Palästinenser und Israelis – zweierlei Strafen für Kinder?

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Die "Schahida" (Märtyrerin) Aya el Atrasch sprengte sich am 29. März 2002 vor einem Jerusalemer Supermarkt in die Luft. Sie stammt aus dem Flüchtlingslager Dehaische in Bethlehem, wo sie an einer Brücke vor einer UNO-Schule (Hintergrund) verewigt worden ist. Foto © Frederic Soltan/Corbis
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„Zwei 12 Jahre alte Kinder prügeln sich, ein jüdischer Siedler und ein Palästinenser aus dem Westjordanland. Beide werden von der israelischen Polizei verhaftet…“ In einem Flyer des Palästina Komitee Stuttgart werden 12-jährige Kinder als Beispiel für die ungleiche Behandlung durch Israel angeführt. Doch in Wirklichkeit geht es um einen Vergleich der Gesetzessysteme für Verbrecher jeder Altersklasse. Die offensichtliche Absicht der Autoren des Flyers ist der Versuch, Israel als Apartheidstaat darzustellen, in dem per Gesetz Palästinenser im Vergleich zu Juden diskriminiert werden.

Fragen zu diesem Thema beantwortete ein hoher Offizier, der als Ankläger bei israelischen Militärgerichten in den besetzten Gebieten tätig ist. Sein Name darf hier nicht genannt werden. Gemäss internationalem Recht habe Israel im Westjordanland ab 1967 zunächst das jordanische Gesetz übernommen, das kein Mindestalter für Straftäter kenne. Israel habe die in seinem Zivilrecht geltende strafrechtliche Verantwortung ab dem 12. Lebensjahr auch für die besetzten Gebiete festgesetzt.

Korrekt sei die Behauptung in dem Flyer, dass ein Israeli nach seiner Festnahme innerhalb von 12 Stunden einem Richter vorgeführt werden müsse. Laut Flyer sind es 4 Tage für Palästinenser. Doch ab dem 4.2.2013 sei diese Frist auf 24 Stunden reduziert worden. Dabei handelt es sich um maximale Vorgaben und nicht um die gängige Praxis, sagt der Offizier. Minderjährige Delinquenten erhielten „sofort“ einen Anwalt und würden umgehend einem Richter vorgeführt.

Während Israelis innerhalb von 2 Tagen nach ihrer Inhaftierung einen Anwalt rufen können, räumt der Gesetzgeber für Palästinenser in den besetzten Gebieten eine Frist von 90 Tagen ein. „Dieser Zeitraum wird nur selten und in besonders schweren Fällen wie der Planung von Terroranschlägen genutzt“, sagt der Offizier. Bei Minderjährigen komme sie aber nicht zur Anwendung. Der Offizier weist auf den Unterschied zwischen Wirklichkeit und gesetzlichen Vorgaben wie Maximalstrafen, die aber nicht zur Anwendung kämen. Dies sei allen Justizsystemen der Welt gemein

In Israel werde die Polizei wegen kleinster Vergehen gerufen, etwa wenn ein Kind dem Nachbarn beim Fussballspielen die Fensterscheibe einschlägt. In den besetzten Gebieten hingegen, so der Offizier, gehe es fast ausschliesslich um schwere Verbrechen mit Verletzten oder Toten. Nichtige Vergehen gelangen dort gar nicht erst zur Anzeige. „Ich habe selber einen Fall behandelt, wo ein 12-Jähriger losgeschickt worden ist, um sich als Selbstmordattentäter zu sprengen“, erzählt der Offizier. Er erwähnt Fälle von Terroristen, deren Drahtzieher noch frei seien. Um einen geplanten Anschlag zu verhindern, müsse sogar die Verhaftung einzelner Täter geheim bleiben. Manche palästinensischen Anwälte stünden jedoch im Dienste von Terrororganisationen und hielten sich nicht an die ethische Schweigepflicht. Aus diesem Grund werde in besonders schweren und seltenen Fällen die 90-tägige Frist einer Untersuchungshaft ohne Anwalt ausgeschöpft.

Auch Richter müssten die unvergleichbare Wirklichkeit beachten. Wenn ein Israeli gegen Kaution aus der Haft entlassen wird, könne die Polizei jederzeit vorbeischauen. In den palästinensischen Gebieten sind selbst Verhaftungen mit teils lebensgefährlichen Militäreinsätzen verbunden. Entsprechend könne ein israelischer Jugendlicher nach abgebüsster Haft notfalls in einem Heim für straffällig gewordene Kinder untergebracht werden. In der palästinensischen Gesellschaft hingegen würden Gewalttäter als Helden gefeiert und zu weiteren „Akten des Widerstandes“ angestiftet.

„Kein Wunder, wenn bei vielen nichtigen Vergehen nur 6,5 % der festgenommenen Israelis eine Freiheitsstrafe abbüssen müssen, während 90% der palästinensischen Straftäter zu Haftstrafen verurteilt werden“, sagt der Offizier. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die israelischen Sicherheitskräfte sich hauptsächlich auf schwere Verbrechen konzentrieren – sowohl in den von ihnen kontrollierten Gebieten, als auch in den autonomen Gebieten, in denen 98% der Palästinenser aus dem Westjordanland leben und in denen sich die palästinensische Polizei um kleinere Vergehen kümmert.

In jedem Gesetzbuch gebe es Maximalstrafen, die von Richtern jedoch nur selten genutzt werden. Die Todesstrafe wurde in Israel nur 1961 im Falle des Adolf Eichmann ausgeführt. Die vermeintlich in Deutschland abgeschaffte Todesstrafe ist übrigens bis heute in der Verfassung des Bundeslandes Hessen unter Artikel 21 verankert.

Bei den letzten Freilassungswellen palästinensischer Häftlinge zum Auftakt der Friedensgespräche, darunter Massenmördern, gab es unter rechtsgerichteten Israelis laute Kritik. Denn jüdische Mörder wie Ami Popper, der 1990 sieben Araber grundlos erschossen hat oder gar Jigal Amir, der Mörder Jitzhak Rabins, hätten im Gegensatz zu ihren palästinensischen „Kollegen“ keine Chance auf Begnadigung.

Über Ulrich W. Sahm

Ulrich W. Sahm, Sohn eines deutschen Diplomaten, belegte nach erfolgtem Hochschulabschluss in ev. Theologie, Judaistik und Linguistik in Deutschland noch ein Studium der Hebräischen Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1975 ist Ulrich Sahm Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien und berichtet direkt aus Jerusalem.

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