Die Selbst-Schuld-Studie

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Foto The Israel Project. Lizenziert unter CC BY-SA 2.0 über Wikimedia Commons.
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Eine Kritik am Forschungsbericht »Antisemitismus als Problem und Symbol. Phänomene und Interventionen in Berlin«, den das Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin im Auftrag der Landeskommission Berlin gegen Gewalt erstellt hat.

VON MATTHIAS KÜNTZEL via Jungle-World

Kreuzberg, April 2014: Ein 31jähriger verlässt seine Wohnung und wird von sechs jungen Männern auf arabisch nach seiner Herkunft gefragt. Er outet sich als Israeli und wird daraufhin als »dreckiger Jude« beschimpft und zusammengeschlagen. Der Tagesspiegel berichtet darüber unter der Überschrift »Antisemitischer Überfall: Mann aus Israel geschlagen«.

Diese Schlagzeile ist unzutreffend! – erklären jetzt Michael Kohlstruck und Peter Ullrich. Es gebe »keine hinreichenden Informationen, die es rechtfertigen würden, hier von einem antisemitischen Phänomen auszugehen«. So sei nicht ausgeschlossen, dass die Täter den »(nahost-)politischen Konflikt« lediglich vor einer Kreuzberger Haustür austragen wollten (84). Kohlstruck und Ullrich schreiben dies in ihrer kürzlich veröffentlichten Studie »Antisemitismus als Problem und Symbol«. Darin fordern sie, die Verwendung des Wortes »Antisemitismus« radikal zu reduzieren. Künftig soll dieser Begriff nur dann noch gelten, wenn es um »die Ablehnung von Juden als Juden« geht (91). In Kreuzberg aber sei ein Israeli zusammengeschlagen worden; die Schlagzeile »Arabische Jugendliche attackieren Israeli« sei also okay.

Das Problem ist damit aus der Welt. Oder vielleicht nicht? Nehmen wir den dänischen Prediger Abu Bilal Ismail. Er forderte im Sommer 2014 in der Neuköllner Al-Nur-Moschee: »Allah, zerstöre die zionistischen Juden, zähle und töte sie bis zum letzten Mann.« Darf man auch in diesem Fall nicht von »Antisemitismus« reden, weil der Prediger nicht alle Juden, sondern nur alle »zionistischen« Juden getötet sehen will?

Wir könnten es bei dieser – zugegeben rhetorischen – Frage belassen und zu etwas Wichtigerem übergehen, wäre da nicht die Tatsache, dass die 140seitige Broschüre von Kohlstruck und Ullrich eine Studie des »Zentrum für Antisemitismusforschung« (ZfA) ist, die der Berliner Senat finanziell förderte und über seine Homepage vertreibt. Der Projektleiter, der ihre Erstellung betreute, ist Professor Werner Bergmann, der stellvertretende Leiter des ZfA. Die Leiterin des Zentrums, Professorin Schüler-Springorum, lobt in ihrem Vorwort nicht nur »die Qualität der Arbeit, die Sorgfalt von Recherche und Interpretation«, sondern betont, dass die Resultate dieser Studie »in ihrer grundsätzlichen Bedeutung weit über Berlin hinausreichen« (10).

Das wird auch vom American Jewish Committee in Berlin so gesehen oder genauer: befürchtet. Denn das AJC ist über diese Studie entsetzt. Sie verharmlose den Judenhass und stelle »sowohl die zivilgesellschaftliche als auch die politische Arbeit zum Thema Antisemitismus grundlegend in Frage«, heisst es in dem 15seitigen Kritikpapier, das Deidre Berger, Direktorin des AJC, am 5. Februar veröffentlichte. Auch würden hier »Einschätzungen von jüdischen Vertretern abgewertet«. In der Tat setzt die Studie die als »jüdisch« bezeichnete Sichtweise auf den Antisemitismus systematisch herab: Sie sei nicht nur »pessimistisch« und »dramatisierend«, sondern stelle zudem »die Bedrohungen in den Vordergrund«. (44)

