Was kann Europa von Israel lernen?

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Wien - Migranten am 5. September 2015 im Westbahnhof. Foto Bwag. Lizenziert unter CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons.
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Professor Mosche Zimmermann und ex-Botschafter Schimon Stein haben in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) dargestellt, was im Rahmen einer Masseneinwanderung, Europa von Israel lernen könne. Sie meinten, dass Platz überhaupt kein Argument sei, auch in einem winzigen Land wie Israel sogar Millionen „Flüchtlinge“ unterzubringen.

„Raum und Wirtschaft sind also nicht die Faktoren, die zwangsläufig eine zusätzliche Einwanderung in eine Katastrophe verwandeln müssen“, schreiben Zimmermann und Stein. Sie zeigen dabei auf, wie Israel nicht trotz, sondern auch gerade wegen der Einwanderung von einem schwachen Entwicklungsland ohne Infrastruktur und von Krieg geplagt zu einem starken Mitglied der OECD geworden war.

Sie reden jedoch von dem ganzen Gebiet des britischen Mandats Palästina, „in dem vor 100 Jahren etwa nur eine halbe Million Menschen wohnten, davon weniger als ein Drittel Juden, wuchs die Bevölkerung auf 12,5 Millionen Einwohner. Etwa acht Millionen Israelis, 1,7 Millionen davon arabische oder palästinensische Israelis sowie 4,5 Millionen Palästinenser in den besetzten Gebieten.“

Das ist eine gewagte, politisch tendenziöse Behauptung, denn weder das 1967 besetzte Westjordanland noch der 2005 wieder von Israel geräumte Gazastreifen können historisch, gesellschaftlich oder wirtschaftlich in die separate Geschichte des Staates Israel „integriert“ werden.

Sie schreiben: „Damals war das wirtschaftlich schwache Land auf Wirtschaftshilfe aus dem Ausland angewiesen, die zum Teil von der jüdischen Solidargemeinschaft kam.“ Diese „jüdische Solidargemeinschaft“ wird im Falle der Juden in Israel von den Autoren dann auch „Konstrukt einer jüdischen Volksgemeinschaft“ genannt. Es sei hier angemerkt, dass anfangs nur relativ geringe Summen aus jüdischen Quellen flossen, mit denen das Hadassah-Hospital aufgebaut, ein paar Wälder gepflanzt und Parkbänke mit dem Namensschild des Spenders aufgestellt wurden. Doch für die Finanzierung des Aufbaus eines ganzen Staates hätten diese Gelder niemals gereicht.

Ein entscheidender Faktor waren die „Wiedergutmachungszahlungen“ aus Deutschland, die bis 1962 in Form von der Lieferung von Eisenbahnen, Schiffen und Kraftwerken, zum Aufbau einer Infrastruktur dienten. Aus Amerika kam bis 1970 keine Hilfe, denn erst mit dem „Schwarzen September“ in Jordanien 1970 wärmten sich die Beziehungen zwischen USA und Israel auf.

Kulturelle Hürde
Auch wenn die Autoren in der FAZ von einer „imagined community“ der Juden und einer konstruierten Volksgemeinschaft schreiben, so scheinen sie den kulturellen Hintergrund der jüdischen Einwanderer aus Jemen, Äthiopien, Irak und Marokko zu ignorieren. Schon vor über 100 Jahren, als der politische Zionismus in Europa noch nicht erfunden war, kamen jemenitische Juden auf Eseln nach Jerusalem und errichteten ihre „Siedlung“ in Silwan, im heutigen Osten Jerusalems. Für die rund 800.000 Juden, die Anfang der 1950er Jahre aus den arabischen Ländern vertrieben worden waren, war der gerade erst errichtete Staat Israel ein natürliches Ziel ihrer Flucht. Und gleiches gilt für Juden aus Äthiopien. Bei ihrer Ankunft küssen sie den Teer des Flughafens, den Boden des „heiligen Landes“, und erklären, in Jerusalem das Ziel ihrer Träume erreicht zu haben. Derartige Szenen dürfte es mit keinem einzigen Syrer geben, sowie er den ersten Bahnhof in Deutschland erreicht.

