Die Schweizer Neutralität und Nahost

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Wie verhält es sich mit der Neutralität der Schweiz im Nahostkonflikt?

Im Dezember berieten Vertreter aus 126 Signatarstaaten der Genfer Konventionen von 1949 zwei Stunden lang über den Schutz der Zivilisten in den besetzten „palästinensischen Gebieten“. Israel, die USA, Australien und Kanada boykottierten das Treffen. Das israelische Aussenministerium erklärte, dass die Schweizer Regierung Israel wegen Menschenrechtsverletzungen aussondern wolle. Israel erwäge daher, die Beziehungen mit der Schweiz neu zu überdenken.

Im November hat die Schweizer Botschaft in Jerusalem eine dreitägige Veranstaltung des IKRK (Internationales Komitee des Roten Kreuzes) für Studenten verschiedener israelischer Universitäten mitorganisiert. Die Studenten der Fachbereiche Jura und Internationale Beziehungen debattierten über die „Prinzipien internationalen öffentlichen Rechts und internationales humanitäres Recht“. Natalie Kohli, die Vertreterin des Botschafters, bemerkte in ihrer Rede bei diesem „8. Nationalen Wettbewerb zu internationalem humanitärem Recht“ (IHL), dass schon kurz nach den ‚Feindseligkeiten im Sommer’ (damit meinte sie den Gaza-Krieg) das Leben in Israel zu einer gewissen „Normalität“ zurückgekehrt sei. Der Unterton suggerierte, dass dies wohl eine Sünde sei. Daraufhin zitierte sie den prominenten israelischen Menschenrechtsanwalt Michael Sfard, wonach die Ereignisse im Sommer eine „gezielte Hinrichtung des internationalen Rechts“ gewesen seien. Während des Gaza-Kriegs hatte die israelische Armee Raketenstellungen und Waffenlager in privaten Häusern, Schulen und Moscheen entdeckt. Zum Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung, warnte Israel diese jedoch vor jedem Angriff auf diese Ziele. Kohli verdrehte diesen Tatbestand, indem sie ungenannte NGOs zitierte: Warnungen verwandeln die angegriffenen Wohnhäuser nicht in legitime militärische Ziele.

Zudem hat das EDA dieser Tage die Schweizer Position zum Nahostkonflikt aktualisiert. „Konflikt im Nahen Osten: Haltung der Schweiz“ heisst das prominent von den Botschaften der Schweiz in Ramallah und Tel Aviv verlinkte Dokument.

„Die Schweiz … anerkennt den Staat Israel innerhalb seiner Grenzen von 1967 und engagiert sich für einen lebensfähigen, zusammenhängenden und souveränen Staat Palästina auf der Grundlage der Grenzen von 1967 und mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt.“ In der englischen Version ist in dem entsprechenden Satz zunächst die Rede von „1967 lines“. In der Folge werden jedoch auch dort „borders“ erwähnt. Jeder, der sich nur flüchtig mit dem Konflikt beschäftigt hat, weiss, dass die „Grenzen von 1967“ nur eine zwischen Israel und Jordanien auf Rhodos 1949 abgesprochene „Waffenstillstandslinie“ waren. Sie sind keine international anerkannte Grenze.

Weiter heisst es dort: „Nach Auffassung der Schweiz gelten alle von Israel kontrollierten Gebiete, die ausserhalb der Grenzen von 1967 liegen, gemäss humanitärem Völkerrecht, als besetzte Gebiete. Die Schweiz ist der Ansicht, dass die israelischen Siedlungen gegen das humanitäre Völkerrecht verstossen und zudem ein grosses Hindernis für den Frieden und für die Umsetzung einer Zweistaatenlösung darstellen.“ Gemeint ist die Vierte Genfer Konvention.

