Herkunft und Geschichte des Antisemitismus in Ägypten

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Foto Cif Watch
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Von Liberalen zu Islamisten ist das einzige Verbindende der Antisemitismus. Woher kommt er? Warum ist die ägyptische Kultur von dieser giftigen Ideologie so durchdrungen? Und was bedeutet das für die Welt und die Zukunft Ägyptens?

Auf der Suche nach den Wurzeln des Antisemitismus in Ägypten und der weiteren arabischen und islamischen Welt führen Beobachter oftmals zwei Hauptquellen an: entweder den Islam oder Israel. Doch beide Erklärungen geben nicht Antwort auf alle Fragen wie: Warum gibt es Antisemitismus unter nicht-muslimischen Arabern? Oder umgekehrt: Warum gab es Philosemitismus in Ägypten in den 1920er Jahren? Oder warum ist der Antisemitismus nach dem Friedensprozess zwischen Israel und seinen Nachbarn angestiegen statt nachzulassen?

Selbstverständlich machen Antisemiten in Ägypten und anderenorts in der arabischen Welt effektiven Gebrauch vom Koran, und selbstverständlich liefern die Gründung des Staates Israel und der andauernde arabisch-israelische Konflikt Antisemiten etliches Rüstzeug, doch weder Israel noch der Islam sind Quelle des Antisemitismus.

Eine dritte Erklärung für den Anstieg des Antisemitismus in Ägypten und der arabischen Welt postuliert, dass arabische Regime Antisemitismus als Mittel schüren, um die Wut der Menschen auf ihre elenden Lebensumstände abzulenken. Und obwohl dieser Erklärung etwas Wahres hat, erklärt sie nicht, woher der Antisemitismus kommt.

Um die Wurzeln des Antisemitismus in der arabischen Welt im Allgemeinen und in Ägypten im Besonderen zu verstehen, muss sowohl die Krise der Moderne in der arabischen Welt als auch der Import europäischer Ideologien und Ideen ergründet werden.

Die Krise der Moderne in der arabischen Welt begann mit der plötzlichen Erkenntnis des Fortschritts des Westens beim Vergleich mit der erbärmlichen Situation der Araber und Muslime. Nach einer jahrhundertelangen Isolation von den Entwicklungen in Europa war es für die Ägypter ein Schock zu entdecken, dass die Franzosen, die unter der Führung Napoleons an ihren Küsten eintrafen, nicht die gleichen Franken waren, die sie noch in den Kreuzzügen besiegt hatten. Der Schock der Erkenntnis westlicher Überlegenheit in Technologie, Material und Militär zerrüttete die bestehende politische Ordnung und verlangte nach einer Reaktion.

Den Westen in Tat und Bild zu kopieren, war eine Zeitlang ein siegreiches Model. Das war der triumphierende Moment für Modernisierung, Liberalismus und Verwestlichung in Ägypten. Ahmed Lutfi El Sayed formulierte einen ägyptischen Nationalismus, und der Kampf um Unabhängigkeit von Grossbritannien vereinte die Nation. Aber Risse taten sich auf. Die Einführung von Bildung für die Massen, Industrialisierung und Urbanisierung brach die traditionelle Gesellschaft auf, während eine moderne noch nicht geschaffen war. Auf der Suche nach einer besseren Zukunft strömten Tausende in die Städte, nur um am Ende schockiert zu sein  über den Mangel an für sie verfügbare Möglichkeiten. Das Fass endgültig zum Überlaufen brachte die westliche Ernüchterung bezüglich des Versprechens liberaler Demokratie und der Aufstieg des Kommunismus und, noch wichtiger, faschistischer Regimes in Europa.

Einige verloren ihren Glauben an die Moderne, andere wurden verzückt von den totalitären Ideen, die in Europa aufkamen, und behaupteten, die liberale Demokratie habe versagt und nur die entschiedenen Hand des Staates könne Ägypten helfen, mit dem Rest der Welt gleichzuziehen. Nazi-Deutschland und das faschistische Italien wurden für viele zu Vorbildern. Am Wichtigsten für die gestellte Ausgangsfrage jedoch ist, dass Enttäuschung zu Frustration geführt hat. Ägyptens anhaltendes Versagen führte zur Abneigung gegen den Westen und einer Suche nach Erklärungen. Und in diesem Moment begann eine unstrittige europäische Ideologie – der Antisemitismus – fruchtbaren Boden zu finden. Die Verantwortung für das Versagen Ägyptens, mit dem Westen gleichzuziehen, lag nicht bei den Ägyptern; weil die Juden sich gegen uns verschworen haben, sind wir rückständig geblieben.

