Ein Leben mit der Naturgewalt

0
Lesezeit: 3 Minuten

Der schwere Wintersturm am Wochenende mit 46 cm Schnee in Jerusalem hat den Israelis gezeigt, wie klein der Mensch angesichts der Naturgewalten ist. Seit 1879 habe es keinen vergleichbaren Schneesturm gegeben. Doch die von Meteorologen vorhergesagten extremen Wetterbedingungen mit einem stürmischen Tief aus Sibirien haben wieder mal typisch israelisches Verhalten im Positiven wie im Negativen offenbart.

Positiv waren die schnelle wie spontane Hilfsbereitschaft und die Opferbereitschaft aller Techniker, Rettungskräfte, Soldaten, Polizisten und Freiwilligen, die rund um die Uhr ihr Bestes taten, Verschollene in der Wüste zu suchen, in Wüstenflüssen versunkene Autofahrer zu retten und schwangere Frauen in Hospitäler zu bringen.

Negativ ist der Leichtsinn neugieriger Israelis, trotz Warnungen der Polizei „dennoch“ die Fahrt in die Berge nach Jerusalem zu wagen, um den Schnee zu bewundern. Hunderte Fahrzeuge mit Sommerreifen, halbvollen Tanks und schnee-unkundigen Fahrern blieben auf den Autobahnen stecken. Retter mit Kettenfahrzeugen mussten die Familien aus den Autos holen, ehe sie mangels Benzin erfroren. Tausende wurden in das Kongresszentrum am Eingang der Stadt gebracht. Die Ausstellungshallen wurden zum provisorischen Flüchtlingslager umfunktioniert.

Am Samstag fasste der Verkehrsminister einen „historischen“ Beschluss. Zum ersten Mal in der Geschichte Israels liess er die Eisenbahn am Shabbat nach Jerusalem fahren, um gestrandete Israelis aus Tel Aviv oder Haifa kostenlos heimzubringen. Übrigens durfte niemand die Züge hinauf nach Jerusalem besteigen, damit nicht noch mehr Neugierige das Chaos in der Heiligen Stadt verschlimmerten.

Fast einen ganzen Tag verzögerte sich die Öffnung der beiden einzigen Zufahrtsstrassen nach Jerusalem, die Autobahn Nr. 1 und die Schnellstrasse 443. Denn ehe Planierraupen den Schnee wegschaufeln konnten, mussten zahllose herrenlose Autos weggeschleppt werden. Als die Autobahn nur für Busse geöffnet werden sollte, wurde Glatteis gemeldet. Nun wird „getestet“, ob Streusalz wirkt.

Das grösste Problem waren Stromausfälle. Ganze Ortschaften in den besetzten Gebieten zwischen Nablus und Hebron, in den Bergen zwischen Jerusalem und der Küstenebene, sowie in Galiläa blieben drei Tage lang ohne Elektrizität. Allein in Jerusalem gab es zeitweilig in 60.000 Wohnungen weder Licht noch Heizung. Und in manchen Dörfern gab es nicht einmal Wasser. Bei Minustemperaturen bedeutete das akute Lebensgefahr vor allem für die Alten. Mit Schneeketten ausgestattete Ambulanzen versuchten, die Menschen in Not zu evakuieren. „Aber die Schneeketten aus Europa rissen alle und zerstörten die Fahrzeuge, weil der Schnee hier irgendwie anders ist“, klagte der Chef des „Magen David Adom“, der israelischen Roter Davidstern-Organisation.

Die nationale Stromgesellschaft mit Tausenden bestbezahlten Beschäftigten wies jegliche Verantwortung für das Debakel von sich. Seit April liesse sie Bäume beschneiden, damit die Äste nicht Stromleitungen zerreissen könnten. Dennoch hat der nassschwere Schnee Kabel zerrissen und sogar die Oberleitungen der Strassenbahn zerstört. So wurde das neueste und inzwischen wichtigste Verkehrsmittel Jerusalems zum Erliegen gebracht. Auch die Linienbusse fuhren nicht. Ihr Dienst sollte nach dem Sturm erst wieder aufgenommen werden, sowie alle Strassen freigeräumt seien. Eine Alternative gab es nicht. Die Polizei hat sogar Autos mit Vierradantrieb verboten, sich auf die Strassen zu wagen.

Zwar standen zum Beispiel im Hotel Kirjat Anavim Generatoren bereit, um Menschen aus der Umgebung aufzuwärmen und ihnen eine warme Suppe anzubieten. Doch dann hiess es, dass der Treibstoff ausgehe. Von der nächstgelegenen Tankstelle konnte kein Dieselöl bezogen werden, weil mangels Strom die Pumpen nicht funktionierten.

Den Behörden wird vorgeworfen, keine Vorsorge geleistet zu haben. Es gab keine Lagerhäuser mit Decken, Zelten, Kraftstoff und anderen lebenswichtigen Dingen für den Katastrophenfall. Diese Klage vor allem von Bürgermeistern abgeschnittener Dörfer hat nicht nur wegen des seltenen Wintersturms Gewicht. Schliesslich übt die Heimatfront ständig den landesweiten Notfall. Neben Krieg kann auch ein schweres Erdbeben jederzeit Verwüstung anrichten.

Abschliessend noch eine typisch israelische Absurdität. Die Stromgesellschaft und „Hot“, ein Betreiber von Kabelfernsehen und Internetdiensten, bat im Rundfunk darum, bei Stromausfall oder Pannen nicht die überlasteten Telefonzentralen anzurufen, sondern sich per Internet auf deren Webseiten einzutragen. Nur verrieten sie nicht, wie das ohne Strom funktionieren sollte, wenn das Internet ausgefallen und nicht einmal Handy-Batterien aufgeladen werden konnten.

Über Ulrich W. Sahm

Ulrich W. Sahm, Sohn eines deutschen Diplomaten, belegte nach erfolgtem Hochschulabschluss in ev. Theologie, Judaistik und Linguistik in Deutschland noch ein Studium der Hebräischen Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1975 ist Ulrich Sahm Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien und berichtet direkt aus Jerusalem.

Alle Artikel