Bis Hundertundzwanzig!

0
Lesezeit: 4 Minuten

Bernard Lewis ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Geschichte des Nahen Ostens und des Islams. Mit 96 Jahren hat er nun ein weiteres Buch veröffentlicht, eine Denkschrift, die den Titel Notes on a Century: Reflections of a Middle East Historian [Anmerkungen zu einem Jahrhundert: Überlegungen eines Nahost-Historikers] trägt. Es ist ein faszinierender Bericht eines abwechslungsreichen, aussergewöhnlichen, unvermuteten Lebens, das er geführt hat; zudem geht er über das Persönliche hinaus hin zu Fragen der Geschichte und der Berufung eines Historikers.

Lewis ist ein Meister im Erzählen von Anekdoten, Geschichte und Zitaten, anhand derer er sofort Themen beleuchtet, die er in einer typisch wissenschaftlichen Art und Weise diskutiert. Das Gleiche gilt für seine Denkschrift, die seine ausgedehnten Reisen in die muslimische Welt und Erfahrungen mit seinen vielen muslimischen Freunden und Bekannten nacherzählt.

Lewis ist nicht einfach nur „ein“ Nahost-Historiker, wie der Untertitel seines Buches andeutet. Er war einer der ersten modernen, professionellen europäischen Historiker des Nahen Ostens im zeitgenössischen Sinne. Heute mag es überraschend klingen, doch als Lewis 1938 zum Dozenten für Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens an der University of London berufen wurde, war er in Grossbritannien der erste in solch einer Position. Seine Vorgänger im Bereich des muslimischen Nahen Ostens waren in ersten Linie Sprach- und Literaturstudenten. Obwohl er sich mit Sicherheit auf ihre Arbeiten stützte, war sein Leitfokus Geschichte im weitesten Sinn: die Geschichte von politischen Systemen im Nahost, die oftmals miteinander verflochtenen religiös-politischen Bewegungen der Region und soziale und wirtschaftliche Entwicklungen.

Lewis stellte fest, dass diejenigen, die der Vergangenheit nicht ins Auge sehen, „nicht in der Lage sein werden, die Gegenwart zu verstehen und ungeeignet, der Zukunft entgegenzutreten. Daher fällt den Historikern eine grosse Verantwortung zu“, sagt er, „deren moralische und professionelle Pflicht darin besteht, die Wahrheit in Bezug auf die Vergangenheit aufzuspüren, und diese darzulegen und zu erklären, so wie sie sie verstehen.“

Man kann durchaus sagen, so wie es Lewis macht, dass heutzutage diese Verantwortung besonders Historikern des Islam und des Nahen Ostens zukommt, wo die Vergangenheit eine wichtige Rolle spielt und vielseitige Interpretationen der Vergangenheit zu einer Vielzahl zeitgenössischer Auseinandersetzungen über die Geschichte geführt haben.

Laut Lewis schuldet der Historiker die Verantwortung bei diesen Themen sowohl Muslimen als auch Nicht-Muslimen, und beim Versuch diese Doppel-Verantwortung zu erfüllen, hat er zwei Prinzipien aufgestellt: den „Beweisen folgen, wohin sie auch führen mögen“ und ein Einfühlungsvermögen zu verwenden, das einen in die Perspektive des Beteiligten an der Geschichte einsteigen lässt – Dinge so zu sehen, zumindest für den Moment, wie sie es sahen oder taten. Die letztgenannte Voraussetzung ist auch der Grund, warum Lewis ständig die Wichtigkeit betonte, die relevante Sprache und ihre bestimmte Terminologie zu kennen. Lewis Einfühlungsvermögen manifestiert sich besonders in seinen zwei Büchern The Muslim Discovery of Europe und Islam and the West, in denen er versucht zu artikulieren, wie sich Muslime und Nicht-Muslime gegenseitig verstanden und missverstanden haben.

Und wie kann die Pflicht eines Historikers uns helfen, der Gegenwart und der Zukunft „entgegenzutreten“? Obwohl Historiker die Zukunft nicht vorhersagen können, „gibt es bestimmte Dinge, die ein Historiker tun kann und sollte. Er kann das, was geschehen ist und geschieht, anschauen und sehen, wie sich die Veränderung entwickelt.“ Indem er so vorgeht, „kann er Möglichkeiten, keine Vorhersagung, formulieren, alternative Möglichkeiten, Dinge, die eventuell eintreten könnten.“

Genau das hat Lewis im Laufe der Jahre für seine nicht-muslimischen Leser gemacht. In einem Artikel von 1976 beispielsweise, „Die Rückkehr des Islam“, hat er das Ende des post-kolonialen säkularen Nationalismus und das Revival einer religiös-politischen Bewegung im Nahen Osten angekündigt. In seiner Beurteilung widerspiegelt sich seine aufrichtige Beobachtung der zeitgenössischen Szene und sein tiefes Verstehen der muslimischen Vergangenheit mit ihren beständigen und ungelösten Fragen. Lewis Schlussfolgerung – auch wenn von vielen nicht begriffen – legte das Fundament, einer Zukunft entgegenzutreten, die mit der iranischen Revolution 1979 vor einer dramatischen Veränderung stand.

Und was ist mit Lewis’ vielen muslimischen Lesern, die er durch weitverbreitete Übersetzungen seiner Werke gewonnen hatte? In einer arabischen Version seines Werkes The Middle East and the West, das von der Muslimbruderschaft herausgegeben wurde, schreibt der Übersetzer im Vorwort: „Ich weiss nicht, wer diese Person ist, aber eins ist klar. Aus unserer Sicht ist er entweder ein aufrichtiger Freund oder ein ehrlicher Feind und in jedem Fall einer, der die Verachtung der Wahrheit verschmäht.“ Zu Recht ist Lewis stolz auf diese Beurteilung.

Doch es wäre schwierig zu sagen, dass Lewis erfolgreich viele Muslime davon überzeugen konnte, seinen Weg der historischen Studie und Reflexion einzuschlagen. Das weiss er aus eigener Erfahrung, denn darunter befinden sich Instanzen von Wissenschaftlern aus dem Nahen Osten, die er ausgebildet hatte und er erörtert das mit grossem Bedauern. Er ist tief mit dem Nahen Osten und seinen Völkern verbunden und weiss daher, dass ihre Aussichten auf eine glückliche Zukunft abhängig sind von einer Ehrlichkeit und Klarheit, die seine Art der Geschichtsforschung begünstigt.

Natürlich kennt Lewis den jüdischen Brauch, sich „dass du bist 120 leben mögest“ zu wünschen; viele würden sich wünschen, dass für Lewis dieser Wunsch in Erfüllung geht. Dann würde er vielleicht auch miterleben, wie sich seine Hoffnung auf den Nutzen historischen Verständnisses erfüllt. Viele andere, nicht zuletzt im Nahen Osten, sollten diese Wünsche und auch Hoffnungen teilen.

Kurzfassung der Originalversion: Until a Hundred and Twenty by Hillel Fradkin © Jewish Ideas Daily, August 21, 2012.