Für die Anfertigung ihrer Arbeit haben Kohlstruck und Ullrich 29 Interviews mit staatlichen und jüdischen Stellen sowie Nichtregierungsorganisationen in Berlin geführt, um deren Haltung zum Antisemitismus und deren Gegenmassnahmen in Erfahrung zu bringen. Es handele sich um »wissenssoziologische Antisemitismusforschung«, schreiben die Verfasser: »Es ist die Sicht einer Beobachtung zweiter Ordnung oder einer Beobachtung der Beobachter/innen.« (20)

Es sind aber nicht die empirischen Details, die bei dieser Studie Anstoss erregen, sondern die allgemein-politischen Betrachtungen und Wertungen der Autoren. Deren wichtigste Essentials legte Peter Ullrich, einer der Autoren, bereits 2013 in seinem Buch »Deutsche Linke und der Nahostkonflikt« dar – ein Buch, das das ZfA auf seiner Homepage bewarb. Man muss dieses Buch zurate ziehen, um die »grundsätzliche Bedeutung« der ZfA-Studie zu verstehen.

Probleme mit dem Holocaust

Ullrich wendet sich in seinem Buch gegen »ein ganz spezifisches ›Denken nach Auschwitz‹, das den Zwang beinhaltet, mehr oder weniger alle Ereignisse durch die Brille von deutscher ›Schuld und Erinnerung‹ zu betrachten.« (23)

Er steht mit dieser Forderung nicht allein; der Name des Schriftstellers Martin Walser kommt als erstes in den Sinn. So, wie Walser 1998 von der »Auschwitz-Keule« sprach, so bezeichnete Ullrich in einem Interview mit dem MDR 2013 »den Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden« als »die stärkste moralisch hochgeladene Waffe, die stärkste Keule, mit der man andere delegitimieren kann«. Anders als Walser erfand Ullrich für das, was ihn stört, ein neues Wort: In seinem Buch bezeichnet er die »Selektivität der Erinnerung« und die »dauerhafte Fixierung auf die Besonderheit deutscher Erfahrung« als »deutschen Exzeptionalismus«. Er übersieht dabei, dass nicht das Erinnern an die Shoah aussergewöhnlich (»exzeptionell«) ist, sondern das Verbrechen selbst.

Seinen besonderen Ausdruck, schreibt Ullrich weiter, finde jener »deutsche Exzeptionalismus im Erinnerungsdiskurs und den oft neurotischen und i.d.R. konfliktträchtigen Geschichtsdebatten und Befangenheiten, insbesondere in den Diskussionen über die Unvergleichbarkeit der Shoah«. (98)

Den Erinnerungsdiskurs als »oft neurotisch« zu bezeichnen – das ist ein Standpunkt, der bei einem »wissenschaftlichen Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung«, so der Klappentext des Buches, erstaunt. Ullrichs Abneigung gegen »Auschwitz-Keule« und Erinnerungskultur prägt aber auch die ZfA-Studie »Antisemitismus als Problem und Symbol«.

Darin bezeichnen Kohlstruck und Ullrich den angeblich »omnipräsente(n) Vergangenheitsbezug« als »problematisch«, da durch ihn beim Thema Antisemitismus ein »exzeptioneller moralischer Massstab« angelegt werde. Sie denunzieren dies als »Moralkommunikation«.

Dieser Moralismus sei daran schuld, dass die Akzeptanz (»nüchterne Bewertung«) von antisemitischen Äusserungen, die sie für harmlos halten, »blockiert« werde. Er sei dafür verantwortlich, dass das »ritualhafte Anbringen (…) überzogener Antisemitismusvorwürfe« begünstigt und »Antisemitismus als eine dämonisierte Kategorie« verwendet werde. (22)

Während es für die meisten Antisemitismusforscher nur ein einziges tragendes Motiv gibt, sich mit Antisemitismus zu beschäftigen, nämlich ihm Widerstand entgegenzusetzen, scheint das Forschen des ZfA einem anderen Ziel zu dienen: Es will dem deutschen Antisemitismusdiskurs seinen historischen Stachel ziehen. Warum aber rennen die Autoren so wütend gegen die Macht der Erinnerung als ein Zentralmotiv gegenwärtigen Engagements gegen den Antisemitismus an?

