Eine Analyse der letzten Wahlen durch die Augen des amerikanisch-israelischen Philosophen Micah Goodman.
Die Wahlen
Der Wahlkampf war wortgewaltig und hässlich. Die Kampagnen befassten sich mit Personen anstatt mit Inhalten; stützten sich auf Diffamierungen anstatt auf Ideologien. Dabei war der aggressive, persönliche und enthemmte Charakter der öffentlichen Debatte der jüngsten Monate allerdings keineswegs das Spiegelbild einer stetig wachsenden Polarisierung der israelischen Gesellschaft… deren Pole sind überraschenderweise gerade dieser Tage dabei, sich allmählich aufzulösen. Das war auch der Grund für die Vulgarität dieses Wahlkampfs: wo es keine starren wertegebundenen Diskrepanzen gibt, bleibt nichts anderes übrig, als persönliche Divergenzen zu verschärfen. In anderen Worten: die politische Debatte in Israel verliert nicht etwa deshalb an Niveau, weil wir auseinanderdriften, sondern gerade, weil wir uns einander annähern.
Die Klüfte in der israelischen Gesellschaft der 70er bis 90er Jahre
In den 1970ern, -achtzigern und -neunzigern taten sich im Land enorme ideologische Klüfte auf, die die israelische Gesellschaft in zwei Lager spalteten. Der Glaube daran, dass die Besiedlung des Landes dessen messianische Erlösung näherbringt, war der Kitt, der den rechten Block zusammenhielt; die Überzeugung, dass politische Lösungen dem Land Frieden bringen würden, hielt das linke Lager zusammen. Diese zwei vorherrschenden Gesinnungen prallten aufeinander und die israelische Gesellschaft wurde zwischen ihnen hin- und hergerissen.
Der Prozess der Annäherung der Linken und der Rechten
Im Lauf der Zeit jedoch zeigten beide Ideologien allmählich Abnutzungserscheinungen. Viele israelische Linke begannen zu erkennen, welche Gefahren ein Rückzug hinter die grüne Linie mit sich brächte. Es entwickelte sich der allgemeine Konsens, dass ein Verzicht auf sämtliche Gebiete des Westjordanlands Israel auf Grenzen zusammendrängen würde, die nicht verteidigungsfähig wären. Gleichzeitig gelangten auch viele israelische Rechte zu der Einsicht, dass eine uneingeschränkte israelische Hegemonie über die besetzten Gebiete Israel sowohl diplomatisch wie auch demographisch gefährdet. Die absolute Herrschaft über diese Gebiete würde zu einem Verlust der jüdischen Mehrheit im Staat und dem gleichzeitigen Verlust von dessen internationaler Legitimation führen. Ein Verweilen in den besetzten Gebieten bedrohe daher Israels Existenz. Nun entwickelte sich ein doppelter Konsens: geographisch gesehen hat die Rechte recht − ein Rückzug aus dem Westjordanland bedeutete eine Gefährdung Israels; diplomatisch und demographisch gesehen hat die Linke recht − ein Verbleiben in den Gebieten bedeutete eine ebensolche Gefährdung. Das inhärente Dilemma ist, dass jede Beseitigung einer dieser beiden existenziellen Bedrohungen die andere hervorbringt. Aus all dem entstand allmählich folgender paradoxer Konsens: man darf nicht in den besetzten Gebieten bleiben und man darf sich auch nicht aus diesen zurückziehen.
Israels neue politische Mitte
Eine Analyse der einzelnen Elemente dieser Spannung ergibt folgendes Bild: Israel muss sich aus den besiedelten Territorien des Westjordanlands zurückziehen, jedoch die Gebiete behalten, die für seine Sicherheit kritisch sind. So entsteht auf den Ruinen des ideologischen Disputs Israels neue politische Mitte. Ihre Anhänger stimmten für das Zionistische Lager, das – im Gegensatz zur Vergangenheit − nicht länger verspricht, Frieden zu bringen, und für den Likud, der – im Gegensatz zur Vergangenheit − nicht länger verspricht, weitere Siedlungen zu bauen. Sie stimmten aber auch für die Zukunftspartei »Yesh Atid«, für »Kulanu« und »Israel Beitenu«, die die Friedens- und die messianische Erlösungsdebatte durch eine Sicherheits- und Lebenshaltungskostendebatte zu ersetzen versuchten. In anderen Worten: hinter der trennenden Rhetorik verbirgt sich ein breiter Konsens. Nie zuvor war die israelische Gesellschaft weniger polarisiert, und die aus diesen Wahlen hervorgehende Regierung kann und muss diesen neuen israelischen Konsens widerspiegeln.
Konkrete Umsetzung der neuen Situation
Der nächste politische Pakt könnte die Grundlage eines neuen politischen Miteinanders darstellen: eine Einschränkung der Bautätigkeiten in den besetzten Gebieten einerseits, und eine Einschränkung politischer Initiativen andererseits. Die Bautätigkeiten blieben auf die grossen Siedlungsblöcke begrenzt, und die politischen Initiativen auf Interims- und Teillösungen. Es würde nicht länger im Herzen der besetzten Gebiete gebaut werden, um eine künftige politische Lösung nicht zu blockieren, es würde aber auch keine politischen Vereinbarungen geben, die schon bald zu einer Massenevakuierung führten. Eine Mässigung des politischen Übereifers und der fiebrigen Siedlungsaktivitäten könnten auch ein Paketabkommen darstellen, das es ermöglicht, zwischen den Parteien stehende Themen beiseite zu räumen und die politischen Aktivitäten auf die Bereiche zu konzentrieren, für die es in Israel einen breiten Konsens gibt – allen voran seine jüdische Identität.
