Das iranische Judentum heute

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Im Juni 2012 machte der iranische Vizepräsident Mohammad-Reza Rahimi an einer Konferenz über die Verbreitung illegaler Drogen nebst anderen Gründen, den Babylonischen Talmud für das Drogenproblem Irans verantwortlich. Rahimi bediente sich alter antisemitischen Tiraden, wie dass der Talmud jüdische Überlegenheit lehre, und behauptete, dass er „[Juden] lehre, wie man Nicht-Juden vernichten kann.“

Angesichts seiner Vermutung, dass es auf der Welt keine „zionistischen“ Drogenabhängigen gibt – offensichtlich ist ihm das Heroinproblem in Israel nicht bekannt -, verstand Rahimi die Juden, die im internationalen Drogenhandel involviert sind, als Indikator für den bösartigen Einfluss des Talmuds.

Seine antisemitischen Bemerkungen wurden von einer Reihe wichtiger westlicher Medien veröffentlicht. Sie deuteten an, dass diese Angelegenheit die zunehmende Isolation des Irans weiter vorantreiben würde; doch grossenteils haben Medien dabei nicht bedacht, wie die jüdische Gemeinde im Iran von solchen Bemerkungen betroffen sein könnte. Zugegebenermassen hat sich der breite Diskurs über das aktuelle iranische Atomprogramm nur auf Juden in Israel konzentriert. Iranische Juden finden darin schlicht keine Erwähnung.

Mit schätzungsweise 30.000 iranischen Juden ist es ausserhalb Israels die grösste jüdische Gemeinde im Nahen Osten. Kurz nach Rahimis Rede übersandte der Direktor des Teheran Jüdischen Bundes (Teheran Jewish Association) dem Vizepräsidenten ein Schreiben, in dem er Widerspruch gegen die Anschuldigungen gegen den Talmud einlegte und Rahimi aufrief, den Unterschied zwischen Juden und Zionisten zu wiederholen. Mit diesem Protestbrief erhält man einen faszinierenden Einblick in die zeitgenössische jüdische Gemeinde des Irans, obgleich es vielmehr Gucklöcher als Fenster sind, und er erlaubt einen flüchtigen Blick auf die Komplexität dieser faszinierenden Gemeinde.

Heute bilden Juden die älteste Minderheit in der Islamischen Republik. Die Gemeinde kann auf eine illustre Geschichte im Iran zurückblicken, die bis auf die Zeit des babylonischen Exils im ersten Jahrtausend v. Chr. zurückreicht. Die Modernisierung des Iran und besonders die Verfassungsrevolution von 1906 – 1911, durch die Juden und anderen anerkannten Minderheiten eine Vertretung im Parlament zugestanden wurde, bewirkten ein Mass der Erleichterung nach einem Jahrzehnte andauernden Leben unter schiitischer Verfolgung. Mit dem Aufstieg der Pahlavi Monarchie 1935 verbesserte sich die Situation der Juden dramatisch und tatsächlich sehnen sich viele iranische Juden, die im Ausland leben, weiterhin nach der autokratischen Herrschaft.

Ohne Frage bestätigen die Zahlen einen grossen Niedergang: innerhalb eines Jahrzehnts seit der Islamischen Revolution von 1979 ist die Gemeinde um knapp 75 Prozent geschwunden. Der Massenexodus und die Geschichte der Verfolgung, die iranische Juden mit sich trugen, haben zu einem grossen Ausmass die öffentliche Wahrnehmung dessen definiert, was es bedeutet, als Jude im Iran zu leben. Doch in den Jahren ihrer Ausreise haben verschiedene politische Veränderungen in bedeutender Weise die zurückgebliebenen Juden im Iran getroffen, darunter die Reformjahre zur Jahrtausendwende.

In zwei nun wirklich niederträchtigen Artikeln, die Roger Cohn 2009 für die New York Times schrieb, zeichnetet er ein besonders rosiges Bildnis jüdischen Lebens im Iran und stellte fest, die wütenden Proteste gegen Israels Krieg in Gaza seien nicht in antisemitische Hetzreden übergegangen, und dass er „selten mit so viel stimmiger Wärme behandelt worden [ist] wie im Iran.“ Die Reaktion vieler Journalisten in den USA folgte prompt und fiel heftig aus. Ihre überwältigende Botschaft lautete, dass Cohen hinters Licht geführt worden sei und nicht gewusst habe, wie den Iran und seine Juden zu deuten.

Gewissermassen entsprechen diese Spannungslinien dem Disput unter israelischen Wissenschaftlern zum Thema Iran. Einige Wissenschaftler, die mit den wichtigsten Zentren der Nahostwissenschaft in Israel verbunden sind, gehen eng einher mit dem Ansatz der israelischen Regierung in Bezug auf die iranische Nuklearbedrohung und erachten die Situation des iranischen Judentums als besonders fatal. Andere Wissenschaftler wiederum , die vernehmlich mit dem linken Spektrum verbunden sind, meinen, dass Israels Angst vor dem Iran hauptsächlich ein Eigenprodukt ist und argumentieren, dass sich iranische Juden eine komplexe Mischidentität konstruiert haben, in der sie sehr wohl Iraner als gleichzeitig auch stark jüdisch sind.

