Arabische Welt: Harte Selbstkritik

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Die Angriffe auf das US-Konsulat in Bengasi und auf die Botschaft in Kairo und die darauffolgenden gewalttätigen Protesten im Nahen Osten haben in der arabischen Presse eine beispiellose Kritik an der arabischen und islamischen Gesellschaft und wie sie die aktuelle Krise bewältigt, ausgelöst. In vielen Artikeln heisst es, dass gewalttätige Proteste dem Propheten Mohammed eigentlich schadeten und im Widerspruch zu den moralischen Normen des Islam stünden; zudem wäre es besser gewesen, das moderate und tolerante Gesicht des Islam zu zeigen, indem man durch künstlerische und kulturelle Ausdrucksformen reagiert hätte.

Mehrere Kolumnisten äusserten die Befürchtung, dass die arabische Gesellschaft in ständig wachsenden Extremismus versinkt, und argumentierten, dass sich Araber und Muslime von Gewalt und Terrorismus, die die Quelle des westlichen Argwohns gegenüber dem Islam darstellten, distanzieren sollten. Sie stellten fest, dass die heutige arabische und islamische Gesellschaft nichts zur menschlichen Zivilisation beitrüge und selbst an ihrem Zustand schuld sei.

Ferner sollte erwähnt werden, dass arabische Führer, muslimische Gelehrte und andere Funktionäre die  Angriffe in Bengasi scharf verurteilten, und betonten, dass die Anwendung von Gewalt, um gegen den umstrittenen Film zu protestieren, verboten sei und im Widerspruch zum Islam stehe.

Die Muslimbruderschaft und ihre Funktionäre und sogar salafistische Elemente riefen dazu auf, Gewalt und die Schädigung von Botschaften und Diplomaten zu vermeiden, weil dies im Wiederspruch zum Islam stehe. Die Gewalt wurde auch von der Spitze der International Union of Muslims Scholars (IUMS) sowie von den Führern der Golfstaaten und dem Mufti von Saudi-Arabien verurteilt.[1]

Schädigung des Islam und seiner Werte

  • Walid ‘Abd Al-Raziq ‘Amir, Kolumnist (Libyen): „Im Interesse [Mohammeds], Bengasis und [ganz] Libyens werden die Rebellen und die Regierung nicht ruhen, bevor wir nicht diejenigen gefunden haben, die die Sira des Propheten beleidigt haben[2] … [, die uns lehrt,] menschliches Leben zu schützen. Vergib uns, Gesandter Allahs. Du hast uns gelehrt, geduldig und friedlich zu sein … Was [in Bengasi] geschehen ist, entspricht nicht den moralischen Normen des Islam …“[3]
  • Hassan Haidar, Kolumnist, Al-Hayat (London): „Niemand kann die Idee, dass dieser Film verteidigt werden oder dass seine Erschaffer gelobt werden sollten, auch nur in Betracht ziehen … Allerdings waren die Proteste [in der arabischen Welt] völlig unterschiedlich von dem, wie ein Protest, unabhängig von seinem Vorwand, aussehen sollte. Was [in Bengasi und in Kairo] geschehen ist, war die Tat des Pöbels, sonst nichts. Sie hat nichts mit den Praktiken eines richtigen Islam zu tun …“[4]
  • Al-Raya, Tageszeitung (Katar): Verurteilte scharf die Ermordung der amerikanischen Diplomaten, die „von einer rücksichtslosen Minderheit, die nicht den Islam oder die islamische Scharia repräsentieren kann, getötet [wurden] … Es ist unvorstellbar, dass die Antwort auf dieses Verbrechen [der Umsetzung des Films] der Mord an friedlichen Menschen, die keinen Anteil an dem hatten, was geschah, sein sollte … Die von der Beleidigung ihrer Religion und ihres Propheten [durch den Film] beleidigten Muslime … sollten sich zügeln und mit der Angelegenheit in gewaltfreier Weise und auf eine intelligente und berechnende Art umgehen …“[5]

Viele Artikel verurteilten die Wahl von Gewalt und riefen auf, sie durch eine künstlerische und kulturelle Ausdrucksweise mithilfe von Büchern, Vorträgen und Filmen zu ersetzen, die die tolerante Seite des Islam darstellten.[6]

