Rache, Vergeltung, Kollektivstrafe

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„Möge Gott sein Blut rächen.“ Das ist der übliche Spruch bei Begräbnissen israelischer Terroropfer. Nicht der Mensch, sondern Gott wird die Rache übernehmen. „Die Rache ist mein; ich will vergelten.“ Das sagt der HERR laut Luther-Übersetzung von 5. Mose 5,32. Daraus wurde dann der „jüdische Rachegott“. Wer genau hinschaut, sieht, dass Rache keineswegs eine jüdische Charaktereigenschaft ist. Im Gegenteil. Dem Judentum ist Rache eher fremd. Und selbst der oft zitierte aber gründlich missverstandene biblische Spruch „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ hat nichts mit Rache zu tun. Er regelt die Verhältnismässigkeit von Vergehen und Bestrafung. Genau das gehört zu den Grundsätzen europäischer Rechtsprechung. Wer einem das Auge ausschlägt, zahlt eine Geldstrafe und muss sein Opfer kompensieren.

Das Wort „Rache“ kommt auch in offiziellen Erklärungen nicht vor, etwa der israelischen Regierung. Als das Kabinett nach dem Anschlag auf die Synagoge im Jerusalemer Viertel Har Nof, bei dem fünf Menschen mit Schlachtbeilen und Messern niedergemetzelt worden sind, einen Acht-Punkte-Plan mit Gegenmassnahmen für derartige Terroranschläge veröffentlichte, war nicht die Rede von Rache, sondern von Abschreckung und Versuchen, den Einzelgänger-Terror einzudämmen. In einem Fall hatte das sogar schon Erfolg. Bei einem Anschlag in einem Supermarkt in Mischor Adumim trug ein Sicherheitsmann, der zufällig Kunde war, seine Pistole bei sich und verhinderte durch Schüsse in die Beine des Attentäters ein Massaker. Wenige Tage zuvor hatte die israelische Regierung beschlossen, Sicherheitsleuten zu erlauben, auch ausserhalb des Dienstes eine Waffe zu tragen. Schwarzmalereien, dass nun Israelis Massaker anrichten könnten, haben sich nicht bewahrheitet.

Dennoch zeterten die Medien fast unisono: Netanjahu sinnt nach Rache, „Israels Rache für Attentate: Der Kreislauf des Hasses“ (Spiegel), „Ruf nach Rache in Jerusalem“ (NZZ) oder „Israels Premier Netanjahu will Rache“ (NOZ). Nach dem Fund der Leichen der drei entführten Israelis vom Juni und dem kurz darauf geführten Gaza-Krieg führte, fragte 20Min.ch: „Wohin führt Israels Rache-Feldzug?“ Der „Rache-Feldzug“ bezog sich freilich auf die Suchaktion nach den entführten Jugendlichen. Erwartete etwa 20Min.ch, dass Israel nicht nach Entführten und Tätern suchen sollte? Warum wird die Fahndung nach Vermissten oder Tätern in Israel als „Rache“ gewertet?

Der Versuch, Israel bei jeder besseren Gelegenheit Rachsucht nachzusagen, hat eine lange Tradition. Das begann schon vor fast 2000 Jahren, als die Christen von ihrem „Gott der Nächstenliebe“ sprachen, während sie die Juden eines biblischen „Rachegottes“ bezichtigten. Heute, auf den Staat Israel übertragen, wird israelischen Ministerpräsidenten kein rationales politisches Handeln nachgesagt, sondern „biblische Reflexe“ und eben „Auge um Auge“.

