Tabu-Thema: Antisemitismus unter britischen Muslimen

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Birmingham. Foto JimmyGuano. Lizenziert unter CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons.
Lesezeit: 4 Minuten

Wenn ich morgen, Gotte bewahre, den Tod eines unschuldigen Menschen mit dem Auto verursachen sollte, weil ich Minuten zuvor mehrere SMS auf meinem Mobiltelefon versendet habe, vermute ich, dass ich den Rest meines Lebens von Schuldgefühlen geplagt sein würde. Was ich allerdings nicht machen würde, wäre im Fernsehen auftreten und die Schuld für meine erhaltene 12-wöchige Haftstrafe – Moment – den Juden zuschieben. Doch genau das hat der ehemalige Abgeordnete der britischen Labour-Partei Nazir Ahmed im April 2012 getan – weniger als fünf Jahre später, nachdem er einen Autounfall auf einer britischen Autobahn verursacht hatte, bei dem der 28-jährige Martin Gombar getötet worden war.

„Mein Fall wurde kritischer, weil ich nach Gaza fuhr, um Palästinenser zu unterstützen“, sagte er gegenüber dem pakistanischen Interviewer auf Urdu, von dem die Times eine Videoaufzeichnung besitzt. „Meine jüdischen Freunde, die Zeitungen und TV-Sender besitzen, waren dagegen.“ Lord Ahmed behauptet auch, dass der Richter, der ihn zu einer Haftstrafe verurteilt hat, zum Hohen Gerichtshof berufen worden war, nachdem er einem „jüdischen Kollegen“ von Tony Blair in „einem wichtigen Fall“ half.

Zu behaupten, eine Haftstrafe wegen gefährlichen Fahrens sei das Ergebnis eines jüdischen Komplotts, ist bigott und dumm. Nach dem Unfall ist dieser Abgeordnete des Oberhauses aus der Labour-Partei ausgeschlossen und war gezwungen, von seinem Posten als Treuhänder der Joseph Interfaith Foundation zurückzutreten. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie viele „jüdische Freunde“ er noch hat – wenn er überhaupt je welche hatte.

Ganz offen: ich kenne Lord Ahmed und habe ihn in der Vergangenheit verteidigt. […] Er ist kein neuzeitlicher [Nazi-Propagandachef] Goebbels. Aber darin liegt das Problem. Es gibt Tausende Lord Ahmeds da draussen: freundlich gestimmt und gut integrierte Muslime, die dennoch starke antisemitische Ansichten hegen.

Es schmerzt mich, das zugeben zu müssen, aber Antisemitismus wird nicht nur in einigen Sektionen der britisch-muslimischen Gemeinschaft toleriert; er ist Alltag und Normalität. […] Man könnte es die Banalität des muslimischen Antisemitismus nennen.

Ich kann schon nicht mehr mitzählen, wie vielen Muslimen ich begegnet bin – von engen Freunden und Verwandten bis zu absolut Fremden -, für die merkwürdige und bekloppte antisemitische Verschwörungstheorien Standard-Erklärungen nationaler und internationaler Ereignisse sind. Wer hat Diana und Dodi umgebracht? Der Mossad, sagen viele Muslime. Weil sie nicht wollten, dass der britische Thronerbe einen arabischen Stiefvater hat. Und was ist mit 9/11? Definitiv diese verdammte Yehudis. Warum sonst wurden 4‘000 Juden in New York am Morgen des 11. September 2011 aufgefordert, zuhause zu bleiben und nicht zur Arbeit zu gehen? […] Oh, und der Holocaust? Sei nicht albern. Ist nie passiert.

Ich hatte immer angenommen, dass diese Obsession mit „den Juden“ ein Gütesiegel der Einwanderer aus dem Subkontinent „der ersten Generation“ sei. In den letzten Jahren war es deprimierend zu erkennen, dass es eine Menge muslimischer Jugendliche „zweiter Generation“ gibt, die in einem multiethnischen Grossbritannien geboren und aufgewachsen sind und die antisemitische Ahoi-Brause getrunken haben. Ich werde oft von ihnen angegriffen, weil ich in den „von Juden kontrollierten Medien“ arbeite.

Die Wahrheit ist, dass der Virus des Antisemitismus Mitglieder der britisch-muslimischen Gemeinschaft infiziert hat, jung und alt. […]

Wenn Muslime sich wegen Islamophobie in jedem Winkel des öffentlichen Lebens in Grossbritannien beschweren, Zeitungen für ihre gegen Muslime hetzenden Schlagzeilen anprangern und gleichzeitig den wuchernden Antisemitismus vor ihrer eigenen Haustür ignorieren, ist das reine Heuchelei.

Wir können Islamophobie nicht glaubwürdig bekämpfen, wenn gleichzeitig Judäophobie entschuldigt wird.

Ehrlich gesagt, ich habe immer gezögert, eine solche Kolumne zu schreiben. Es ist nicht einfach, meine Mitmuslime zu beschuldigen, mit der Geissel des Antisemitismus nachsichtig zu sein; ich fühle mich, als würde ich die Gemeinschaft „verraten“ und dem nicht-muslimischen Lehrer Märchen erzählen. […]

Wir sind nicht alle Fanatiker und wir sind auch nicht alle Antisemiten. Aber als Gemeinschaft haben wir ein „jüdisches Problem“. Es hat keinen Sinn, das abzustreiten. […] Tausende britische Muslime werden nickend zustimmen, wenn sie Lord Ahmeds Kommentar über die jüdische Macht und Einfluss lesen – oder werden annehmen, dass der Exklusivbericht der Times ein selbständiger Beweis für ein „zionistisches Komplott“ gegen den Abgeordneten ist. Oh, und ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Kolumne von vielen Muslimen als „Beweis“ gehalten wird, dass Mehdi Hasan sich an die Juden verkauft hat.

Ich kann nur hoffen und beten, dass Lord Ahmeds Kommentar für die moderate muslimische Mehrheit in Grossbritannien ein Weckruf ist. Es ist an der Zeit, dass wir eine ziemlich schandhafte Tatsache eingestehen: Muslime sind nicht nur die Opfer rassistischer und religiöser Vorurteile, sondern auch ihr Lieferant.

Baronin Warsi sagte 2011, damals Vorsitzende der Conservative Party, dass Islamophobie „den Esstisch-Test“ in der feinen britischen Gesellschaft „bestanden“ habe. Ich stimme ihr zu, doch sie vergass zu erwähnen, was wir Muslime nun eingestehen müssen, dass Antisemitismus den Esstisch-Test in der feinen muslimisch-britischen Gesellschaft vor langer Zeit bestanden hat.

Mehdi Hasan is a contributing writer for the New Statesman and the political director of the Huffington Post UK.

Gekürzte Fassung der Originalversion: The sorry truth is that the virus of anti-Semitism has infected the British Muslim community by Mehdi Hasan © The New Statesman, 21 March 2013.