Die Haltung der Autoren gegenüber Israel scheint zumindest eines der Motive zu sein. Wie in vielen anderen Fällen, so geht auch hier die Weigerung, bei Auschwitz genauer hinzusehen, mit einem schrägen Blick auf Israel einher.

Aversionen gegen Israel gehören zum deutschen Alltag. Treten sie jedoch bei Antisemitismusforschern auf, so ist das so, als wäre Rassismusforschern die Abschaffung der südafrikanischen Apartheid egal gewesen.

Wer wirklich über Rassismus forscht, wem also die Leidensgeschichte der Schwarzen bewusst ist, wird gar nicht anders können, als die Überwindung der Apartheid in Südafrika prinzipiell und von Herzen zu begrüssen, auch wenn er an der Politik des heutigen Südafrika etwas auszusetzen hat. Auf den Judenhass übertragen, bedeutet dies: Wer wirklich über Antisemitismus forscht, sich also der Leidensgeschichte der Juden bewusst ist, wird gar nicht anders können, als die Existenz eines jüdischen Staates prinzipiell und von Herzen zu begrüssen, auch wenn er an der Politik des heutigen Israel etwas auszusetzen hat.

Solche Parteinahme für jüdische Selbstbestimmung und für den jüdischen Staat konnte ich in der jüngsten ZfA-Broschüre (wie auch in allen anderen mir bekannten ZfA-Publikationen) nicht finden – oder habe ich etwas übersehen?

Aversion gegen Israel

Auch hinsichtlich ihres Umgangs mit Israel lässt sich die ZfA-Broschüre besser verstehen, wenn wir zunächst Peter Ullrichs Buch in Augenschein nehmen. Ullrich, der aus seiner Nähe zur Linkspartei keinen Hehl macht, gefällt sich in diesem Buch in der sympathischen Figur eines Neutralen, der die »binäre Struktur« im Diskurs der deutschen Linken – hier die 150prozentigen Israelverehrer, dort die 150prozentigen Palästina-Fans – aufbrechen will.

Von einer neutralen Haltung zu Israel kann jedoch keine Rede sein, wie der folgende Buchausschnitt beweist:

»Das Schlagwort von der ›einzigen Demokratie im Nahen Osten‹ leitet ein affirmatives Zerrbild von Israel, welches bestenfalls etwas mit dem bunten Nachtleben von Tel Aviv zu tun hat. Nicht in dieses Bild passen einerseits die (…) auf dauerhafte Erniedrigung und Enteignung der Palästinenser/innen ausgerichtete Kontinuität und stete Vertiefung der Besatzung und andererseits die extrem autoritäre Entwicklung in Israel selbst: vom zunehmenden Einfluss der Ultraorthodoxen (…) über den (…)  Grossmachtdiskurs und offiziellen Rassismus bis hin zum voranschreitenden Sozial- und Demokratieabbau.« (24)

Was, bitte schön, hat ein buntes Nachtleben mit Demokratie zu tun? Dem Autor scheint nicht geläufig zu sein, dass Demokratien gewisse Qualifizierungsmerkmale wie Gewaltenteilung, freie Meinungsäusserung und Unabhängigkeit der Justiz besitzen – Merkmale, die mit bunten Nächten nichts zu tun haben, Merkmale, über die Israel jedoch verfügt und die es von all seinen Nachbarn unterscheiden.