Die erste Bekanntmachung mit antisemitischen Ideen in der Region erfolgte früh durch katholische Missionare in der Levante. Die Dreyfus-Affäre diente als eine der frühsten Episoden in der Verbreitung des Antisemitismus. Der Einfluss war anfänglich unter den Christen der Levante, die Missionarsschulen besuchten und für die Frankreich Quelle der Inspiration war, zu spüren, u. Ende der 1920er und Anfang 1930er wurde der französische Einfluss durch Nazi-Deutschland ersetzt, das intensivs bemüht war, seine Ideen unter den Bevölkerungen der Region zu verbreiten. Ein bekanntes und sehr gut dokumentiertes Beispiel ist die Kollaboration des Grossmufti Haj Amin El-Husseini von Jerusalem mit den Nazis. Dem Mufti gelang es erfolgreich, dem Antisemitismus den fehlenden islamischen Beigeschmack zu verleihen, der wichtig für den anhaltenden Anklang war. Wissenschaftler haben jedoch anderen Nazi-Kollaborateuren geschenkt unter der faschistischen Jugendbewegung und Islamisten in Ägypten weniger Aufmerksamkeit.

Die Bemühungen der Nazis hatten einen nachhaltigen Einfluss auf Ägypten. Der zukünftige Präsident Gamel Abdel Nasser und seine Offizierskollegen gehörten jenen Organisationen und Bewegungen – von der Muslimbruderschaft bis zum Jungen Ägypten – an, die mit den Nazis kollaboriert hatten. Nach dem Militärputsch 1952 verschob sich der Antisemitismus von einer verlockenden zu einer staatlich geförderten Ideologie. Diese Nazi-Ideologen spielten eine wichtige Rolle in der Gestaltung der Bildung und Propaganda in Ägypten. „1956 stellte Nasser Johann von Leers ein, einer der führenden antisemitischen Propagandisten des Nazi-Regimes, um dem ägyptischen Informationsministerium zu unterstützen, sein eigenes Form antisemitischer und antizionistischer Kampagnen zu gestalten,“ schreibt Jeffrey Herf in seinem Buch Nazi Propaganda für die arabische Welt.

Das Vakuum, das nach Anwar Sadats Entscheid eines Kurswechsels zugunsten eines Friedens mit Israel entstand, wurde von Intellektuellen jeglicher Couleur gefüllt. Dadurch verloren jedoch die Staatsbürokratie und die Entscheidungsträger nicht an ihrem Antisemitismus, denn sie waren nun gezwungen, ihre Ideologie und Verschwörungstheorien unter Verschluss zu halten, um keine negative Reaktion bei ihren Schirmherren im Westen hervorzurufen.

Die Geschichte der Neuzeit in Ägypten ist die Geschichte eines anhaltenden Scheiterns: Das Scheitern der Modernisierung, Scheitern der den Massen versprochenen Erlösung, Scheitern bei der Verbesserung der schlechten Bedingungen und vor allem das Scheitern eines Landes, seinen Platz unter der Sonne zu finden, der im seiner Meinung nach zusteht. Niederlage, Scheitern und Enttäuschungen haben ihren Tribut an der Bevölkerung gefordert. Nur die Existenz einer jüdischen Verschwörung gegen Ägypten, die Araber und den Islam bietet ihnen Trost.

Jene, die hoffen, dass der arabische Frühling frischen Wind in die Region bringen wird, insbesondere bezüglich des Antisemitismus, wurden bald von der Realität eingeholt. Statt dass der Antisemitismus an Anziehung verliert, ist er zur lingua franca der Politik in Ägypten geworden. Angesicht der gewaltigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Unruhen fand die politische Klasse und die breite Bevölkerung ihre Antwort in der jüdischen Verschwörung. Israel, die Türkei und die USA, die Europäische Gemeinschaft und Katar; sie alle haben sich gegen Ägypten verschworen, brüllt ein selbsternannter ägyptischer Liberaler; die USA arbeiten gegen die Kopten zugunsten der Juden, schreit ein koptischer Aktivist; die Muslimbruderschaft implementiere die Protokolle der Weisen von Zion, schreibt die Zeitung der einstigen Vorzeige Liberalen Partei Ägyptens; es ist Israels Ziel, Ägypten in viele schwächere Kleinstaaten aufzuteilen, heisst es in einer anderen Zeitung; Anführer der Muslimbruderschaft sind Freimaurer-Juden, erklärt ein Sufi Anführer; es ist der Putsch, der den Juden zuarbeitet, erklärt die Webseite der Muslimbruderschaft. All das sind Symptome einer vermodernden Gesellschaft.

Samuel Tadros ist research fellow am Hudson Institute’s Center for Religious Freedom. Er ist Autor des Buches Motherland Lost: The Egyptian and Coptic Quest for Modernity.

Die Übersetzung basiert auf der englischen Version des Essays, der ursprünglich auf Arabisch geschrieben und vom Simon Wiesenthal Center gesponsort wurde.

Auszug aus dem Aufsatz: The Sources of Egyptian Anti-Semitism by Samuel Tadros © The American Interest, April 21, 2014.

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