Ehemaliger UN-Generalsekretär Boutros-Ghali über die Muslimbruderschaft, die USA und Verhandlungen

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In einem ausgedehnten Interview mit dem ägyptischen Sender Al-Hayat TV am 28. Oktober 2013 rechtfertig Boutros Boutros-Ghali das Verbot der Muslimbruderschaft (MB). Der Ägypter, der von 1992 – 1996 als UN-Generalsekretär amtete, verwies auf die Bilanz der MB bei der Ermordung ägyptische Staatsoberhäupter: „Es war ein Fehler oder ein Zeichen der Schwäche“ ihre Aktivitäten zuzulassen. Zudem erklärte der neunzigjährige Staatsmann, die Globalisierung habe dazu beigetragen habe, dass die Auffassung von „Staat“ an Bedeutung verlor. Die wichtigsten Probleme könne ein Land nicht mehr alleine erledigen, diese müssten auf internationalem Level angegangen werden. In Bezug auf die amerikanisch-iranischen Beziehungen wiederholte Boutros-Ghali das Leitbild, das seine staatsmännischen Fähigkeiten geleitet hat: „Ich glaube an Verhandlungen und ich lehne die Anwendung von Gewalt ab.“

Nachfolgende einige Auszüge dieses Interviews (Video-Clip hier) vom 28. Oktober 2013:

Boutros Boutros-Ghali: Die Lage in Syrien hat sich zu einem totalen Bürgerkrieg verschlechtert.

Interviewer: Ist das das Ergebnis von…

Boutros Boutros-Ghali: Schauen Sie, ich habe oft Zentral-und Südamerika bereist. Die USA haben ein ureigenes Interesse daran, dass Krieg und Instabilität anhalten. In Nicaragua, Honduras und El Salvador wüteten Kriege 20 – 30 Jahre lang. Es war günstig für sie. Sie haben kein Problem mit anhaltender Instabilität in Syrien, ohne dass eine Seite vorherrscht.

Interviewer: Sie wollen die aktuelle Situation beibehalten.

Boutros Boutros-Ghali: Auf diese Weise werden Instabilität und Krieg fortdauern.

Interviewer: Aber sie [die USA] können die Folgen dieses Krieges nicht kontrollieren. Bereit das ihnen keine Sorgen?

Boutros Boutros-Ghali: Nein, sie können die Auswirkungen kontrollieren.

[…]

Ich behaupte nach wie vor, dass die USA die internationalen Beziehungen der nächsten 20 – 30 Jahre weiterhin beherrschen werden, zumindest weil es sich einer Offenheit erfreut, die ohnegleichen ist. Jeder Ausländer, er zwei oder drei Jahre in den USA gelebt hat, kann Minister werden. Sie haben nicht die Komplexe, an denen wir leiden. Wir haben die Statue von Soliman Pasha entfernt und nennen ihn Soliman Pasha, der Franzose. Dieser Mann konvertierte zum Islam, kommandierte die ägyptische Armee und erzielte Siege für Ägypten, und wir nennen ihn immer noch „der Franzose“. Im Gegenteil, ich bin stolz darauf sagen zu können, dass er ein Ägypter war.

Nehmen Sie Nubar Pasha, „der Armenier” – er war Ägypter. Wir werden immer noch an ideologischer Engstirnigkeit leiden. Wir können uns nicht öffnen. Amerika besitzt die Fähigkeit, sich zu öffnen, und das zu seinen Gunsten. Ferner hat es enorme Fortschritte gemacht. Jeder erstklassige Auslandsexperte geht in die USA. Alle bekannten französischen Kardiologen sind in den USA. Ich kann Ihnen sagen, Amerikas Offenheit und Originalität….all die neuen Erfindungen sind amerikanisch.

Interviewer: Aber die politischen Positionen verschieben sich. Glauben Sie, dass das einen Einfluss auf die USA haben wird?

Boutros Boutros-Ghali: In 20 oder 30 Jahren werden sie einen Einfluss haben. Chinesisch ist keine offizielle Sprache. Englisch ist es. Diese „Waffe” befindet sich in den Händen der Amerikaner, nicht der Chinesen. Die Fähigkeit neue Dinge zu erfinden, exiistiert in den USA. China kann keinen Engländer nehmen und ihn zum Staatsoberhaupt ernennen. Amerika macht das. Kein grosses Thema für sie.

Interviewer: Glauben Sie, das verleiht ihnen Macht…

Boutros Boutros-Ghali: Selbstverständlich. Wir hatten diese Offenheit in den Tagen von Muhammad Ali.

[…]

Es liegt in unserem Interesse, gute Beziehungen mit den USA aufrechtzuerhalten. Ich lag falsch und die Konsequenz war, dass sie mich aus der UN rauswarfen.

Interviewer: Aber Sie hatten eine Position mit hohen Grundsätzen…

Boutros Boutros-Ghali: Ja, aber ich hätte den amerikanischen Forderungen entsprechen sollen. [Die USA legten ein Veto zu meiner zweiten Amtszeit ein] wegen meiner Haltung, die derjenigen Amerikas widersprach.

