Tunesiens ungewisse Zukunft (II)

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Im Zentrum von Sidi Bouzid. Foto: MW
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Das Zentrum von Sidi Bouzid besteht aus einer einzigen Strasse. Hier gibt’s Teehäuser, Trödelläden und einige Restaurants. Unweit vom Regierungsgebäude befindet sich ein kleiner, unscheinbarer Gemüsemarkt. In der Nähe des Marktes erinnert ein Monument in Form einer riesigen Schubkarre an den Gemüsehändler Bouzizi und seine Verzweiflungstat.

Gegen Mittag treffen wir uns mit Arbi Kadri, 37, dem regionalen Koordinator der Union des Diplômés Chomeurs (UDC), einer Vereinigung von arbeitslosen Akademikern. Die UDC sorgt immer wieder mit Streiks und Sitzblockaden für Aufsehen. Der diplomierte Historiker im blütenweissen Hemd raucht pausenlos. Seit über zehn Jahren ist er ohne Arbeit. Er glaubt, dass sich seit der Revolution nicht viel geändert hat. Zwar sei Ben Ali weg, aber ansonsten hielten sich noch immer die gleichen Personen an der Macht. Auch die Einstellung von Tunis gegenüber ländlicheren Gegenden wie Sidi Bouzid sei unverändert: „Unsere Region wird von der Regierung noch immer vernachlässigt, es fehlt an der nötigen Infrastruktur. Wir werden lediglich als zweit- oder drittklassig wahrgenommen.“ Arbi spricht energisch und wir spüren, wie wichtig es ihm ist, die Missstände anzuprangern.

Alkoholverbote und Arbeitslosigkeit

Er erzählt von Problemen mit den radikal-islamistischen Salafisten, die in Sidi Bouzid ein Alkoholverbot durchgesetzt haben. Gewaltsam. Ausserdem würden die Salafisten immer wieder Protestkundgebungen und Demonstrationen angreifen. „Die Ennahda lässt die Salafisten gewähren und benutzt sie, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen“, ist Arbi überzeugt. Aber auch das werde der grössten Partei des Landes auf Dauer nicht helfen. Sie habe keine Lösungen für Tunesiens dringliche Probleme anzubieten.

Arbi. Foto: MW
Tunesiens ungewisse Zukunft (II)

Die Jugendarbeitslosigkeit in Tunesien hat seit der Revolution zugenommen und beträgt über 40 Prozent, in Sidi Bouzid liegt sie gar bei über 50. Nach der Revolution ist alles teurer geworden, die Löhne stagnierten jedoch. Auch darauf wisse die Ennahda keine Antwort. Arbi glaubt nicht, dass sie sich noch lange halten kann.

Die Partei der „Wiedergeburt“ – so lautet ihre deutsche Übersetzung – ist im Oktober 2011 als stärkste politische Kraft aus den Wahlen hervorgegangen, 89 von 217 Abgeordneten der verfassungsgebenden Versammlung gehören der Ennahda an. Nach aussen gibt sich die Partei moderat, doch viele Tunesier befürchten, dass sie das Land langfristig islamisiere.

Glaube und Demokratie

Faycel Naceur, Vize-Kommunikationschef der Ennahda. Foto: MW
Tunesiens ungewisse Zukunft (II)

Faycel Naceur, Vize-Kommunikationschef der Ennahda, widerspricht vehement. Die Ennahda sei von der Demokratie überzeugt, man solle der Partei eine Chance geben. Der Schnauzbart mit Brille und schwarzem Pullover empfängt uns in seinem Büro im dritten Stock des Ennahda-Hauptgebäudes. Es ist kleiner, karger Raum. An den Wänden hängen weder Bilder noch Plakate. „Wir sind eine arme Partei“, erklärt Naceur entschuldigend und lächelt verlegen. Von der angeblichen Unterstützung durch den Emir von Katar will er nichts wissen.

Wie beurteilt er die gegenwärtigen Proteste? „Die linken Parteien und Gewerkschaften machen ständig Ärger und setzen alles daran, unser demokratisches Experiment zu verhindern“, sagt Naceur. Er stösst sich auch daran, dass ausländische Medien ständig über Salafisten berichten und seiner Meinung nach masslos übertreiben. „Die meisten Salafisten machen keine Probleme; es sind nur sehr gläubige Menschen.“

Wir machen die Probe aufs Exempel und treffen uns im Teehaus „Malouf“ nahe dem Problembezirk Ettadhamen mit einem dieser Salafisten. Der Raum ist halbdunkel, aus dem Fernseher dröhnt arabische Popmusik in einer ohrenbetäubenden Lautstärke. Abu Abd Ennahman ist unauffällig gekleidet und gibt bereitwillig Auskunft. Die Salafisten lehnen die Demokratie ab und auch für die Ennahda haben sie nur wenig Sympathie übrig. Die Partei sei vom rechten Weg abgekommen. Für Ennahman ist klar: „Jeder Salafist ist ein Krieger Allahs. Unser Ziel ist die Errichtung des Kalifats für alle Muslime und der Jihad gegen die Ungläubigen.“

Hoffnung und Zweifel

Szenenwechsel in die Rockbar „Le Plug“, wo wir Yoan treffen, eine junge Studentin in Human Resources Management aus Tunis. Über ein Kalifat könne sie nur lachen, sagt sie. Diese Forderung beweise, wie verrückt die Salafisten seien. Dann wird sie ernst: „Es gibt in Tunesien einen immer stärkeren Konflikt zwischen religiösen Fundamentalisten und der Jugend, die sich ein freies, normales Leben wünscht.“

Das „Le Plug“ liegt nahe am beliebten Touristenstrand „Marsa“. Die grossen Fenster bieten eine, dank hohem Wellengang und Gewitter, atemberaubende Aussicht auf das Mittelmeer. Von der Decke hängen Girlanden in allen Farben, ein Überbleibsel der Halloween-Party. Junge Besucherinnen tanzen ausgelassen. Yoan bleibt nachdenklich. Viele Leute hätten ihre Hoffnungen aufgegeben. Es sei nicht absehbar, wer am Ende in Tunesien die Oberhand gewinne. Vielleicht drohe gar die nächste Diktatur – eine islamistische diesmal. Das Land verlassen möchte sie aber dennoch nicht, es sei trotz allem ihre Heimat. Und dann wird sie fatalistisch: „Das Wichtigste ist, jeden Moment zu geniessen, man lebt schliesslich nur einmal!“ Yoan nimmt einen weiteren Schluck ihres Wodkas.

Michel Wyss studiert Journalismus und Kommunikation am Institut für Angewandte Medienwissenschaften (IAM) an der ZHAW Winterthur. Im Rahmen einer Semesterarbeit reiste er im November 2011 nach Tunesien, um der Frage nachzugehen, welche Auswirkungen der arabische Frühling und der Sturz von Diktator Ben-Ali bisher hatten.

Teil I der Reportage

Über Michel Wyss

Michel Wyss ist freischaffender Analyst bei der Audiatur-Stiftung und beschäftigt sich hauptsächlich mit Sicherheitspolitik im Nahen Osten. Er absolviert derzeit ein MA-Studium in Government mit Fokus auf Internationale Sicherheit am Interdisciplinary Center in Herzliya, Israel und ist als Research Assistant beim International Institute for Counterterrorism (ICT) tätig.

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