Auch wenn Zimmerman und Stein vom „Konstrukt“ eines jüdischen Volkes schreiben, muss man feststellen, dass ausnahmslos alle jüdischen Einwanderer wegen eines jüdischen Zusammengehörigkeitsgefühls nach Israel kommen. Das gilt für die nach 75 Jahren unter dem Kommunismus verweltlichten Juden der Sowjet Union, wie für die Franzosen heute, für Jemeniten, Iraker und Äthiopier oder Amerikaner.
Dank des Rückkehrgesetzes erhalten sie schon bei der Landung auf dem Flughafen ihren Personalausweis und sind vom ersten Tag an gleichberechtigte Staatsbürger. Der russische Einwanderer Anatoly (Natan) Scharansky wurde gar wenige Jahre nach seiner Ankunft Minister. Aus diesen Gründen kann die jüdische Einwanderung nach Israel nicht mit der Flüchtlingswelle aus Syrien verglichen werden.

Vergleichbar wäre bestenfalls die „Rückholung“ der Wolgadeutschen mit der „Rückkehr“ der Juden. Die einen waren vor 400 Jahren ausgewandert, während die Juden vor 2000 Jahren ihre „Heimat“ verlassen hatten.

Im Gegensatz zu den Syrern und anderen, die es heute nach Europa zieht, weil man dort gutes Geld verdienen kann, kamen die Wolgadeutschen und die jüdischen Flüchtlinge „zurück in ihre alte Heimat“, nachdem sie aus ihren bisherigen Wohngebieten, in denen sie, wie die Juden im Irak, seit 3.000 Jahren gelebt hatten, offenbar nicht „integriert“ und dann als „Fremde“ vertrieben worden waren. Der „Stamm“ der Juden hat sich in den „muslimischen“ Ländern von Irak bis Marokko nie integrieren können. Selbst zum Islam konvertierte Gemeinschaften halten an ihren Stammeseigenschaften fest und gelten als etwas „anderes“, zum Beispiel die Berber, die Tuaregs in Marokko oder die Beduinen im Vorderen Orient.

Sprache als Schlüssel für Integration
Wer in Amerika kein Englisch kann, ist verloren. Die Landessprache ist überall in der Welt ein Schlüssel für Kommunikation und Integration. In Israel hat man mit Ulpanim ein sehr effektives Mittel erfunden, Einwanderer umgehend in das Hebräische einzuführen. Nicht nur die Lehrmethode mit Betonung auf gesprochene Sprache erweist sich als Erfolgsgeheimnis. Der Besuch eines Sprachulpans ist für jeden Einwanderer Pflichtprogramm. Wer schwänzt, dem entzieht der Staat Israel zustehende Hilfsgelder für die Erstintegration. Es fragt sich, ob sich ein solcher „Zwang“ mit entsprechenden Sanktionen im toleranten und freiheitlichen Deutschland durchsetzen lässt.
„Die nach Israel eingewanderten Neubürger beherrschten in ihrer Mehrheit die Landessprache Hebräisch nicht.“ Wie konnten sie auch. Zwar war Hebräisch seit 3.000 Jahren die Sakralsprache, ähnlich wie das Lateinische bei den Katholiken. Aber erst vor etwa 100 Jahren wurde die Hebräische Sprache wiederbelebt und künstlich in eine moderne Umgangssprache verwandelt. Noch in den 1930er Jahren wurde darüber diskutiert, ob im künftigen jüdischen Staat Deutsch die Umgangssprache sein sollte. Da auch die Israelis ihre Sprache erst einmal erlernen mussten, ist klar, dass nFlüchtlinge sie nur selten beherrschten. Das ist mit Europa nicht vergleichbar.

Einwanderungsland oder nicht
Der Versuch, Deutschland mit anderen Ländern zu vergleichen und zu fragen ob es ein „Einwanderungsland“ sein könne, ist berechtigt und zugleich schwierige Frage.
Als klassische Einwanderungsländer gelten neben Australien und Neuseeland auch alle Staaten in Nord und Südamerika, die ja vermeintlich, trotz Ureinwohnern „leer“ waren. Der Wille und die Fähigkeit, in all diesen Staaten eine separate Kultur aufzubauen, zeigt sich an der relativ homogenen spanisch-katholischen Kultur in Südamerika, aber auch an der separaten französischen oder englischen Kultur in Kanada. In den USA verlieren die Einwanderer schon in der zweiten Generation ihren Migrantenhintergrund und wählen den „american way of life“.