[…]

Interviewer: Wenn Sie die Zeit zurückdrehen könnten, hätten Sie ihre Haltung geändert?

Boutros Boutros-Ghali: Das kann ich nicht beantworten. Das ist hypothetisch. Vielleicht wegen meines Alters, ich bin weniger dienstbeflissen und weniger stur. Es ist möglich.

[…]

Interviewer: Waren Sie erleichtert, als die Muslimbruderschaft der Macht enthoben wurde?

Boutros Boutros-Ghali: Selbstverständlich. Wir waren kurz davor, in eine dunkle Phase einzutreten, die 20 oder 30 Jahre hätten dauern können.

[…]

Interviewer: Glauben Sie, dass es das Ende der Fahnenstange für die Muslimbruderschaft ist oder könnte sie an die Macht zurückkehren?

Boutros Boutros-Ghali: Das kann ich nicht beantworten. Was ich weiss ist, dass sie bezwungen wurden und dass diese politische Partei hätte verboten werden sollen. Man darf nicht vergessen, dass sie [Ministerpräsident] Ahmad Maher, [Ministerpräsident] Nukrashi und [Richter] Ahmad Khazendar töteten. Sie ermordeten Staatsoberhäupter, darunter auch Sadat. Wie kann so eine politische Partei bewilligt sein? Solche Parteien sind in Deutschland, Italien und Frankreich verboten.

Interviewer: Also sollten die gleichen Regeln hier angewandt werden?

Boutros Boutros-Ghali: Meiner Meinung nach ja.

Interviewer: Glauben Sie, dass die aktuell geführte Diskussionen um die ägyptische Verfassung diese Regeln berücksichtigen wird?

Boutros Boutros-Ghali: Ich brauche keine Verfassung. Was ich brauche, ist ein starker politischer Wille. Die Muslimbruderschaft war in der Zeit von Ahmad Maher und Nukrashi verboten. Ihre Aktivitäten waren verboten. Warum haben wir sie nun zugelassen? Das war ein Fehler oder ein Zeichen der Schwäche.

[…]

Aufgrund der Globalisierung mischen sich Staaten in die Angelegenheiten anderer Staaten ein. Der Begriff „Staat“ hat viel an seiner Bedeutung verloren. Natürlich ist es schwierig, 50 Prozent der Länder dieser Welt, die um ihre Unabhängigkeit gekämpft und sich selbst vom traditionellen Kolonialismus befreit haben, mitzuteilen, dass das Wort „Staat“ am Ende ist. Es gibt ein neues Phänomen, in dem die wichtigsten Probleme eines Landes nicht mehr vom Staat erledigt werden kann. Sie müssen auf internationalem Level behandelt werden.

Interviewer: Und wir müssen das akzeptieren und mitziehen…

Boutros Boutros-Ghali: Selbstverständlich. Aber Völker kämpften 20 Jahre für ihre Unabhängigkeit und dann kommst du und sagst ihnen, dass Unabhängigkeit alleine nicht ausreicht, um nationale Probleme zu lösen, und dass sie sich an internationale oder regionale Organisationen wenden müssen…

Interviewer: Also gibt es keine lokalen Probleme mehr?

Boutros Boutros-Ghali: Es gibt keine nationalen Probleme. Der Staat wird weiterhin eine Rolle spielen, aber neben internationalen Organisationen. Wenn man sagt, dass man die UN reformieren will – einen neuen Sitz hinzufügen, afrikanische Vertretung, ägyptische Vertretung…All das ist bedeutungslos. Wichtig ist, dass die nicht-staatlichen Akteure vertreten sind.

[…]

Interviewer: Könnte es eine Veränderung in der amerikanisch-iranischen Beziehung geben?

Boutros Boutros-Ghali: Ich glaube an Verhandlungen und ich lehne die Anwendung von Gewalt ab. Man kann seine Ziele mittels Verhandlungen erreichen.

Natürlich könnten Verhandlungen zwei oder drei Jahre dauern, wohingegen die Anwendung von Gewalt zügig von statten geht. Aber es liegt in meinem Interesse, die Anwendung von Gewalt zu vermeiden – im Fall von Iran und auch im Fall von Syrien.

Interviewer: Sie standen kurz davor, Gewalt anzuwenden, haben dann aber einen Rückzieher gemacht.

Boutros Boutros-Ghali: Das gleiche gilt auch für Syrien.

Interviewer: Sie glauben also, dass die Anwendung von Gewalt zu keinen Ergebnissen führt.

Boutros Boutros-Ghali: Es könnte Ergebnisse bringen, aber weitaus grösseren Schaden anrichten. Ich glaube an Verhandlungen und ich habe mit Verhandlungen Erfolge gehabt. Ich hatte Erfolg in El Salvador nach einem 30 Jahre andauernden Krieg, und in Mozambique. Ich scheiterte in Angola und Jugoslawien. Ich hatte Erfolg in Kambodscha. Jeder Fall ist anders. Es verlangt Bemühungen.

[…]

Quelle: Former U.N. Sec.-Gen. Boutros-Ghali Justifies Ban On MB Party, Says: I Was Wrong To Defy U.S. During My Term In Office  © MEMRI, Special Dispatch No.5510, November 7, 2013