Ullrich spricht auch nicht einfach von »Besatzung«, sondern konstatiert eine »auf dauerhafte Erniedrigung und Enteignung ( … ) ausgerichtete Kontinuität und stete Vertiefung der Besatzung«. Sein Text verwendet das Stakkato der Empörung, lässt aber historischen Ereignissen wie der Räumung des Gaza-Streifens durch Israel keinen Raum. Da, wo Ullrich Belege anführt, halten sie – zumindest bei den von mir gemachten Stichproben – der Überprüfung nicht stand. Ullrich schreibt:

»Die ethnische Segregation von Buslinien und die heimlich praktizierte Zwangssterilisation äthiopischer Jüdinnen sind weitere aktuelle Beispiele eines tief verankerten Rassismus innerhalb Israels.« (92)

Für die erste Behauptung – »ethnische Segregation« – verweist er auf einen Artikel in der britischen Tageszeitung Guardian, der jedoch das Gegenteil besagt: Hier ging um einen Busservice, der speziell für Gastarbeiter aus dem Westjordanland in Israel eingerichtet wurde, der aber, wie der Artikel betont, auch von Juden genutzt werden kann.

Während es in diesem Fall immerhin einen Anknüpfungspunkt gab, ist die »heimlich praktizierte Zwangsterilisation« ein Produkt der Phantasie. Erstens spricht bereits der Titel des von ihm als Quelle genannten Artikels von »Geburtenkontrolle«, nicht von »Zwangssterilisation«; zweitens hatte die israelische Regierung dieser Quelle zufolge auch die Verabreichung von Anti-Baby-Injektionen ohne die ausdrückliche Zustimmung der betroffenen Frauen untersagt. Drittens lässt sich der hier erwähnte Umstand, dass Israel 100 000 äthiopische Juden in sein Land kommen liess, mit Ullrichs Verdikt vom »offiziellen Rassismus« schwerlich vereinbaren.

Leider wirkt sich Ullrichs Parteilichkeit auf seine Haltung zum israelbezogenen Antisemitismus aus, sei es, dass er die antisemitische Hamas als »hauptsächlich antizionistisch« charakterisiert und internationale Verhandlungen mit ihr begrüsst, sei es, dass er antiisraelische Aktivitäten verteidigt, die nach den gängigen Definitionen die Grenze zum Antisemitismus überschreiten.

Ullrich behauptet, dass der Boykott von Israel, auch wenn man den jüdischen Staat als weltweit einziges Land damit belegt, »sicher nicht an sich antisemitisch« sei (170). Auch der Vergleich »von Aspekten israelischer und nationalsozialistischer Politik« müsse »möglich sein und wird auch vielfach praktiziert«. (76) Selbst »die Ablehnung eines Selbstbestimmungsrecht des jüdischen Volkes‹« (d.h. die Ablehnung des Existenzrechts Israels) sei nicht unbedingt antisemitisch motiviert. Sie »kann genauso gut auch Ausdruck einer generellen antinationalen Orientierung sein«. (75)

Einer der Fürsprecher jener »antinational-internationalistischen Idee«, die sich die »Auflösung nationaler und religiöser Partikularismen« zu ihrer Aufgabe macht, ist Ullrich selbst. So lässt er Sympathien für den bei Nobert Kapferer kritisch verwendeten Begriff des »Erlösungs- oder Auflösungsantisemitismus« erkennen, weil dieser »die Jüdinnen und Juden nicht um jeden Preis als ›Volk‹ anerkennen und erhalten will«. (144) Die Juden als Volk nicht erhalten zu wollen und die Kategorie »Volk« heute schon in Anführungszeichen zu setzen – diese Haltung ist selbst für einen Sympathisanten der Linkspartei bemerkenswert.

Ullrich darf natürlich schreiben, was er will. Erstaunlich ist allein der Umstand, dass das »Zentrum für Antisemitismusforschung« ihn und das hier zitierte Buch protegiert. So wurde es der Öffentlichkeit erstmals auf einer gemeinsamen Veranstaltung von »Zentrum« und Rosa-Luxemburg-Stiftung vorgestellt; der stellvertretende ZfA-Leiter, Professor Werner Bergmann, leitete die Veranstaltung.