Vorbilder für Deutschland könnten weder Amerika noch Israel sein, sondern europäische Länder wie Frankreich, Holland und England. Allerdings mit einem grossen Unterschied. Die drei genannten Länder waren mal Kolonialmächte. Sie wurden überschwemmt mit ihren ehemaligen Untertanen: Engländer mit Indern und Pakistanis, Franzosen mit Menschen aus dem Maghreb und Holländer mit Indonesiern. Da besteht schon eine längere kulturelle und politische Affinität. Und dennoch gestaltet sich die Integration nicht ganz einfach, wie Terror und Unruhen in Frankreich wie in England bewiesen haben.

Deutschland hatte fast keine Kolonialvergangenheit. Es besteht zwischen Deutschen und Syrern keinerlei kulturelle, sprachliche oder gar religiöse Gemeinschaft, wie zwischen Juden und Israelis. Und Deutschland ist traditionell kein Land, das jeden Fremden umarmt und zum einem unverkennbaren „Amerikaner“ macht, wie die USA.
Nicht die Toleranz der empfangenden Gesellschaft und deren Bereitschaft, sich der Kultur oder Religion der Flüchtlinge anzupassen ist entscheidend für den Erfolg einer Integration.

Erst einmal müssten die „Fremden“, also die Flüchtlinge oder Migranten, gefragt werden, ob sie sich überhaupt integrieren wollen. Falls die jetzt ankommenden Syrer oder die seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden Türken kein Interesse haben „Deutsche“ zu werden, ist jeder Versuch einer Integration von vornherein zum Scheitern verurteilt. „Ich bin doch nur für drei Monate für die Arbeit nach Deutschland gekommen. Wieso sollte ich Deutsch lernen“, fragte uns ein türkischer Gastarbeiter mit Hilfe eine Dolmetschers, da er auch nach 30 Jahren immer noch kein Deutsch gelernt hatte. Bestens integrierte türkische Ärzte und Geschäftsleute in Suhlingen zwischen Hannover und Bremen klagten, dass ihre Kinder heute kein Deutsch mehr könnten, weil sie zuhause nur türkisches Fernsehen sähen. Deren junger, aus der Türkei entsandter Imam verstand kein Wort Deutsch. Und in deren Moschee, in einem niedersächsischen Bauernhaus mit Strohdach, gleich neben dem Kirchlein, hing eine grosse türkische Flagge.

Deutsche Flüchtlinge in Deutschland lassen sich von anderen Deutschen kaum unterscheiden. Bundesaussenminister Joschka Fischer erzählte einmal, dass er selber einer von 14 Millionen „Flüchtlingen“ sei, als er Stellung zum Problem der palästinensischen Flüchtlinge beziehen sollte. Der Unterschied ist vor allem, dass die Deutschen aus Königsberg, Danzig, Schlesien und dem Sudentenland umgehend ihren Status als Flüchtlinge verlieren, während palästinensische Flüchtlinge auch in der vierten oder fünften Generation, also auf ewig, dank der separat für sie eingerichteten UNO- Flüchtlingsorganisation UNRWA sogar in Gebieten unter palästinensischer Verwaltung im Westjordanland oder im Gazastreifen ihre Status als „Flüchtlinge“ behalten. Neben kostenloser Erziehung ihrer Kinder bekommen sie monatlich einen Sack Mehl, Kichererbsen und Fischkonserven gespendet.

So gesehen ist eine „Integration“ der Syrer, Irakis und Pakistanis oder Libyer, die heute nach Ungarn, Österreich und Deutschland kommen vielleicht gar nicht so erstrebenswert. Man könnte für sie auch eine separate Flüchtlingsorganisation schaffen, wie für die Palästinenser, sie in Flüchtlingslager stecken und ein Völkerrecht erfinden, das sich „Rückkehrrecht in ihre alte Heimat“ nennt.

Über Ulrich W. Sahm

Ulrich W. Sahm, Sohn eines deutschen Diplomaten, belegte nach erfolgtem Hochschulabschluss in ev. Theologie, Judaistik und Linguistik in Deutschland noch ein Studium der Hebräischen Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1975 ist Ulrich Sahm Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien und berichtet direkt aus Jerusalem.

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