Sir Nicholas Winton ist gestorben – ein Nachruf

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Sir Nicholas Winton in Prag. Foto Li-sung. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons.
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Mit 106 Jahren starb vor 2 Wochen der Brite, Sir Nicholaus Winton, der im Alleingang 699 jüdische Kinder vor dem Holocaust rettete.

Von Sabrina Goldemann. Freie Autorin. Berlin.

Als Nicholas Winton im Dezember 1938 von seinem Freund, Martin Blake einen Anruf aus Prag bekam, begann seine grösste Herausforderung. Blake brauchte Unterstützung für die jüdischen Flüchtlinge. Winton kam und sah, dass er sich um die Kinder kümmern musste. So brachte er schliesslich vor Beginn des 2. Weltkrieges acht Kindertransporte aus dem von den Nazis besetzten Prag nach England. Hartnäckig und selbstaufopfernd organisierte er Papiere und die richtigen Pflegeeltern für die Kinder. Ein neunter Transport sollte am 3. September 1939 nach England starten. Der Kriegsbeginn jedoch verhinderte den Start. Das bedeutete das Todesurteil für 250 Kinder. Die Trauer darüber quälte ihn lange. Hat er deshalb 50 Jahre über seine Rettungsaktion geschwiegen?

Erst 1988 entdeckte Wintons Frau, Greta, beim Aufräumen ein altes Buch mit exakten Aufzeichnungen, darunter einer Namensliste Prager Kinder und Fotos aus dem Jahre 1939. Sie brachte den Fund an die Öffentlichkeit. Die britische BBC recherchierte die Adressen der Kinder und lud Nicholas Winton zu einer populären Talkshow ein, bei der auch viele der geretteten Kinder anwesend waren – inzwischen im hohen Alter. Für sie war es eine grosse Überraschung, dass keine Organisation sie rettete, sondern ein einzelner Mann. Seitdem sind alle Beteiligten zu einer grossen „Familie“ verschmolzen.

Nicholas Winton wurde am 19.5.1909 in London als Nicholas George Wertheim geboren. Seine jüdischen Eltern konvertierten zum Christentum. Er absolvierte eine Banklehre und arbeitete als Börsenmakler. Ab Kriegsende arbeitete er engagiert für die internationale Flüchtlingsorganisation und die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung.

Medienvertreter und Politiker holten für ihn die schillerndsten Titel aus dem Wortfundus, waren beschäftigt Zeitzeugen zu finden und zitierten authentische Statements der Protagonisten. Der bescheidene Winton jedoch sah sich nicht als „britischer Schindler“, „Held des Holocaust“ oder „Retter“, sondern eher als Held wider Willen. Mit ihm ist ein grosser bescheidener Mann gegangen, der sogar von der Queen 2003 für seinen humanitären Einsatz den späten Ritterschlag erhielt. Die königlichen Worte: “Es ist wunderbar, dass Sie fähig waren so viele Kinder zu retten” fassten einen bereits vorausgegangenen „hype“ zu Wintons Zivilcourage und sozialem Engagement zusammen.

Ein Jahr zuvor gewann Matej Minács abendfüllender Dokumentarfilm, The Power of Good über Nicholas Wintons Rettungsaktion den Emmy Award. In Begleitung von Sir „Nicky“ ging der Film um die Welt, da die Präsentation meist im Rahmen eines internationalen Bildungsprogramms stattfand und vor allem mit ihm Wirkung zeigte. Der soziale “Winton-Virus” steckte viele junge Menschen an, Gutes zu tun, in freiwilligen Hilfsprojekten zu arbeiten und so dem grossen Vorbild nachzueifern.

Wintons Motto, “Wenn etwas nicht unmöglich ist, dann muss es einen Weg geben, es zu tun“ stand auch Pate für die gleichnamige Autobiografie und Hommage der Tochter, Barbara Winton, an den Vater. Es ist die Geschichte des damals 29jährigen Börsenmaklers und dessen uneigennütziger Einsatz für die dem Tod geweihten jüdischen Kinder in Europa. Die sogenannten Kindertransporte brachten insgesamt 10.000 meist jüdische Kinder bis 17 Jahre ohne Begleitung aus Berlin, Wien und Prag zwischen 1938 und 1939 in verplombten Zügen durch Nazideutschland Richtung England. Die britische Regierung erlaubte Flüchtlingskindern eine Einreise, wenn Pflegeeltern oder Einrichtungen nachgewiesen werden können, damit die Kinder den britischen Steuerzahler nicht belasten. Obwohl aufgrund besserer Finanzierung und Organisation weit mehr Kinder aus Berlin und Wien gerettet wurden, blieb Wintons Rettungsaktion jedoch durch sein Ein-Mann-Unternehmen innerhalb der Kinderabteilung des britischen Komitees für Tschechoslowakische Flüchtlinge einmalig.

Zu „Nickys Kindern“ gehört auch der bekannte kanadische CBC Journalist, Joe Schlesinger, der mit elf Jahren gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder und mehr als 200 weiteren Kindern im Juni 1939 nach England fuhr. Die Eltern sahen die Brüder nie wieder. Im Jahre 2011 führte der über 80jährige Schlesinger durch Matej Minács neuen Winton-Film. In „Nickys family“ kann der Zuschauer das tragische Schicksal der getrennten Familien, der verzweifelten Mütter und der verängstigten Kinder miterleben. Das inszenierte Dokudrama lässt die „Kinder“ zu Wort kommen, ihre Geschichten zu erzählen. Viele sind wie ihr Retter auch ehrenamtlich tätig gewesen. “Verschwende dein Leben nicht damit, nur das Richtige zu tun, sei täglich vorbereitet etwas Gutes zu tun.”, sagte Sir Nicholas im Interview.

Joe Schlesinger, die „Legende des kanadischen Journalismus‘„ erinnert sich gerne an seine regelmässigen Begegnungen mit dem Wohltäter, den er für sein lebenslanges soziales Engagement bewundert. „Er betreute Halbwaisen in Brasilien und behinderte Kinder weltweit. Bis zum Schluss arbeitete er als Freiwilliger im Krankenhaus“, erzählt er. Von dem Moment an, als er erfuhr, wer ihn rettete, wurde Winton zu seiner Vaterfigur. Die Kanadische Journalisten Vereinigung ehrte Schlesinger 2009 für sein engagiertes Lebenswerk. Vielleicht kam die Inspiration für seine Arbeit durch den Mann, der ihm, wie er sagte, den „Rest seines Lebens schenkte“.