flüchtlinge nicht nur eindimensional gesehen werden darf.

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