Befürchtung, dass Extremismus die arabische, muslimische Gesellschaft übernimmt

  • Dr. Khaled Al-Hroub, Professor, Cambridge University: „… Der wichtigste und erschreckendste Aspekt dessen, was wir heute in den Strassen der arabischen und islamischen Städte sehen, ist die Katastrophe des Extremismus, der unsere Gesellschaften und Kulturen sowie unser Verhalten überschwemmt, [zusammen mit] dem schnellen Verschwinden aller respektablen Werte und des zivilisierten Verhaltens … Extremismus [ist] der grösste Feind, der diese Gesellschaften und ihre Zukunft bedroht, [ein Feind,] gefährlicher als alle externen Feinde …“[7]
  • Hassan Haidar, Kolumnist, Al-Hayat (London): „Das Gefährlichste ist, dass die Extremisten unter der Ausnutzung der Revolutionen des Arabischen Frühlings versuchen, sich selbst als die Kraft, die die neuen Regierungen in ihren Ländern prägt, aufzuzwingen …

Es liegt in der Verantwortung der neuen Regierungen in Ägypten, Libyen und Tunesien, das durch das Verhalten von Extremisten geschaffene erschreckende Bild [von Muslimen] zu verändern, diejenigen zu stoppen, die extremistische und einschüchternde Taten zu verbreiten versuchen, bevor sie schlimmer werden, und zu beweisen, dass sie dem toleranten Mittelweg des Islam angehören.“[8]

Die arabische und muslimische Gesellschaft muss sich reformieren

  • ‘Imad Al-Din Hussein, Kolumnist, Al-Shurouq (Ägypten): „Wir verfluchen den Westen Tag und Nacht und kritisieren seine [moralische] Auflösung und Schamlosigkeit, während wir in allem – von Nähnadeln bis hin zu Raketen – auf ihn angewiesen sind. Es ist sowohl lustig als auch traurig, dass wir dazu aufrufen, westliche Waren zu boykottieren, als ob wir ihn bestrafen könnten, während wir noch immer auf ihn angewiesen sind. … Wir importieren die Kultur des Westens, die wir ungläubig nennen und von morgens bis abends verfluchen … Hätten wir wirklich die Essenz der Richtlinien des Islam und aller [anderen] Religionen umgesetzt, dann wären wir [heute] an der Spitze der Nationen …“[9]
  • ‘Ali Al-Sharimi, Kolumnist, Al-Watan (Saudi-Arabien): „… Man stelle sich einen grossen Panzer vor, der verschiedene moderne Waffensysteme trägt, von [Jesus] gefahren wird, der das christliche Symbol, das Kreuz, auf seiner Schulter trägt, und einen Wagen schleppt, der mit Schätzen beladen ist [, die er gestohlen hat] … Die Frage lautet, wie würde die christliche Gesellschaft reagieren? … Wie würde ihr Diskurs [in Reaktion auf solch eine Beleidigung] aussehen? [Das Bild] würde wahrscheinlich kalte und spöttische Reaktionen hervorrufen. Der christliche Intellektuelle würde lächeln und eine beissende Kritik innerhalb der christlichen Gesellschaft beginnen, in einem Versuch, diesen Glauben und seine Gültigkeit umfassend zu untersuchen. Weshalb also [antworten] unsere Gesellschaften [mit] übertriebener Aufregung? … Wir sind noch immer diejenigen, die auf die emotionalste Weise reagieren … Wie können wir den westlichen Bürger überzeugen, dass diese Religion [Islam] respektabel ist, wenn alles, was er sieht, Extremismus und Terrorismus sind?“[10]

Auszug aus der Originalversion: Harsh Self-Criticism In Arab World Over Violent Reactions To Anti-Islamic Film, Special Dispatch No.4971, September 24, 2012 © MEMRI.org.



[1] Ikhwanonline.com, 15. September 2012; gulfinthemedia.com, 13. und 14. September 2012; Al-Watan (Saudi-Arabien), 14. und 16. September 2012.

[2] Al-Sira ist ein Sammelbegriff, der sich auf traditionelle Biographien des Propheten Mohammed bezieht, die sein Leben und seine Gewohnheiten beschreiben.

[3] Almanaralink.com, 13. September 2012.

[4] Al-Hayat (London), 13. September 2012.

[5] Al-Raya (Katar), 13. September 2012.

[6] Al-Ahram (Ägypten), 15. September 2012; 20. September 2012. Al-Yawm Al-Sabi‘ (Ägypten), 14. September 2012.

[7] Al-Dustour (Jordanien), 17. September 2012.

[8] Al-Hayat (London), 13. September 2012.

[9] Al-Shurouq (Ägypten), 14. September 2012.

[10] Al-Watan (Saudi-Arabien), 15. September 2012.

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