Nach Jahren der Säkularisierung durch die Schah-Herrschaft sind Juden im Iran sichtbar religiöser geworden. (Die Synagoge als einer der wenigen öffentlichen Gemeinderäume, die Juden zur Verfügung stehen, könnte damit in einem Zusammenhang stehen). In der Praxis können iranische Juden Israel via ein Drittland besuchen. Ein Ausreisevisum zu erhalten ist kein bürokratischer Alptraum mehr wie einst, und technisch gesehen könnten viele iranische Juden das Land verlassen, wenn sie es wollten.

Einige aussenstehende Beobachter sehen in der ständigen Kritik der iranischen Juden an Israel und seinem Umgang mit den Palästinensern eine Bemühung, das Regime zu beschwichtigen. So befremdlich der Gedanke auch sein mag, so könnte diese Kritik doch der im Iran verbreiteten Meinung entstammen, dass die israelische Herrschaft über die Palästinenser durch die Brille der iranischen traumatischen Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus gesehen wird und den Versuchen des Westens, in die politischen Angelegenheiten einzugreifen.

Dennoch gibt es Gründe, über das iranische Judentum besorgt zu sein. In einem bekannten Fall, der sich kurz vor Pessach 1999 zutrug, wurden dreizehn Juden in der Stadt Shiraz wegen Verdachts auf Spionage für Israel inhaftiert, zehn davon wurden später als schuldig erachtet. Und aufgrund Ahmadinejads Holocaust-Leugnung fühlte sich die jüdische Gemeinde dermassen unbehaglich, dass sie Anfang 2006 einen Protestbrief an den Präsidenten schickte. Ironischerweise kommt durch diese Episode eine Gemeinde zum Vorschein, die selbstbewusst genug ist, eine Beschwerde einzureichen.

Die Demonstrationen von 2009, die im Zuge der gestohlenen Präsidentschaftswahlen ausbrachen, alarmierten die Welt vor einer Republik, die weniger stabil war als angenommen und vor einer neuen Generation von Iranern, die nicht mehr bereit ist, sich niedertrampeln zu lassen. Es ist unklar, wo die Juden in dieser stürmischen Zeit standen. Der Status der meisten religiösen Minderheiten war nicht Teil des Reform-Diskurses. Man kann eigentlich nur das Glückwunschschreiben an Ahmandinejad zu seiner Wahl 2005, das auf der Webseite des Teheran Jüdischen Bundes erschien, und das faktische Schweigen nach seiner Wiederwahl 2009 bemerken.

Erste Analysen der Grünen Bewegung sahen die Demonstrationen nicht als revolutionär an, sondern als Bürgerrechtsbewegung, die faire Wahlen wollte. Doch drei Jahre später, nachdem das Bestreben nach Veränderung nur zu Erniedrigung und Prügel geführt hat, herrscht Mutlosigkeit. Die Islamische Revolution, die von ihren Eltern vorangetrieben worden war, spricht sie weder an, noch definiert sie ihre Identität, auch nicht derjenigen, die tief muslimisch sind. Eine aufkeimende Underground Musik und radikale Kunst-Szene widerspiegelt eine Generation, die sich inmitten eines schmerzhaften Prozesses befindet, für sich eine neue iranische Identität zu gestalten – genau das Wesen dessen, was jeder vermutet. Trotz einem Anschein der Ordnung ist die Situation dennoch reif für Veränderung.

Es entspricht zwar dem Wunschdenken einiger Analytiker aus dem Westen und iranischer Expats, aber es existiert nahezu keine Möglichkeit, dass die Pahlavi Monarchie zurückkehrt. Einige Indizien deuten darauf hin, dass der Zoroastrismus – die antike Religion des Iran – eine Rolle spielen könnte, auch wenn in einer de-ritualisierten, nationalistischen Form. Bis einem gewissen Grad hat diese bereits der Schah versucht und benutzte ihn, eine geeinte, säkulare iranische nationale Identität zu forcieren, die besonders die Identität von Minderheiten auslöschte. Dieses Mal wird vielleicht eine pan-iranische, islamisch-zoroastrische Mischform entstehen, die den vielen Minderheiten des Landes Raum lässt. Vielleicht sogar etwas, das den kraftvollen verschiedenen ethno-religiösen Wirklichkeiten ähnelt, die auf den Seiten des Babylonischen Talmuds widergegeben werden. Hätte sich Vizepräsident Rahimi doch nur die Mühe gemacht, diese aufzuschlagen.

Kurzfassung der Originalversion: Iranian Jewry Today by Shai Secunda © Jewish Ideas Daily, August 16, 2012.