Damit ein Territorium als „besetzt“ bezeichnet werden kann, muss es zuvor einem souveränen Staat gehört haben. Der Gazastreifen war aber vor 1967 von Ägypten nur „besetzt“ und Jordanien hatte das Westjordanland völkerrechtswidrig annektiert. Einen palästinensischen Staat hat es nie gegeben. Aus guten Gründen reden die Israelis von „umstrittenen“ Gebieten, die seit dem Abzug der Briten 1948 keinem Staat zugehörten.

Die Siedlungen im Westjordanland gelten als Verstoss gegen das humanitäre Völkerrecht, weil es laut Genfer Konvention einem Besatzerstaat verboten ist, seine eigene Bevölkerung in besetztes Gebiet zu „deportieren oder zu transferieren“. Bisher hat noch kein einziger der rund halben Million Israelis jenseits der „Grünen Linie“ von 1967 von sich behauptet, „deportiert“ oder „transferiert“ worden zu sein.

Hier sei angemerkt, dass die englische Version der Konvention bindend ist. Da steht „deport or transfer“. Doch irgendwann hat das IKRK die deutsche Übersetzung der Konvention geändert. Vor einem Jahr stand anstelle von „deport or transfer“ zusammenfassend nur noch „umgesiedelt“. Inzwischen steht in der deutschen Version „deportiert oder umgesiedelt“.

Dass die Siedlungen ein „grosses Hindernis für den Frieden und für die Umsetzung einer Zweistaatenlösung darstellen“ ist eine in Europa verbreitete Meinung und entspricht der palästinensischen Sicht. Aber bekanntlich gibt es noch ein paar andere „kleine“ Probleme, die auch von der Schweiz offensichtlich ignoriert werden: palästinensischer Terror, Hetze zu Gewalt, die Weigerung, Israel anzuerkennen, die von der Hamas offen in ihrer Charta verkündete Absicht, Israel zu zerstören und vieles mehr.

Weiter fordert die Schweiz eine Anerkennung des Grundsatzes „Land für Frieden“. Dieser handliche Spruch ist aber nur eine Interpretation der Resolution 242 und kein verankerter „Grundsatz“. Wörtlich kommt er in der Resolution nicht vor. Dort geht es in der Präambel um die „Unzulässigkeit, Territorium durch Krieg zu erwerben“ und im ersten Abschnitt, um die Einrichtung eines „gerechten und dauerhaften Friedens im Mittleren Osten“.

Beim Friedenschluss mit Ägypten und Jordanien hat dieses Prinzip funktioniert, zumal die alten Mandatsgrenzen als Grundlage dienten. Doch nach dem vollständigen Rückzug aus dem Gazastreifen 2005 mitsamt Abriss aller dortigen israelischen Siedlungen erhielt Israel als Gegenleistung nicht Frieden, sondern Raketenbeschuss, Terroranschläge und mehrere Kriege. Frieden kann also nicht jedem garantiert werden, der Land abgibt.

Mehrfach ist die Rede von „palästinensischen Gebieten“. Tatsache ist, dass im Rahmen der Osloer Verträge allein die Autonomiegebiete und nach 2005 der gesamte Gazastreifen den Palästinensern zur Verwaltung übergeben worden sind. Die übrigen Gebiete im Westjordanland sind ehemals jordanisch besetzte Gebiete. Yassir Arafat bestätigte mit seiner Unterschrift die Osloer Verträge, wonach diese Gebiete bis zu einem neuen Vertrag unter israelischer Kontrolle bleiben. Sie als „palästinensisch“ zu bezeichnen, ist demnach ein Vorgriff in die Geschichte.