Nun aber zurück zur ZfA-Studie »Antisemitismus als Problem und Symbol«. Hier schlägt das antiisraelische Vorurteil auf dreierlei Weise durch.

Erstens lehnt die ZfA-Studie die ansonsten übliche Unterscheidung zwischen legitimer Kritik an der israelischen Regierung und antisemitischen Antiisraelismus ab. An deren Stelle tritt die Dreiteilung in »Israelkritik«, »Antizionismus« und die schliesslich hiervon zu unterscheidenden »antisemitischen Phänomene«, die die Studie, wie bereits angemerkt, »grundsätzlich als negatives Verhältnis gegenüber Juden als Juden (und nicht gegen Israel, Israelis oder israelische Staatspolitik)« (69) definiert.

Zweitens lehnt das ZfA-Papier Gruppenfahrten nach Israel ab. »So sinnvoll Schul- und andere Partnerschaften zwischen Deutschland und dem Ausland im Allgemeinen sind, so problematisch ist dies im Verhältnis zu Israel«, schreiben die Autoren. Dies gelte speziell dann, wenn solche Fahrten eine Zurückdrängung des Antisemitismus intendierten. Denn derartige Begegnungsprojekte, heisst es weiter in der Studie, »könnten bei jugendlichen Teilnehmenden ungewollt eine Gleichsetzung der Kategorien ›Israelis‹ und ›Juden‹ befördern« (69), was aber gemäss der oben postulierten Unterscheidung zu vermeiden sei.

Paternalistischer Rassismus

Drittens aber gibt sich der Bericht alle Mühe, den antisemitischen Israelhass unter Muslimen kleinzureden. Zwar kommt das ZfA-Papier nach Sichtung mehrerer Spezialstudien zu dem Schluss, dass »das Ausmass von antisemitischen, antiisraelischen und antizionistischen Einstellungen und Meinungen (…)  unter muslimischen jungen Leuten höher (ist) als in nichtmuslimischen Bevölkerungsteilen«. (89) Hierbei habe sich, so weiter, der »israelisch-palästinensische Konflikt (…) als der zentrale Kristallisationskern« derartiger »Haltungen bei muslimischen Jugendlichen« erwiesen.

Gleichwohl lehnen die Autoren die Kategorie »junger Muslim« oder die Bezeichnung »muslimischer Antisemitismus« als »problematische soziale Konstruktion« ab, wie Michael Kohlstruck in einem Interview betont: »Die Adressierung eines besonderen Antisemitismus unter jungen Muslimen ist nicht gerechtfertigt«; staatliche Förderprogramme, die »bestimmte Bevölkerungsteile schon in der Programmformulierung als besondere Problemgruppen darstellen«, seien »politisch nicht sinnvoll«, erklärte er in einem Interview mit Radio Dreyeckland vom 19. Februar.

Dessen ungeachtet listen die Autoren speziell für antisemitisch orientierte Muslime ein ganzes Sammelsurium an Entlastungsargumenten auf. So führen sie die »generalisierte Feindschaft gegenüber Jüdinnen und Juden« entweder »auf unmittelbare eigene leidvolle Erfahrungen beziehungsweise auf Erfahrungen der Eltern- und Grosselterngeneration im nahöstlichen Konfliktgeschehen« zurück (89) oder aber auf »die Erfahrungen von tatsächlicher wie vermeintlicher Unterprivilegierung, Diskriminierung und Rassismus« (90). Antisemitismus habe bei Muslimen »einen Nutzen für die jeweilige soziale Selbstdarstellung und die politisch-weltanschauliche Orientierung«, er stelle für sie eine »subjektive Notwendigkeit« (90) dar.

