Anfang letzten Monats veröffentlichte die European Union Agency for Fundamental Rights (FRA – EU-Agentur für grundlegende Rechte) – ein offizielles europäisches Gremium – einen Überblick über den Antisemitismus in Europa im Zeitraum von 2004 bis 2014. [1.Antisemitism Overview of data available in the European Union 2004 – 2014. FRA – European Union Agency for Fundamental Rights, Oktober 2015.]
von Dr. Manfred Gerstenfeld
Die vielleicht bedeutendste Feststellung beim Studium des Dokuments besteht darin, dass von mehreren Mitgliedsländern keine Daten zur Verfügung gestellt wurden und dass gesammelte Daten von Land zu Land enorm differieren. Viele Juden halten es nicht einmal mehr für lohnenswert antisemitische Vorfälle der Polizei zur Anzeige zu bringen.
Wenn man erlaubt, dass Daten zu Problemen, die vor zehn Jahren bekannt waren, unzureichend bleiben, dann braucht es nicht mehr viel um zu beweisen, dass die EU keine ernsthaften Anstrengungen unternimmt den Antisemitismus zu bekämpfen. Die Schaffung einer soliden Datenbank ist ein massgeblicher erster Schritt für die Entwicklung eines umfassenden Plans zur Bekämpfung des Antisemitismus.
Der FRA-Bericht nennt die Haupttäter antisemitischer Vorfälle in folgender Reihenfolge: „Neonazis, Sympathisanten der extremen Rechten wie Linken, muslimische Fundamentalisten und die jüngere Generation, einschliesslich Schulkindern. Es gibt zudem Vorfälle antisemitischer Diskussionen an Universitäten.“ [2.Ebenda, S. 11.]
Die vom FRA-Bericht vorgelegte Rangordnung der Täter ist fragwürdig. Wer mit dem europäischen Antisemitismus vertraut ist, weiss, das Muslime in einer ganz Europa umfassenden Datenbasis an der ersten Stelle stehen sollten. Die Ermordung von Juden in Frankreich, Belgien und Dänemark, weil sie Juden waren, sind im aktuellen Jahrhundert allesamt von Muslimen verübt worden. [3.Ruthie Blum: Antisemitism Scholar Decries ‚Commemoration Discrimination‘ on 43rd Anniversary of Munich Massacre. The Algemeiner, 6. September 2015.]
Angesichts des sozialen Klimas in Westeuropa haben nur wenige jüdische Experten es gewagt auf die von Muslimen verursachten wichtigen antisemitischen Vorfälle in ihrem Land hinzuweisen. Eine davon war Esther Voet, als sie Direktorin der niederländischen pro-israelischen Verteidigungsorganisation CIDI war. Sie erklärte, dass die Zahl der in den Niederlanden berichteten antisemitischen Vorfälle im Sommer 2014 der Gesamtzahl der Vorfälle in den Jahren 2011 bis 2012 entsprach. Voet schätzte, dass zwei Drittel davon von nicht westlichen Immigranten oder ihren Nachkommen begangen wurden. Es war ein beschönigender Verweis auf Muslime, die fast sieben Prozent der Bevölkerung der Niederlande ausmachen. [4.Naama Lansky: Sakana Berura Umijadit. Israel Hayom, 22. August 2014.]
Sammy Ghozlan, Präsident des Nationalen Büros für Wachsamkeit in Frankreich wurde noch vor der Operation „Protective Edge“ damit zitiert, dass die überwiegende Mehrheit der antisemitischen körperlichen Angriffe in Frankreich von Muslimen begangen werden. [5.Report: Gang of youths taser French Jew at Paris monument. JTA, 11. Juni 2014.]
Die FRA ist der Nachfolger eines früheren Gremiums, des European Monitoring Center for Racism and Xenophobia (EUMC – Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit). Diese Organisation wurde 1997 durch eine Verordnung des Europarats offiziell gegründet. 2003 versuchte die EUMC eine Studie zu europäischem Antisemitismus zu unterdrücken, den sie beim Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin (ZfA) in Auftrag gegeben hatte. In Reaktion auf die Unterdrückung ihrer Schlüsse erklärten die ZfA-Wissenschaftler, dass der von ihnen gelegte Schwerpunkt auf muslimische Antisemiten und Antizionisten für das EUMC unangenehm waren. Da sie Muslime nicht an die erste Stelle der aktuellen Täter setzen, ist das offensichtlich dem FRA immer noch unangenehm. [6.Manfred Gerstenfeld, Interview mit Professor Amy Elman: Wie europäische Organisationen Schlüsseldaten zum Antisemitismus unterdrücken. abseits vom mainstream, 14. Juli 2014.]
Die FRA selbst hat also die Bekämpfung des Antisemitismus behindert.
