Nach der Ankündigung von Neuwahlen durch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sehen erste Umfragen in Israel einen Wahlsieg des „nationalen Lagers“ mit 66% der Stimmen voraus. Mit grösster Wahrscheinlichkeit würde also Netanjahu die nächste Regierung nach den vorgezogenen Wahlen am 22. Januar bilden.
Aber das „nationale Lager“ mit der Likudpartei unter Netanjahu, „Israel Beiteinu“ unter Aussenminister Avigdor Lieberman und Verteidigungsminister Ehud Barak mit eigener Partei, sowie kleineren frommen Parteien, ist keineswegs in den Stein gemeisselt. Die israelischen Parteien müssen sich erst noch zusammenraffen. Selbst die personelle Besetzung der Führungspositionen ist noch keineswegs endgültig geklärt.
Völlig offen sind auch die Schwerpunktthemen beim Wahlkampf. Sicherheitsfragen wie Terror im Sinai, Raketenbeschuss aus Gaza, die Entwicklung in Syrien und auch die iranische Atombombe könnten plötzlich alles überschatten. Mangels Friedensprozess werden die Palästinenser bestenfalls eine nebensächliche Rolle spielen. Den normalen Israeli erinnert jeder Gang zum Supermarkt an die wirtschaftliche Misere, während der Ministerpräsident sich rühmt, Israel weitgehend unbeschadet durch die Weltwirtschaftskrise gelenkt zu haben. Fast vier Euro für ein Kilo Gurken oder Tomaten lassen sich auch mit hohlen Wahlversprechen nicht schönreden.
Obgleich laut Umfragen Netanjahu mangels Alternative als einzig denkbarer Ministerpräsident gilt, ist keineswegs gewiss, ob er sich nach den Wahlen bei der künftigen Regierungsbildung allein auf das „nationale Lager“ stützen will. Es sei daran erinnert, dass vor vier Jahren die linke sozialistische Arbeitspartei in seiner Regierung vertreten war und dass es zwischendurch ein 70 Tage andauerndes Bündnis mit der grossen Kadima-Partei unter Schaul Mofaz gab.
Weil Verteidigungsminister Ehud Barak den Vorsitz der Arbeitspartei abgegeben hat, sitzen die klassischen Sozialisten heute nicht mehr am Kabinettstisch.
Nach den Wahlen wäre wieder alles offen. Die Vergangenheit zeigt, dass in Israel Linke und Rechte, Fromme und Antireligiöse eine durchaus funktionierende Koalition bilden können.
Aller Voraussicht nach dürfte Ehud Baraks Partei nicht einmal die Sperrklausel von nur 2% in Israel überwinden, sodass Barak auch nicht mehr als Verteidigungsminister in Frage käme. Die bislang grösste Partei Israels, Kadima, ein von Ariel Scharon 2005 geschaffenes Sammelbecken ohne politisches Konzept, hat unter der Führung der abgetretenen Zipi Livni und ihrem Nachfolger Mofaz viele Sympathien in der Wählergunst verloren. Livni hat noch nicht entschieden, ob sie in die Politik zurückkehren will. Ein grosses Fragezeichen ist auch der ehemalige Ministerpräsident Ehud Olmert. Wegen einer Haftstrafe auf Bewährung infolge eines Korruptionsprozesses kann Olmert zwar Abgeordneter und Regierungschef werden. Bestehende Gesetze verbieten ihm jedoch ein Ministeramt. Olmert gilt als der einzig denkbare Herausforderer Netanjahus. Doch noch ist unklar, ob er in die Politik zurückkehren will. Gegen Aussenminister Avigdor Lieberman läuft seit zwei Jahren ein Korruptionsverfahren. Sollte es bis zu den Wahlen zu einer Anklage kommen, müsste er von der politischen Bühne abtreten. Welche Auswirkungen das auf seine intern zerstrittene rechtsgerichtete Partei hätte, lässt sich nicht vorhersehen.
Zwei Figuren in der Opposition wecken Interesse. TV-Star Yair Lapid hat zwar noch kein Programm veröffentlicht, gilt aber als populär und sympathisch. Die linke Journalistin Scheli Jechimowitch hat der Arbeitspartei wieder ein markantes Gesicht gegeben. Obgleich es ihr an Regierungserfahrung mangelt, könnte sie mir ihren sozialen Ideen vor allem bei den schwachen Volksschichten Stimmen sammeln. In den endlosen Debatten zum Wahlkampf wurde schon angedacht, dass Netanjahu sie zum nächsten Finanzminister ernennen könnte. Machtkämpfe gibt es auch unter den Frommen. Die siebenjährige Abkühlungsfrist für Arieh Derri infolge seiner Verurteilung wegen Korruption ist abgelaufen, sodass der junge, dynamische Vollblutpolitiker dem derzeitigen eher farblosen Chef der orientalisch-frommen Schas-Partei, Eli Yischai, den Rang ablaufen könnte. Ein Spruch des 91 Jahre alten geistigen Führers dieser Partei, Rabbi Ovadja Josef, wird zwischen Derri und Yischai entscheiden. Innerhalb der Schas-Partei gibt es keine demokratische Strukturen, sondern nur Beschlüsse „von oben“.
Auch wenn sich an den Kräfteverhältnissen der rechten oder linken Blöcke nicht viel ändern sollte, könnten die Karten bei der notwendigen Bildung einer Regierungskoalition nach den Wahlen neu gemischt werden.