Von Erbkrankheiten und Krankenwagen

1
Lesezeit: 4 Minuten

Man hat sich mittlerweile fast daran gewöhnt, dass für einige Medien Israel grundsätzlich die Schuld an allen Missständen in der palästinensischen Gesellschaft trägt. Eines Tages werden vermutlich sogar israelische Meteorologen für den geringen Niederschlag auf die Anklagebank gestellt. Wäre es nicht so traurig, könnte man glatt darüber lachen. Bei der Lektüre von Katia Murmanns Beitrag in der Sonntagszeitung („Erbkrankheiten nehmen zu. In Palästinensergebieten ist jede zweite Frau mit einem Verwandten verheiratet“, 14.10.2012) bleibt einem das Lachen ob der Schamlosigkeit und der absurden Thesen seitens der Journalistin im Hals stecken. Israel soll verantwortlich sein für Erbkrankheiten unter Palästinensern?

Murmann hat das Caritas Baby Hospital in Bethlehem besucht. Die dortige Chefärztin Hiyam Marzouqa berichtet, man habe dort ständig Patienten mit Krankheiten, „die sonst fast nirgendwo auftreten.“ So stellt Murmann den kleinen Samir vor, der eine Krankheit hat, „die es eigentlich nur im Lehrbuch gibt.“

Informationen – Name, Art und Häufigkeit – zu den erwähnten Krankheiten sucht man allerdings vergeblich. Man erfährt lediglich, dass Kinderärzte in den Palästinensergebieten beunruhigt seien, denn die Zahl der schweren Erbkrankheiten nehme zu. Der Grund dafür: „Immer öfter heiraten Cousins Cousinen.“ Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO seien bereits 50 Prozent der Palästinenserinnen mit einem Verwandten verheiratet, 28 Prozent mit einem Cousin ersten Grades. Ein Hinweis auf die genaue Herkunft dieser Angaben fehlt auch an dieser Stelle. Dafür wird ein Grund für die Zunahme der Heirat unter Blutsverwandten geliefert: „Die politische Situation und die Besatzung durch Israel“ sei dafür verantwortlich. Zwar hätte es diese Art der Heirat schon früher gegeben, aber „die hohe Bevölkerungsdichte und die eingeschränkte Bewegungsfreiheit in der Westbank und in Gaza“ hätten dies noch weiter gefördert, bestätigten auch Ärzte der St. John Eye Hospital Group aus Jerusalem.

Interessanterweise besagt eine Studie aus dem Jahr 2009 von Dr. Hanan Hamamy, Professorin für Humangenetik, das Gegenteil.[i] Heirat unter Blutsverwandten unter palästinensischen Arabern nehme ab, selbiges gelte für Jordanien, Libanon und Bahrain. Der Studie zufolge hat die Rate im Jahr 1995 in der Westbank noch 64.5 Prozent betragen, in Gaza gar 66.3 Prozent. Mit der Aussage „bereits 50 Prozent der Palästinenserinnen“ seien mit Verwandten verheiratet, erweckt Murmann den Eindruck, diese Zahl wäre früher niedriger gewesen und nehme stetig zu. Dies ist erwiesenermassen falsch. Ausserdem stellt sie diesen Sachverhalt als spezifisch für Palästinenser dar, obwohl solche Zahlen in fast allen arabischen Ländern zu finden sind. Die Heirat unter Blutsverwandten ist laut der Studie in arabischen Ländern aus verschiedenen praktischen Gründen tief verwurzelt. In manchen Ländern wie etwa Jemen, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten steigt die Rate tatsächlich an.

Statt Fakten und das Phänomen der Erbkrankheiten in einem angemessenen Kontext zu behandeln, setzt Katia Murmann an der Stelle lieber auf die altbewährte Israelkritik und malt ein düsteres Bild mit der Mauer in der Nähe des Spitals, auf deren Wachtürmen Soldaten „das Gewehr in Anschlag“ hätten. Auch der Hinweis auf die Menschen, die „ihre Heimat das grösste Gefängnis der Welt“ nennen, darf selbstverständlich nicht fehlen, ebenso wenig wie die Erwähnung von „hunderten israelischer Checkpoints.“ Das soll natürlich die These von Israels Verantwortung für das vermeintlich zunehmende Heiraten unter Blutsverwandten und damit letztendlich auch für die Erbkrankheiten unterstreichen. Eine These, die von der Autorin offensichtlich nicht hinterfragt wird.

Die Chefärztin Hiyam Marzouqa hilft Murmann dann auch tatkräftig dabei, das Leben unter Besatzung artgerecht ins Bild zu setzen: Krankentransporte nach Jerusalem seien heute viel schwieriger, da der Krankenwagen beim Checkpoint gewechselt werden. Die Überweisung in ein israelisches Krankenhaus sei „ein echtes Abenteuer“. Dass dieser als willkürliche Diskriminierung anmutende Vorgang seine Gründe hat, bleibt unerwähnt. Während der zweiten Intifada wurden Krankenwagen gezielt von palästinensischen Selbstmordattentätern verwendet, um israelische Kontrollen zu umgehen. Wafa Idris erlangt auf diese Art und Weise als erste weibliche Selbstmordattentäterin traurige Berühmtheit. Dass Israel dennoch unbürokratisch Krankentransporte für Behandlungen und Operationen in israelische Krankenhäuser ermöglicht, ist keine Erwähnung wert. Erst kürzlich wurde der Schwager des Hamas-Ministerpräsidenten Ismail Haniya in einem israelischen Krankenhaus notfallmässig am Herzen behandelt.

Die Reduktion der Thematik auf einen allzu vorhersehbaren David-und-Goliath-Narrativ, ist eine Beleidigung der Leserschaft, der offenbar nicht zugetraut wird, komplexe Hintergründe und Informationen verarbeiten und einordnen zu können. Subjektive Aussagen wie z.B. die der Sozialarbeiterin Lina Raheel, die erklärt, man erlebe  „eine neue Apartheid, in der die Leute erzogen werden, abhängig von internationaler Hilfe zu sein“, haben selbstverständlich ihre Berechtigung. Doch wenn Murmann solche Anschuldigungen ohne kritische Rückfragen widergibt, darf man zu Recht nach den eigentlichen Motiven dieses Beitrages fragen. Zumal nicht ersichtlich wird, wo an dieser Stelle die Verbindung mit der eigentlichen Thematik des Beitrags besteht.

Eine Recherche zum Thema „Heirat unter Blutsverwandten in der arabischen Welt“ hätte ihr zeigen müssen, dass diese Thematik wesentlich komplexer ist. Zudem stellte sich die Frage, inwiefern dies auch für andere ethnisch-homogene Gesellschaftsgruppen innerhalb Israels von Relevanz ist, wie beispielsweise für Beduinen und Drusen. Doch wen interessiert das schon? Katia Murmann hat sich – leider – für die einfache Variante entschieden: Schuld trägt am Ende immer Israel.



[i] Hamamy, Hanan et al.: Consanguinity and reproductive health among Arabs, Reproductive Health Journal, 7. Mai 2009 (aufgerufen am 16. Oktober 2012)

1 Kommentar

  1. Ein absolut unglaublicher und vor Israel-Hass triefender Artikel in der Sonntags”zeitung”. Am Tag zuvor fand in Bern eine Pro-Israel Kundgebung mit rund 1500 Personen statt. Für das Blatt keine Zeile wert…

Kommentarfunktion ist geschlossen.