Dabei sind die meisten israelischen Reaktionen fast identisch mit Massnahmen, wie sie auch andere Regierungen nach Terroranschlägen beschliessen. Die NATO ist nach 9/11 in Afghanistan einmarschiert, weil sich die Taliban schützend vor Osama bin Laden gestellt hatten. Die Briten haben jetzt beschlossen, IS-Kämpfern die Pässe abzunehmen. Und in Deutschland ist die Polizei aufgefordert, Terroristen und ihre Drahtzieher zu verhaften. Schlimmer noch. Wer in Deutschland eine Straftat anpreist „nachdem sie begangen oder in strafbarer Weise versucht worden ist, in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften billigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“

Dieser § 140 des deutschen Strafgesetzbuches scheint es in Israel nicht zu geben, denn sonst hätte Israel die Angehörigen der Synagogen-Mörder vor Gericht stellen müssen, nachdem sie offen in Fernsehinterviews die Taten ihrer Söhne oder Männer verherrlicht haben. Es wurde lediglich beschlossen, der Frau von einem der Mörder die Aufenthaltsgenehmigung für Jerusalem abzunehmen und sie „nach Hause“ zu schicken. Die europäischen Medien, die über diese „Kollektivbestrafung“ gegen die Familie berichteten, verschwiegen, dass die Frau im Rahmen von „Familienzusammenführung“ aus den palästinensischen Gebieten nach Jerusalem kommen durfte und dann auch die üblichen Vorzüge wie Sozialversicherung, Krankenkasse und ähnliches erhielt. Es ist davon auszugehen, dass sie sich verpflichten musste, die israelischen Gesetze zu halten. Einen Terroranschlag zu verherrlichen und zu hetzen gehört wohl nicht dazu, ungeachtet der Frage, ob sie von dem geplanten Anschlag der Jamal-Cousins aus Dschabel Mukaber im Vorfeld wussten.

Zu den beschlossenen Massnahmen zählt auch das Verbot hetzender Organisationen, womit vor allem die „Islamische Bewegung“ von Raed Salah gemeint ist. Verboten wurde in Israel bisher nur die „Kach“-Bewegung des inzwischen in New York von einem Palästinenser in New York ermordeten Rabbi Meir Kahana. Palästinensische Terrororganisation, darunter die Volksfront zur Befreiung Palästinas PFLP oder Hamas, wurden auf die Terrorliste gesetzt. Auch das sind in Europa übliche Methoden.

„Völkerrechtsverletzung“, „Kollektivbestrafung“, „Rache“ und ähnliches wurde Israel wegen dem Beschluss vorgeworfen, die vor einigen Jahren gestoppte Zerstörung der Häuser von Terroristen wieder aufzunehmen. Gewiss lässt sich darüber streiten, welchen Sinn diese Methode hat, wenn die Palästinensische Autonomiebehörde und von den Europäern finanzierte Nicht-Regierungs-Organisationen einspringen, den Betroffenen neue und gar grössere Häuser zu bauen.

Umstritten ist die Methode auch, weil sie nach Erkenntnissen israelischer Militärs eher zu mehr Gewalt führe. Doch auch dieser Beschluss war nicht „Rache“, wie in europäischen Medien behauptet. Es sollte vielmehr zur „Abschreckung“ dienen, wie Netanjahu und sein Polizeiminister behaupteten.

Als „Rache“ wurde auch Golda Meirs Befehl bezeichnet, die Mittäter des Massakers bei den Olympischen Spiel in München 1972 zu töten. Und der Spiegel produzierte 2011 gar eine Titelgeschichte „Israels geheime Killer-Kommandos, Davids Rächer“. Zwei Fragen dazu: Sollte Israel es hinnehmen, dass die Terroristen von München straflos freigelassen wurden und dann weitere Terroranschläge planten? Und die Ermordung von iranischen Atomexperten, falls es stimmt, dass Israelis dafür verantwortlich waren, ist das wirklich Rache oder vielleicht eher ein Präventivschlag, solange Iran an einer Atombombe arbeitet mit der ausdrücklichen Absicht, Israel damit auszulöschen?

Über Ulrich W. Sahm

Ulrich W. Sahm, Sohn eines deutschen Diplomaten, belegte nach erfolgtem Hochschulabschluss in ev. Theologie, Judaistik und Linguistik in Deutschland noch ein Studium der Hebräischen Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1975 ist Ulrich Sahm Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien und berichtet direkt aus Jerusalem.

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