2013 nahm sie die 2005 von einer Expertengruppe erarbeitete EUMC-Arbeitsdefinition des Antisemitismus von ihrer Internetseite. [7.Sam Sokol: Israel Urges EU Human Rights Body to Return ‚Anti-Semitism‘ Definition to Website. The Jerusalem Post, 6. Dezember 2013.] Die Existenz einer Definition ist entscheidend für die Bekämpfung dieser Form des Hasses. Die unterdrückte Definition wurde der EU unbequem, da sie die Nutzung von zweierlei Mass gegen Israel als antisemitische Taten anführt. [8. Working definition of anti-Semitism, Coordination Forum for Countering Anti-Semitism (CFCA).] Dadurch würde die EU praktisch als Täter antisemitischer Taten bezeichnet.
Innerhalb der EU-Kommission ist heute der niederländische Vizepräsident Frans Timmermans für die Bekämpfung von Antisemitismus und Islamophobie zuständig. Dieser intelligente und schlaue ehemalige niederländische Aussenminister ist Mitglied der antiisraelischen niederländischen Arbeitspartei. [9.Manfred Gerstenfeld: Wird der Repräsentant der EU beim Weltforum zur Bekämpfung von Antisemitismus die Wahrheit eingestehen? abseits vom mainstream, 4. Mai 2015] Er gibt oft, wenn Israel in Gefahr ist, einige stichhaltige Äusserungen ab, um dann eine verzerrende Verdrehung einzuschieben.
Auf dem ersten Forum für Fundamentale Rechte, zu Beginn dieses Monats, sprach Timmerans über Antisemitismus und Islamophobie. [10.Opening remarks of First Vice-President Frans Timmermans at the First Annual Colloquium on Fundamental Rights. Datenbank der Presseerklärungen der Europäischen Kommission, Brüssel, 1. Oktober 2015.] Seine Rede war ein echter Timmermans. Er erwähnte, dass „Antisemitismus manchmal versucht sich hinter Antizionismus zu verstecken“. Für einen Beobachter der Szene in Europa ist das eine Untertreibung. „Manchmal“ sollte durch „häufig“ ersetzt werden. Er begann beträchtlich von der Wirklichkeit abzuweichen, als er die aktuellen Flüchtlinge mit den jüdischen Flüchtlingen der 1930-er Jahre verglich und sagte mit emotionaler Betonung: „Das einzige Andere ist, dass die Flüchtlinge heute von woanders herkommen, unter anderen Umständen und einen anderen Hintergrund haben.“ Er vergass der Einfachheit halber zu erwähnen, dass viele der aktuellen muslimischen Flüchtlinge in einem Umfeld aufwuchsen, in dem ihnen seit Jahrzehnten extremer Hass auf Israel und Juden eingeflösst wird.
Timmermans verkündete, dass die Europäische Kommission zwei Koordinatoren ernennen wird, die jeweils zu Antisemitismus und Islamophobie berichten werden. Sie werden ihm direkt berichten. Das ist eine positive Initiative.
Zwei wichtige Bemerkungen sollten hier jedoch festgehalten werden. Erstens sollte der Antisemitismus-Koordinator von Timmermans besonders angewiesen werden sich auch mit Antiisraelismus zu befassen. Wenn er das nicht tut, kann er im EU-Umfeld nicht effektiv agieren, wo vierzig Prozent der Bevölkerung im Alter ab 16 Jahren die stereotypisch antisemitische Ansicht hegen, dass Israel einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser führt. [11.Manfred Gerstenfeld: The Widespread German Hatred of Jews and Israel. Israel National News, 2. Juli 2015.] Ein Grossteil des weit verbreiteten europäischen Antisemitismus zeigt sich als Antiisraelismus. Darauf ist in der Vergangenheit in Briefen des Simon Wiesenthal Center und des Gatestone Institute an die früheren Leiter der EU-Kommission und den Präsidenten des Europaparlaments hingewiesen worden. Die vagen Antworten, die sie erhielten, deuten an, dass es keinen Wunsch gab irgendetwas zu ändern. [12.Brief des Gatestone Institute in New York an Herrn José Manuel Barroso, Präsident der Europäischen Kommission, 25. März 2015.
Brief von Rabbi Abraham Cooper, stellvertretender Direktor des Simon Wiesenthal Center in Los Angeles, an Herrn Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments, 18. Februar 2014.]
Die zweite Bemerkung ist, dass Timmermans den Antisemitismus-Koordinator beauftragen sollte muslimischem Antisemitismus beträchtliche Aufmerksamkeit zu widmen. Tut er das nicht, sollten jüdische Organisationen versuchen Europaparlamentarier zu veranlassen der Europäischen Kommission Fragen stellen, warum dieser Koordinator muslimischem Antisemitismus und Antiisraelismus nicht die grosse Aufmerksamkeit widmet, die sie so offensichtlich benötigen.
Dr. Manfred Gerstenfeld ist Publizist und ehemaliger Vorsitzender des Präsidiums des Jerusalem Center for Public Affairs. Deutsch zuerst erschienen bei http://heplev.wordpress.com