In seiner bereits erwähnten Stellungnahme zur ZfA-Studie hat das American Jewish Committee diesen Umgang mit Muslimen zu Recht kritisiert. Die Autoren der Studie betrachteten Muslime »von oben herab als Opfer«, anstatt sie »als gleichberechtigte Staatsbürger in den Kampf gegen Antisemitismus ein(zu)beziehen.«

In der Tat ist die Studie von Kohlstruck und Ullrich von einer Haltung durchzogen, die sich als »paternalistischer Rassismus« bezeichnen lässt. Zugewanderte Araber und Türken, heisst es bei ihnen, seien »mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit bereit«, dem Antisemitismus entgegenzutreten. (27) Schüler »aus Familien mit einer Migrationsgeschichte« litten unter einer »migrantischen Distanz«, was das Interesse für deutsche Geschichte anbelangt (67), oder seien gar Opfer »rassistischer Ausschlüsse« (21), sobald es im Unterricht um den Holocaust geht. Irgendeine Begründung für derartige Zuschreibungen liefern sie nicht.

Doch auch die anderen Vorwürfe, die der AJC in seinem Kritikpapier erhebt, sind plausibel. In der ZfA-Studie werde, so der AJC, »der bundesrepublikanische Grundkonsens, der die Erinnerung an den Holocaust und die Ächtung des Antisemitismus umfasst ( …), als hinderliches Problem definiert«. »Am Ende der Lektüre«, heisst es hier weiter, »erscheint Antisemitismus weniger als relevantes gesellschaftliches Problem, sondern eher als ein Problem derjenigen, die sich gegen Antisemitismus einsetzen.«

Nun ist das American Jewish Committee, wenn es um die Bekämpfung des Antisemitismus geht, kein Neuling aus der letzten Reihe. 1906 in den USA gegründet, um den Kampf gegen den Judenhass zu organisieren, ist es in dieser Hinsicht eine der wichtigsten Organisationen der Welt und zudem in Berlin seit vielen Jahren als Organisator von Bildungsprogrammen gegen den Antisemitismus engagiert.

Umso erstaunlicher die Unverfrorenheit, mit der das ZfA auf dessen Kritik reagiert: Die AJC-Kritik dokumentiere »ein systematisches Desinteresse für die Fragestellung der Untersuchung«, heisst es in der von Kohlstruck, Ullrich, Bergmann und Schüler-Springorum unterzeichneten Erklärung. »Insgesamt liegt der Kritik des AJC ein ungenügendes Verständnis der Unterschiedlichkeit der Aufgaben und Funktionsweisen von politischen Akteuren und wissenschaftlicher Forschung zugrunde.«

Der oberlehrerhafte Duktus dieser Erwiderung ist durchaus amüsant, geriet doch die jüngste ZfA-Studie gerade deshalb zum Skandal, weil sie die so hoch beschworene »wissenschaftliche Forschung« durch grobe politische Intervention diskreditiert.

Kohlstruck und Ullrich machen aus den politischen Prämissen, die ihre Studie prägen, keinen Hehl. Dass man den Antisemitismus unter Muslimen besonders thematisiere, »halten wir einfach für politisch nicht sinnvoll«, erklärt Kohlstruck. Peter Ullrich geht mit seinem Bekenntnis, dass er »Jüdinnen und Juden nicht um jeden Preis als ›Volk‹ erhalten« und sich »die Brille von deutscher ›Schuld und Erinnerung‹« lieber heute als morgen vom Kopf reissen wolle, noch weiter. Derartige Politkonzepte aber haben die Resultate der Studie »Antisemitismus als Problem und Symbol« mehr als alles andere geprägt.

Von einer Neuorientierung der ZfA kann dennoch keine Rede sein. Die Arbeit von Kohlstruck und Ullrich hat die Zentrumsarbeit nicht neu definiert, sondern das, was das ZfA seit Längerem praktiziert, prägnanter als üblich formuliert. Ein Beispiel liefert die Internationale Konferenz »Antisemitism in Europe Today: the Phenomena, the Conflicts«, die das ZfA aus Anlass des 75. Jahrestages der Reichspogromnacht am 8./9. November 2013 federführend organisierte.