Das Schweizer Positionspapier offenbart einen Widerspruch beim Status von Jerusalem. Der künftige palästinensische Staat müsse mit „Ostjerusalem als Hauptstadt“ errichtet werden und Ostjerusalem sei Teil der „besetzten palästinensischen Gebiete“. Die Schweiz hat also eine erneute Teilung der Stadt beschlossen und Ostjerusalem den Palästinensern zugeschlagen. So weit, so gut. Doch was ist mit Westjerusalem, das seit 1948 zum Staat Israel gehört. Zur Lösung des Nahostkonflikts empfiehlt die Schweiz eine „umfassende verhandelte Regelung über den endgültigen Status von Jerusalem in Übereinstimmung mit der Resolution 478 des UNO-Sicherheitsrats, die die Rechte und Forderungen aller interessierten Parteien wahrt“. Dass diese Resolution in keiner Weise die israelisch/jüdischen Rechte, Forderungen und Ansprüche wahrt, sei dahingestellt, denn sonst hätte der Sicherheitsrat diese Resolution wohl kaum verabschiedet! Doch weiter heisst es noch: „Da kein internationales Abkommen über den endgültigen Status von Jerusalem vorliegt, hat die Schweiz wie die übrige internationale Gemeinschaft ihre Botschaft in Tel Aviv.“

Ohne es offen auszusprechen, bezieht sich hier die Schweiz auf den Teilungsplan, die „Empfehlung“ der UN-Generalversammlung vom 19. November 1948, Resolution Nr. 181. Jerusalem sollte nach dem Willen der Vereinten Nationen weder zum jüdischen Staat (später Israel) noch zum „arabischen Staat“ gehören, dessen Errichtung wegen Widerstandes der arabischen Welt bis heute ausgeblieben ist. Jerusalem sollte als „corpus separatum“ einem “speziellen international Regime unterstellt werden, verwaltet von der UNO”. Die Resolution zeichnet auch die Grenzen jenes corpus separatum: Die gegenwärtigen Stadtgrenzen, plus Dörfer und Städte drumherum, Abu Dis im Osten, Bethlehem, Ain Kerem und Motza im Westen, sowie Schuafat im Norden.

Das Schweizer Positionspapier erklärt nicht, wieso der Status des von den Palästinensern beanspruchten Ostjerusalems und Bethlehems schon klar sind, während allein der Status von Westjerusalem mit einem „internationalen Abkommen“ geregelt werden müsse. Haben etwa palästinensische Ansprüche im Völkerrecht grössere Kraft, als eine faktische Kontrolle Israels in Westjerusalem seit 1948? Diese Frage könnte und sollte auch an die USA und andere Staaten gerichtet werden, die ebenso wie die Schweiz ihre Botschaft in Tel Aviv angesiedelt haben.

Zwecks Lösung des Nahostkonflikts müssten folgende Kriterien genügen, heisst es weiter in dem Positionspapier. Aufgezählt wird eine „Anerkennung der Resolutionen 242, 338, 497 und 1515 des UNO-Sicherheitsrats”. Das EDA hat diese Ziffern offenbar blindlings kopiert. Die Resolution 338 behandelt den Waffenstillstand nach dem Krieg von 1973 und hat sich mit dem Frieden zwischen Israel und Ägypten erledigt. Die Resolution 1515 ist ein Aufruf zur Beendigung der Intifada und zur Befolgung der „Road Map“.

Das gesamte Papier ist letztlich eine Handlungsanweisung an Israel. Kritik an israelischer Politik ist zwar legitim, doch das allein kann nicht die Grundlage für eine Lösung des Nahostkonflikts sein. Für einen ernst zu nehmenden Lösungsvorschlag müssten die Fakten stimmen und alle betroffenen Parteien gleichermassen zur Verantwortung gezogen werden.

Über Ulrich W. Sahm

Ulrich W. Sahm, Sohn eines deutschen Diplomaten, belegte nach erfolgtem Hochschulabschluss in ev. Theologie, Judaistik und Linguistik in Deutschland noch ein Studium der Hebräischen Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1975 ist Ulrich Sahm Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien und berichtet direkt aus Jerusalem.

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1 Kommentar

  1. Shalom and erev tov meine Freunde ,

    die so demokratischr Schweiz hat auch in der Nazizeit alle deutsche Juden denen es gelungen war die schw.Grenze zu über
    schreiten sofort an die Nazie ausgeliert trotzdem sie wussten das diese Menschen ermordet wurden. Ich habe bis heute kein Fuss aus schweizer Boden gesetzt. David israel

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