Reise nach Tunesien (II) – Reflexionen zum Wandel

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Foto raphaelthelen - Flickr. Lizenziert unter CC BY 2.0 über Wikimedia Commons.
Lesezeit: 3 Minuten

Während meines Besuchs in Tunesien Anfang Oktober traf ich eine Reihe unterschiedlichster Leute, darunter auch führende Personen aus der Geschäftswelt, der Regierung und Zivilgesellschaft, Pädagogen, Journalisten, Blogger, Universitätsstudenten und Salafi Jugendliche; junge arbeitslose Menschen auf der Suche nach einen Job und Uni-Absolventen, die gerade in den Arbeitsmarkt eingestiegen sind. Nachfolgend nun einige Reflexion dessen, was ich dort in Tunesien erfahren habe:

  • Viele Tunesier, mit denen ich im Gespräch war, haben traurig angemerkt, dass sie ihr Land heute gar nicht mehr wiedererkennen. Von den Salafi Demonstrationen, die die Manouba Universität zur Stilllegung gebracht haben, bis zu Angriffen auf Künstler und Journalisten, weil sie die „öffentliche Moral schädigen“ bis zum Abfackeln der US-Botschaft und er nahegelegenen American Cooperative School of Tunis vor einigen Wochen; bis hin zum jüngsten Vorfall einer Frau, die erst von der Polizei vergewaltig und dann von ihr wegen „Sittlichkeitsverstoss“ anzeigt wurde – all diese Vorfälle und noch einige mehr deuten auf einen besorgniserregenden Anstieg des Konservatismus und der Ablehnung der Moderne hin, und das in einem Land, was immer als das fortschrittlichste in der Region galt. „Nach Ben Ali wurde ein Schleier enthüllt und hat mannigfaltige Wirklichkeiten in Tunesien offengelegt, und der konservative Trend gewinnt an Boden,“ so Amna Guellali von Human Rights Watch.
  • Fast jeder meiner Gesprächspartner meinte, dass die tunesische Regierung am Angriff auf die US-Botschaft beteiligt gewesen sei. In zahlreichen Augenzeugenberichten wird festgehalten, dass der Mob gut organisiert erschien. Die Demonstranten fingen im Stadtzentrum an und ihr Marsch auf die Botschaft am Stadtrand von Tunis dauerte Stunden. Einige der Demonstranten trugen Leitern, um die Mauern zu erklimmen, andere demonstrierten entlang des Weges mit Molotow-Cocktails in der Hand – und die Regierung kreiste unterdessen über ihren Köpfen und beobachtete wie sich die Dinge entwickeln. (Viele Demonstranten fuhren sogar mit Bussen und Transportern zur Botschaft). Die Polizei, die sich ausserhalb der Botschaft befand, stand hauptsächlich daneben als der Mob immer gewalttätiger wurde, Fenster einschlug, Gebäude in Brand setzte und auf die andere Strassenseite gingen, um die amerikanische Schule zu plündern. Die einen sagen, dass die Regierung versagt hat, die Gewalt einzudämmen, weil sie Angst hat, gegen Salafis vorzugehen; andere wiederum interpretieren die Reaktion der Regierung als pures populistisches Spiel für die „Strasse“. Ein führendes Al-Nahda Mitglied leitet die Schuld an das Innenministerium um, das er beschuldigt, unter der Kontrolle des Überrests des „tiefen Staates“ zu stehen, der die von der Al-Nahda angeführte Regierung in Verlegenheit bringen und von ihren US-Partnern abspalten will.
  • Im Gegensatz zu den Salafi Jugendlichen, meinten alle anderen Jugendlichen mit denen ich sprach, dass die jüngsten Angriffe ein Desaster für das Land seien – die Gewalt trübe das Image der Revolution, vermehre die Unsicherheit und Misstrauen, verschrecke die dringend benötigten internationalen Investitionen und Tourismus, und hetze weitere gewalttätige Elemente in der Gesellschaft auf.

Der Angriff auf die Botschaft war nur die letzte, aber ernsthafte Episode in der Nachlassigkeit der Regierung gegenüber gewalttätigem Extremismus, der heute in Tunesien an Boden gewinnt.

  • In einer Gruppendiskussion mit fünfzehn jungen Leuten, die alle aus dem Landesinneren stammen und erst kürzlich ein Ausbildungsprogramm im Rahmen der Education for Employment Foundation abgeschlossen einen höchst begehrten Job in einer internationalen Druckerei gelandet haben, hatte kaum einer von ihnen Hoffnung für sein Land. Lediglich einer sagte, dass er den Fall Ben Alis bedauere – auch noch als die Gruppe missbilligend nickte. Ich war mir nicht sicher, ob er es ernst meinte, oder seine Enttäuschung mit der Revolution auf diese schrille Weise mitteilen wollte. Auf die Frage, was diese jungen Menschen in fünf Jahren sein wollten, äusserten mehr als die Hälfte den Wunsch, das Land zu verlassen. Von all den Dingen, die ich in Tunesien erfahren habe, ist diese Aussage vielleicht, was am besorgniserregendsten ist für die Zukunft des Landes.

Originalversion: Thoughts on Tunisia’s Transition by Isobel Coleman © Council on Foreign Relations, October 9, 2012.