»Antisemitism in Europe Today: the Phenomena, the Conflicts«

Eigentlich war es eine gute Idee, anlässlich des 75. Jahrestags der Reichsprogromnacht gerade in Berlin eine internationale Konferenz über »Antisemitism in Europe Today« durchzuführen. Veranstalter waren die Stiftung »Erinnerung, Verantwortung Zukunft«, das Jüdische Museum Berlin sowie das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung. Zwar gab es einige ausgezeichnete Vorträge über den gegenwärtigen Judenhass in Ungarn, Schweden, Frankreich oder der Ukraine, doch lagen einige der vom Zentrum eingebrachten Entscheidungen wie schwere Schatten über der Konferenz.

Dazu gehört zum einen der provokante oder ignorante Umgang mit den Juden. So begann diese Konferenz aus Anlass der Reichspogromnacht an einem Freitagnachmittag und dauerte bis Samstagabend. Diese Terminsetzung schloss Juden, die die von Freitagabend bis Samstagabend geltenden Schabbat-Gebote befolgen, a priori aus.

Dazu gehört zum anderen der Widerwille, den gegenwärtigen Antisemitismus im Lichte der Erfahrungen des Holocaust zu betrachten. So gingen weder der Aufruf zu dieser Konferenz noch deren Programm auf das historische Ereignis von 1938 ein. Selbst die Reden, mit denen Stephanie Schüler-Springorum die Konferenz am 8. November eröffnete und am 9. November beschloss, liessen die Ereignisse vom November 1938 aus.

Dazu gehört drittens die Ranküne gegenüber Israel. So wurde in der Konferenzankündigung Israel nur in einer einzigen Rolle erwähnt: als Auslöser für das, was man den »neuen Antisemitismus« nennt. »The conference will address (…) the so called ›new antisemitism‹, sparked off by Israel’s policies in the Middle Eastern conflict«, so der Wortlaut der besagten Passage.

Mit dieser Formulierung werden Juden an hervorgehobener Stelle und aus Anlass des 9. November 1938 für den neuen Antisemitismus verantwortlich gemacht – eine wahrhaft reife Leistung! Als ich während der Konferenz einige der Verantwortlichen darauf ansprach, kritisierte einer meiner Gesprächspartner diesen Passus als »Schlamperei« – auch er wusste, dass Antisemitismus niemals jüdischem Verhalten, sondern, wenn überhaupt, einer völlig verzerrten Wahrnehmung dieses Verhaltens entspringt. Ein anderer brachte die Möglichkeit eines »Übersetzungsfehlers« ins Spiel. Es war allein Werner Bergmann, der diesen Passus mir gegenüber mit Verweis auf Israels Verhalten 2002 in Jenin verteidigte. Mit »Jenin« ist ein im April 2002 durchgeführter Einsatz der israelischen Armee im Flüchtlingslager Jenin gemeint, dem ein Selbstmordattentat der Hamas auf eine Hochzeitsgesellschaft in Netanja (30 Tote, 140 Verletzte) vorausgegangen war. Die in Windeseile verbreiteten Behauptungen über Massaker an Palästinensern mit Hunderten von Toten erwiesen sich später als gefälscht. Der Einsatz kostete 23 Israelis und 52 Palästinensern, darunter 22 Zivilisten, das Leben.

Viertens aber wurde selbst bei dieser Konferenz das vermeintliche Problem der Antisemitismusvorwürfe in den Mittelpunkt gerückt. So lud das Zentrum als Hauptredner den britisch-jüdischen Philosophen Brian Klug ein, der seit langem vor überzogenen Antisemitismusanschuldigungen warnt. Seine Rede spielte den Antisemitismus erwartungsgemäss herunter, um sich auf die Gefahren der Vokabel Antisemitismus zu konzentrieren. Antisemitismus, warnte Klug, sei ein »gefährliches« Wort, da es mit Geschichte aufgeladen sei. Es sei »monströs«, diesen Vorwurf zu Unrecht zu erheben.