Staat und Religion
Der Grossteil der Israelis ist der Überzeugung, dass das derzeitige Verhältnis zwischen Staat und Religion ungesund ist. Es gibt zu viele religiöse Gesetze und zu wenig jüdische Erziehung. Die religiöse Gesetzgebung wie auch das Monopol des Rabbinats auf sämtliche religiösen Dienstleistungen haben dem Status der Religion erheblich geschadet. Zieht man dazu noch die verwässerte jüdische Bildung in Betracht, die die Kinder an staatlichen Schulen geniessen, bekommt man das Heranwachsen eines israelischen Selbstverständnisses, dessen Schnittstellen mit dem Judentum auf einem System des Zwangs basieren, anstatt auf einem System der Erziehung. Das Verhältnis zwischen Staat und Religion muss neu organisiert werden, und zwar so, dass dieser sowohl demokratischer, als auch jüdischer wird − demokratischer, weil eine Aufhebung der religiösen Gesetzgebung und eine Einschränkung des Rabbinatsmonopols die Meinungs- und Glaubensfreiheit in Israel verstärken würde, und jüdischer deshalb, weil eine Förderung der jüdischen Erziehung mit all ihren philosophischen und kulturellen Aspekten die Ignoranz der Israelis im Bezug auf ihr jüdisches Wissen zwangsläufig aufweichen müsste. Das identitätsgebundene Junktim, auf das sich eine grosse Koalition stützen würde, wäre einfach und effektiv: mehr jüdische Erziehung und weniger religiöse Gesetzgebung.
Wirtschaft und Gesellschaft
Der freie Markt in Israel ist nicht wirklich frei. Er wird von Konzernen beherrscht, die zu gross sind, von einer staatlichen Bürokratie, die zu verwickelt ist, und von Arbeitergewerkschaften, die zu stark sind. Eine grosse Koalition würde darauf hinarbeiten, den Markt aus dem Würgegriff dieser drei Brennpunkte zu befreien, den Wettbewerb zu stärken und Preise wie Lebenshaltungskosten zu senken. Wie alle israelischen Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten wird auch die grosse Koalition auf ein Wirtschaftswachstum hinarbeiten. Sie wird dabei allerdings ein so genanntes integratives Wachstum fördern, ein Wachstum also, dessen Früchte sämtlichen Sektoren der Gesellschaft zugutekommen. Gemeint ist ein wirtschaftlicher Aufschwung, der die Mittelklasse mit sich nach oben zieht, anstatt sie als Zuschauer zurückzulassen; ein Wachstum, das das soziale Gefälle nicht etwa vergrössert, sondern schmälert.
Eine Chance, die nicht versäumt werden darf
Die Wahlergebnisse geben neue Hoffnung. Die israelische Gesellschaft ist heute viel weniger polarisiert, und daraus entsteht eine sehr viel grössere Gelegenheit: die Aufstellung einer Regierung, die die Bautätigkeiten ausserhalb der grossen Siedlungsblöcke einfriert, über Teillösungen hinausgehende politische Initiativen auf Eis legt und die politischen Energien Israels aus ihrer Starre befreit. Eine Regierung, die weder dem Traum vom wiedervereinten Land nachhängt, noch dem vom Frieden im Land, ist eine Regierung, die imstande ist, den Traum von einer Heilung der Beziehungen zwischen Staat und Religion, zwischen Wirtschaft und Gesellschaft zu verwirklichen.
Eine auf einer knappen Mehrheit basierte Rechts- oder Linksregierung bedeutete nicht nur den Verrat am Willen des Volkes, sondern auch das Versäumen der Chance dieser Stunde: den Wechsel von einer auf Zwistigkeiten basierten Politik zu einer, die den Konsens betont, zu einer Politik, die die zentralen Strömungen in der israelischen Gesellschaft im Rahmen eines neuen politischen und wirtschaftlichen Junktims und Selbstverständnisses eint.
Übersetzung aus dem Hebräischen, Rachel Grünberger-Elbaz
Dr. Michah Goodman, ein israelisch-amerikanischer Philosoph, lebt mit seiner Familie in Israel und ist einer der führenden Stimmen des zionistischen Judentums, der heutigen Bibelauslegung, und bezüglich den Herausforderungen des modernen Israels und Weltjudentums. Er ist Autor von drei Bestsellern und hat diverse Auszeichnungen erhalten. Er ist Direktor des Ein-Prat Institutes, ein Bet Midrash (Lehrhauses) für Erwachsene aller jüdischen Ausrichtungen, welche den pluralistischen Charakter der israelischen Gesellschaft stärkt und Brücken zwischen jüdischen Personen mit verschiedensten Backgrounds schlägt. Micah Goodman ist ein charismatischer Redner, der oft im Ausland für Vorträge und in diversen israelischen Think-Tanks und kulturellen Veranstaltungen eingeladen wird.