Den Schwerpunkt seines Vortrags bildeten fünf Szenen aus dem Londoner Alltag, bei denen eine Busfahrerin jeweils einen Rabbi aus ihrem Bus entfernt. Der Redner wollte mit diesen Szenarien demonstrieren, dass die Fahrerin diesen Juden in vier der fünf Fälle ohne antisemitische Motivation aus dem Bus geschmissen hat – eine wahrhaft beschauliche Fiktion, die den Blick auf die Welle des neuen Antisemitismus in Europa aber verdeckt.

Wir sehen: Die zentralen Prämissen der neuen ZfA-Broschüre – Widerwillen gegen die Thematisierung des Holocaust, Aversion gegen Israel, Dramatisierung des Themas »Antisemitismus-Vorwürfe« – begleitet die Arbeit des Zentrums bereits seit Längerem, ohne dass die Öffentlichkeit hiervon Kenntnis nimmt.

Erst jetzt provozierte die ungeschminkte Präsentation dieser Ausrichtung durch Kohlstruck und Ullrich eine gewisses Mass an öffentlicher Empörung und eine Distanzierung massgeblicher jüdischer Vertreter und Organisationen von der deutschen Antisemitismusforschung, soweit das ZfA sie repräsentiert.

Am 1. Februar 2015 veröffentlichte Anetta Kahane, die Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung, einen sarkastischen Kommentar zum ZfA, das die jüdische Perspektive »subjektiv und irgendwie übertrieben« finde. Den Antisemitismus zu beurteilen, sei »offenbar Sache der deutschen Gesellschaft, also der Nicht-Juden. Wohl auch aus diesem Grunde arbeitet im Zentrum für Antisemitismusforschung kein einziger Jude. Sie sind aus ihrer vermeintlichen Opferperspektive dafür offenbar zu befangen.«

Am 5. Februar trat Deidre Berger, die Direktorin des American Jewish Committee in Berlin, mit ihrer ausführlichen Kritik des jüngsten ZfA-Berichts an die Öffentlichkeit.

Am 9. Februar folgte die scharfe Kritik von Julius H. Schoeps, dem Gründungsdirektor des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam. Es sei »ein einzigartiger Skandal«, dass in der neuen Antisemitismus-Kommission beim Bundesinnenministerium kein einziger Jude Mitglied sei. So käme niemand auf die Idee, eine Konferenz gegen Islamhass ohne Muslime oder einen Antirassismus-Konvent ohne People of Color durchzuführen.

Der öffentliche Aufschrei und die internationale Kritik, die auf Schoeps’ Äusserung folgten, machen deutlich, dass man Antisemitismusforschung in Deutschland eigentlich nur mit Juden, nicht gegen sie betreiben kann.

Inzwischen hat das ZfA reagiert und einen Offenen Brief an die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen adressiert, der diese auffordert, die »jüdische Perspektive (…) im Expertenkreis Antisemitismus zu verankern«.

Was das ZfA unter »jüdischer Perspektive« versteht, bleibt freilich offen. Das Papier von Kohlstruck und Ullrich hat jedenfalls mit Wissenschaft wenig und mit »jüdischer Perspektive« gar nichts zu tun.

Die Zahlen im Text beziehen sich auf die Seitenangaben der Studie (Michael Kohlstruck und Peter Ullrich: Antisemitismus als Problem und Symbol. Phänomene und Interventionen in Berlin, Heft 52 der Reihe Berliner Forum Gewaltprävention, Berlin 2014) beziehungsweise des Buchs (Peter Ullrich: Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt. Politik im Antisemitismus- und Erinnerungsdiskurs, Göttingen 2013). Hervorhebungen sind jeweils die der Autoren. Weitere Quellenangaben zu diesem Artikel finden sich auf www.matthiaskuentzel.de